10. September 2001


Der Sommer neigt sich einem kühlen und regnerischen Ende zu und das erste Jahr im neuen Jahrtausend nähert sich ganz allmählich ebenfalls seinem Abschluß, vielleicht ein erster Zeitpunkt, den Start ins neue Millennium Revue passieren zu lassen.

Ich habe in letzter Zeit einige Science Fiction Romane gelesen, die in den 50er bis 80er Jahren des 20. Jahrhunderts geschrieben worden sind. Die dort entwickelten, meist finsteren, Zukunftsaussichten sind uns bisher fast alle erspart geblieben. Wir hatten keinen dritten Weltkrieg, wurden nicht von Außerirdischen heimgesucht und haben uns im Gegenzug bisher auch nicht im Sonnensystem sonderlich ausgebreitet und Kolonien auf Mars und Mond gegründet.

Viele der recht düsteren Umweltprognosen, die zum Ende der 70er Jahre und in den 80er Jahren im Zuge der ökologischen Bewußtseinsschärfung die Runde machten, sind ebenfalls so nicht wahr geworden. Die Wälder stehen immer noch. Die Gewässer werden wieder sauberer (dies natürlich Dank der Bewußtseinsänderung in Sachen Umwelt). Autos fahren immer noch (und das sogar mit Benzin).

Der Mensch hat, wie es scheint, entgegen allen Pessimismus, die Zukunft bei weitem nicht so düster werden lassen, wie so oft an die Wand gemalt.

Haben wir es geschafft? Haben wir die Gespenster unserer eigenen Ängste abgeschüttelt? Vielleicht ja. Oder aber kommt alles nur ganz anders, als jemals gedacht?

Vor kurzem stand in Los Angeles eine Frau auf einer Brücke, um sich das Leben zu nehmen. Ein recht häufiger Vorgang in unserer Zeit. Die Polizei sperrte den Highway unterhalb der Brücke komplett und versuchte über Stunden hinweg, die Selbstmörderin von ihrem Tun abzubringen.

Das gefiel den im Stau steckenden Autofahrern überhaupt nicht. Einige erbosten sich so sehr über die Sperrung, daß sie lauthals der Frau zuriefen: "Spring endlich, Du Schlampe".
Und die Frau sprang. Sie hat schwere Verletzungen davongetragen.

Ebenfalls vor nicht allzu langer Zeit hat ein großer Pharmakonzern mit einem Mittel gegen Cholesterin, das in Verbindung mit anderen Mitteln zum Tod führen kann, bewußt werden lassen, daß es sich mittlerweile im Gesundheitswesen hauptsächlich um eines dreht: ums Geld.

Medikamente, die in der Produktion kaum Kosten entstehen lassen, werden für teures Geld in Apotheken verkauft, um Gewinne und Aktienkurse zu maximieren. Kranke Menschen, die eine Kur brauchen, bekommen einen negativen Bescheid zugestellt, weil die Krankheit ja auch "vor Ort behandelbar sei". Kranke Menschen dienen zur höchst profitablen Geldeinnahme. Es ist lohnender, Mittel zur Bekämpfung von Krankheitssymptomen zu entwickeln und herzustellen, als Mittel zu entwickeln, die eine Krankheit dauerhaft heilen.

Und bei all dem... empört sich die Öffentlichkeit und Politik, daß ein Verteidigungsminister Urlaub macht, mit Badehose im Pool planscht und das Glück mit seiner neuen Liebe genießt.

Haben wir es also geschafft, die Zukunft erreicht und die Szenarien des Horrors hinter uns gelassen? Vielleicht ja. Vielleicht aber haben wir bei all den großen Dingen, die es zu vermeiden galt oder zu vermeiden gilt, etwas vergessen.

Kleinigkeiten auf den ersten Blick. Anderen zu helfen vielleicht. Mitgefühl zu haben? Aktien das sein zu lassen, was sie sind: Fetzen Papiere (meist nichtmal mehr das). Vielleicht also haben wir bei all den hausgemachten Problemen, die es zu lösen galt und immer noch zu lösen gilt, etwas vergessen: uns selbst.

Man kann den Eindruck gewinnen, daß der Mensch schon lange nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses steht. Man kann den Eindruck gewinnen, daß Aktienindizes und Geld den Kurs der Gesellschaft bestimmen.

Ein Satz aus einem der SF-Romane, die ich gelesen habe, kommt mir in den Sinn. Der Autor läßt dort einen Charakter fragen, woran man erkenne, daß eine Gesellschaft vor dem Untergang stehe. Nicht an Terror oder Krieg oder großen Krisen, man erkennt es daran, wenn im zwischenmenschlichen Umgang Respekt fehlt, Achtung und Hilfsbereitschaft. Eine Gesellschaft formt ihre Mitglieder. Ich frage mich, wie die Gesellschaft heutzutage uns formt.

Es läuft nachts in den 3. Programmen die Tagesschau von vor 20 Jahren. Mir fällt auf, daß damals Aktien- und Devisenkurse so gut wie nie in den Nachrichten vorkamen. Heutzutage hat jede Nachrichtensendung im Fernsehen den Blick auf DAX, NEMAX, DOW JONES und Co.

Kann es sein, daß menschliche Werte durch Gesetze einer globalisierten Weltwirtschaft abgelöst werden oder schon abgelöst wurden? Ist es in dieser Welt wichtiger, pünktlich zur Arbeit oder nach Hause zu kommen, als zu hoffen, daß ein Mensch, der auf einer Brücke steht, von seinem Tun abgebracht wird?

[geschrieben vom Thomas am 10. September] - nur einen Tag später...

ist die Welt zusammengerückt.
Keine Einzelhelden gaben Hoffnung, sondern hunderte von Helfern, die ihr Leben einsetzten, um Menschen zu retten - Politiker, die besonnen reagierten, um keinen neuen Krieg heraufzubeschwören - Menschen, die gemeinsam beteten - und jenes großes Schweigen in Gedenken an die Opfer dieses grauenhaften Terroraktes, dass sich wie eine anklagende Mauer gegen den Terrorismus stellte. Mitgefühl und Hilfsbereitschaft nach dem ersten Schock bestimmten das vorherrschende Gefühl - nicht nur in Amerika.

Thomas stellte die Frage, ob menschliche Werte durch Gesetze einer globalisierten Weltwirschaft abgelöst werden oder sogar schon abgelöst wurden - ich glaube, die Frage wurde nur Tage später von sehr vielen Menschen überall auf der Welt eindeutig beantwortet: mit einem klaren Nein.

[geschrieben von Gabi am 25. September]


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