31.12.2003

Viva la Revolucion!

2003 war ein turbulentes Jahr. Über den Absturz des Space Shuttles Columbia, den Krieg im Irak, den deutschen Frauen, die Fußballweltmeister wurden, sogenannten Superstars mit der Halbwertszeit eines Sommers, bis hin zur beinah nicht enden wollenden Debatte um Reformen und Steuerdebatten gab es im Album 2003 offenbar recht viele negative und wenige angenehme Höhepunkte.
Abseits aller Katastrophen, Kriege und politischen Debatten gab es 2003 auch einen auf den ersten Blick seltsam anmutenden Trend. Plötzlich war sie wieder da. Die DDR. Hieß es im Kino noch "Good Bye Lenin", gab es bei diversen Fernsehsendern, und hier am prominentesten RTL, die sogenannten Ostalgieshows, die all die scheinbar liebenswerten, skurrilen und lustigen Aspekte des ehemaligen ostdeutschen Staates beleuchteten. Daß die DDR in den knapp 40 Jahren ihres Bestehens alles andere als ein Freizeitpark war wurde nur am Rande eher notiert.

Warum aber sieht man heutzutage wieder - meist junge - Menschen mit "FDJ" und "DDR" T-Shirts herumlaufen? Es käme sicherlich niemand auf die Idee, als Modetrend mit braungefärbten HJ-Hemden auf die Straße zu gehen.
Genauso wie es wohl auch hoffentlich in Zukunft keine "Dritte Reich Nostalgie" Shows geben wird. Wobei doch damals auch vieles besser war? Autobahnen wurde gebaut, alle hatten Arbeit, man bzw. Frau konnte sich damals auch spät abends auf die Straße wagen. Es sei denn, es war gerade Fliegeralarm, dann war man natürlich im Bunker.
Warum also verbinden viele Menschen mit der DDR eine gewisse Nostalgie, während die Nazizeit hierzulande nur bei Unverbesserlichen sentimentale Gefühle auslöst? Letztlich war das Dritte Reich zwar vom Ausmaß der Greueltaten her unvergleichlich, doch in der DDR wurde man kurzerhand erschossen, wenn man das Land ohne Ausreisegenehmigung verlassen wollte. Es gibt sicherlich Argumente, die dafür sprechen, daß im Ostteil Deutschlands die braune Diktatur über Nacht lediglich mit roter Farbe übertüncht wurde. Wie kann man da noch nostalgisch sein?

Der große Unterschied zwischen dem Dritten Reich und der DDR liegt darin, daß Adolf Hitler eine perverse Idee als Grundlage für einen perversen Staat hernahm, die letztlich zu weltweit 60 Millionen toten Menschen, dem Einsatz der Atombombe und restlos zerstörten Städten führte, während der DDR bzw. dem Kommunismus eine an sich löbliche, zumindest aber humane Idee zu Grunde lag, die von den Machthabenden im Laufe der Zeit bis zur Unkenntlichkeit entstellt und letztlich auch pervertiert wurde.
Liegt da vielleicht der Grund für die Nostalgie? In der sozialen Komponente, der an sich guten - wenn vielleicht auch unrealistischen - Grundidee? Dem Zusammenhörigkeitsgefühl und der Solidargemeinschaft, die sich bei allen Repressalien und Widernissen des Alltages entwickelt hatten und einem das Gefühl gaben, nicht allein zu sein?

Wo befindet sich Deutschland 2003? Oder auch: wo befindet sich die Welt 2003?
Vielleicht geht es nicht nur mir so, daß das Gefühl vorherrscht, der Durchschnittsbürger errichtet mehr und mehr Schützengräben um sich, um sein Hab und Gut und letztlich seinem Herzen. Nicht zuletzt wird das auch von der Politik gepredigt: mehr "Eigenverantwortung" sei nötig. Doch was bedeutet diese Eigenverantwortung? Ist es vielleicht nur ein Synonym für wachsenden Egoismus? Die Angst, beim Verteilungskrieg, der eingesetzt hat, auf der Verliererbahn zu enden, die Furcht, im Alter plötzlich in Armut zu fallen, weil die staatliche Rente bis dahin gerade noch für das Nötigste reicht?

Deutschland 2003 bedeutet auch, daß es bereits viele Verlierer gibt. 1,2 Millionen Kinder leben hierzulande in Familien, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das sind 6,6 % aller Menschen unter 18 Jahren in Deutschland. Etwa ein Viertel aller alleinerziehenden Frauen sind auf Sozialhilfe angewiesen. Anders ausgedrückt: eines der größten Armutsrisiken in Deutschland sind Kinder. Bezeichnenderweise ging die Geburtenrate in Ostdeutschland nach der Wende drastisch zurück. Was mögen die Gründe dafür sein?

Man kann das Gefühl bekommen, daß nach dem Scheitern des Kommunismus bzw. der totalen Niederlage des real existierenden Sozialismus, der übrig gebliebene Kapitalismus ungeahnte Blüten angenommen hat. Im sicheren Gefühl, im Kampf der Systeme der strahlende Sieger zu sein, unterwirft sich mittlerweile beinah jeder Aspekt des Lebens der Wirtschaftlichkeit, dem Geld, man nennt das auch Globalisierung.
Warum muß das Gesundheitswesen, warum müssen Krankenhäuser, nach marktwirtschaftlichen Aspekten funktionieren? Damit sie den Steuerzahler nicht belasten? Damit sie Gewinn machen? Damit sie effizienter sind? Natürlich ist Geldverschwendung ein Übel, doch wiegt es nicht viel schwerer, daß mit der Gesundheit des Menschen neuerdings wie mit einer Ware umgegangen wird? Muß ein kranker Mensch Teil eines kapitalistisch ausgelegten Systems sein, das soweit geht, daß man nun 2004 sogar Eintrittsgeld beim Arzt bezahlen muß?

Ist der Mensch also eine Ware? Oder anders gefragt: ist es der Solidargemeinschaft nicht zuzumuten, eventuell ein System zu finanzieren, das keinen Gewinn erwirtschaftet, dafür aber Menschen hilft, auf humane Weise gesund zu werden und ihnen nicht das Gefühl gibt, sehr schnell wieder funktionieren zu müssen, damit man rasch zurück zur Arbeit gehen kann? Immerhin sind Jobs diese Tage etwas sehr wertvolles - wer will seinen schon verlieren. Vielleicht ist das einer der Gründe für die nostalgische Betrachtung der DDR. Der solidarische Faktor war großgeschrieben. In einer Gesellschaft, wo vielerorts Mangel herrschte, konnte man nur erfolgreich leben, wenn man sich gegenseitig half.

In der Marktwirtschaft geht es den Menschen durchschnittlich gesehen sehr viel besser. Doch bedeutet der Abgesang der sozialistischen Staaten in Europa, daß alle damit verbundenen Ideen grundlegend schlecht waren? Bedeutet der Sieg der demokratischen und marktwirtschaftlich orientierten Staaten, daß die zugrundeliegende kapitalistische Idee prinzipiell gut und überlegen ist?
Früher hieß es "Samstags gehört Papi mir". Nachdem all die Jahrhunderte oder auch Jahrtausende zuvor der Mensch praktisch nur für die Arbeit gelebt hatte, entdeckte man im 20. Jahrhundert auch für die breite Masse der Bevölkerung etwas sehr wertvolles: Freizeit. Wobei Freizeit hier nicht Müßiggang heißen muß. Vielleicht hatte sich nur der Gedanke entwickelt, daß der Mensch im Privatleben und mit mehr Freizeit die Möglichkeit hat, geistig zu wachsen, neue und andere Dinge zu entdecken. Sei es künstlerisch, mit einem Hobby oder einfach nur mit den Kindern. Deshalb sollte Samstags Papi auch den Kindern gehören. Die Arbeit wurde mehr ein Mittel zum Zweck.

Doch dieser Gedanke gerät zunehmend ins Wanken. Heute überlegt man an mancher Stelle laut, Sonntagsarbeit einzuführen. Wir arbeiten zu wenig, wird gesagt. Wir müssen flexibler sein, heißt es. Sicherlich muß der Mensch flexibel sein. Doch in einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder zunehmend auf Egoismus und Karrierestreben impft, gerät die Arbeit wieder allmählich zum Lebensmittelpunkt. Natürlich ist Arbeit wichtig. Ohne Arbeit ist ein angenehmes Leben nicht möglich. Arbeit kann erfüllen und glücklich machen. Und doch muß man die Frage stellen, ob Arbeit deshalb alles sein muß. Diesen Eindruck kann man bekommen, wenn Menschen aufgrund von Sachzwängen dazu gezwungen sind, Freunde, Freundinnen und die vertraute Umgebung zu verlassen, um woanders überhaupt Arbeit zu finden. Etwas, das freiwillig gewiß nur wenige tun würden. Werden wir allmählich wieder zu Nomaden? Zu Wanderarbeitern, die nie wirklich eine Heimat finden, weil man von Ort zu Ort ziehen muß, um dorthin zu kommen, wo Arbeit vorhanden ist?
Wie es scheint ist in unserer Gesellschaft mittlerweile die Arbeit bzw. der Zwang, entsprechend funktionieren zu müssen, sehr viel mehr wert als Familie, Kinder, Freunde - schlicht Verbundenheit mit anderen.

Es verwundert aber auch nicht sehr, wenn man bedenkt, daß der Karrierewunsch weit verbreitet ist. Die Sehnsucht nach Reichtum allgegenwärtig. Nun ist der Wunsch, reich zu sein, sicherlich so alt wie das Geld, aber dennoch stellt sich die Frage, ob gerade dieser unbedingte Wunsch nach Karriere, oder sozialem Status und den damit verbundenen Statussymbolen, Ursache oder Symptom der gesellschaftlichen Entwicklung sind.
Vielleicht aber hat man in den letzten Jahrzehnten auch versäumt, bzw. bewußt darauf verzichtet, den Menschen zu vermitteln, daß man "Karriere" auch mit Kindern haben kann, oder mit einem Hobby. Wer sich damit zufriedengibt, Kinder in die Welt zu setzen und zu selbstbewußten, intelligenten und kreativen Menschen zu erziehen, wird heutzutage belächelt (oder heimlich bewundert). Wer Karriere im künstlerischen Umfeld oder mit einem Hobby verfolgt, ist entweder bettelarm oder wird als Müßiggänger betrachtet.

Wie hat es ein Werbespot in den 90er Jahren so schön zusammengefaßt: "Mein Haus, mein Auto, meine Yacht". Ohne Geld geht das natürlich nicht. Und Kinder sind das Hauptarmutsrisiko in unserer Gesellschaft. Im Zeitalter der Globalisierung, wo ein Big Mac in New York genauso schmeckt wie in Berlin oder Kapstadt, kann man sich anscheinend auch immer weniger Freizeit erlauben, selbst wenn man gar keine Big Macs mag und lieber etwas essen würde, das regionalen Charakter hat. Wenn der chinesische Billigarbeiter halt mehr arbeitet, müssen wir notgedrungen nachziehen. Der Wettbewerbsfähigkeit wegen, was letztlich nur zum Geld führt.
Was für eine Gesellschaft ist das also, in der Firmen Menschen entlassen, wenn Gewinne lediglich zurückgehen? Wo Aktienkurse steigen, wenn ein Unternehmen sich "verschlankt", wo die Geburtenrate so niedrig ist, daß das eigene Volk, wenn es denn so weiterginge, irgendwann ausgestorben wäre, in der Kinder ein Risiko darstellen, in Armut zu verfallen?
Warum sind viele Ostdeutsche so nostalgisch im Umgang mit der ehemaligen DDR? Letztlich ist es für mich ein Zeichen dafür, daß etwas grundlegend nicht stimmt in der heutigen Gesellschaft. Damit meine ich nicht die Nostalgie, die ist verständlich, Menschen neigen zur Verdrängung von schlechten Erinnerungen.
Was stimmt aber nicht?

Ich frage mich oft, wo all die Arbeitslosen, von Sozialhilfe abhängigen alleinerziehenden Mütter mit ihren Kindern und die über 50-jährigen sind, die - wenn sie erstmal arbeitslos sind - für die Firmen (und generell für Fernsehsender) hierzulande praktisch nicht mehr existieren? Wo sind sie?
Ich würde mir für 2004 wünschen, daß all diese Menschen einfach nur mal auf die Straße gehen. In Berlin, Hamburg, Köln und München. Es ist mir rätselhaft, warum Millionen Menschen gegen den Irakkrieg demonstrierten, niemand hingegen dagegen protestiert, daß 1,2 Millionen Kinder in Deutschland von Sozialhilfe leben müssen. Geht uns das nichts an, weil die Kinder "selbst Schuld" haben? Oder deren Eltern? Kann man so etwas wirklich denken?
Eines hat mich nachhaltig beeindruckt. Die gewaltigen Menschenmassen, die in Leipzig, Dresden und anderswo "Wir sind das Volk" skandierten, was letztlich dazu führte, daß ein Unrechtssystem in die Knie gehen mußte.
Sind wir auch heute noch DAS Volk oder EIN Volk? Oder kocht wirklich jeder nur noch sein eigenes, sorgsam behütetes Süppchen? Ist sozusagen das eigene Wohlergehen wichtiger als alles andere? Sollte es nicht so sein, daß man selber erst dann wirklich glücklich sein kann, wenn es dem Nachbarn ebenfalls gut geht?
Hat die marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaft dazu geführt, daß wir gar nicht mehr imstande sind "Wir sind das Volk" zu rufen? Weil jeder nur noch sein Haus, sein Auto, seine Yacht haben möchte und ihm der Rest völlig egal ist?

Was ist aber mit denen, die niemals eine Yacht besitzen werden? Warum halten all die Mütter oder älteren Menschen still und gehen nicht auf die Straße? Warum stöhnt zwar jeder über ein Gesundheitssystem, das mehr und mehr auf Zynismus zurückgreift, aber tut dagegen nichts?
Wenn ich mir also etwas für 2004 wünschen kann, dann, daß die Erkenntnis um sich greift, daß wir nur in einer Solidargemeinschaft erfolgreich leben können. Daß Menschenmassen die Straßen füllen und laut vor dem Reichstag "Wir sind das Volk" rufen. Natürlich ist das - mit Absicht - etwas überzogen und illusorisch formuliert.
Andererseits stellt sich die Frage warum so viele mit der CSU/CDU und CDU Light (ehedem SPD) unzufrieden sind, aber wir alle immer nur leise murmelnd weitermachen.

Wenn wir so weitermachen hat sich das Problem immerhin irgendwann von selbst gelöst. Es wird uns nämlich nicht mehr geben. Bei der heutigen Geburtenrate ist es nur eine Frage von Jahrzehnten. Aber vielleicht ist es auch besser so, wenn ein Volk, das scheinbar auf Egoismus getrimmt und auf maximale Karriere geeicht ist, verschwindet.
Natürlich ist das nicht erstrebenswert. Nur müßte sich dafür endlich etwas ändern. Wenn also die Ostdeutschen nostalgisch verklärt auf die DDR zurückblicken, dann blicken sie auf etwas zurück, das der heutigen Gesellschaft fehlt. Solidarität.
Was mit der Solidargemeinschaft und dem sozialen Gedanken zur Zeit geschieht erinnert stark an einen berühmt gewordenen Ausspruch aus dem Vietnamkrieg: "Wir mußten das Dorf zerstören, um es zu retten." Aber wer weiß: vielleicht ist am Ende alles gar nicht so schlimm? Schließlich ist das Volk der "Dichter und Denker" auch gerne ein Volk von Schwarzsehern und Pessimisten.
Bleibt auf jeden Fall zu hoffen, daß es anders kommt und sich einige Werte in der Gesellschaft ändern. Wir alle haben es in der Hand. Denn wir sind das Volk.


[geschrieben von Thomas]

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