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Wahre Kunst

Das kühle Mondlicht bahnte sich durch die schmalen Ritzen der dicht belaubten Bäume, hüllte den schlummernden Wald in einen milchigen Schimmer und stachelte den dünnen Nebelschleier, der am Boden entlag waberte, zu einem geheimnisvollen Leuchten an. Simone wartete alleine im Wagen, der seitlich einer schmalen Feldstraße parkte. Sie lauschte den unheimlichen Geschichten der rauschenden Blätter und dem unentwegten Wispern des Windes, und jeder dieser für sie ungewohnten Klänge nährte die in ihr aufkeimende Unruhe. Simones besorgter Blick haftete ohne Unterlass auf einem alten Gehöft, das am Rande des Waldes vor sich hinmoderte.

‚Wo bleibt Martin solange? Er soll doch nur kurz telefonieren und einen Abschleppdienst rufen', dachte sie und rubbelte sich die Kälte aus dem linken Unterarm. Wie viel Zeit war schon verstrichen? Wie lange hielt er sich schon in dieser Baracke auf? Simone fluchte. Warum musste ihr Auto ausgerechnet an diesem gottverlassenen Ort seinen Geist aufgeben? Warum hatte er das Handy nicht aufgeladen?

"Bleib ruhig, Simone! Er ist nur bei einem alten Mann", flüsterte sie und erinnerte sich, an die gebrechliche Statur des Greises, der ihrem Mann auf sein Klopfen hin, die Türe geöffnet hatte. Simone kramte nervös in ihrer Handtasche herum und zog eine Schachtel Lucky Strike hervor. "Ich warte noch eine Zigarette, Martin! Wenn du dann nicht da bist, gehe ich dich holen", beschloss sie mit unterdrücktem Zorn und zündete die Zigarette an. Aber schon nach drei innigen Zügen öffnete sich die Eingangstüre des Hauses, und Martin trat über die Schwelle. Simone hauchte erleichtert den blauen Rauch in den Wagen.

Doch was ist das? Der junge Mann stürzte kopflos über den Rasen, taumelte umher - fast wäre er über einen Baumstumpf gestolpert - und stürmte auf seinen Audi zu. Simone schrie auf, als er mit Schwung gegen die Motorhaube krachte. Ohne auf den Schmerz zu achten, schwenkte Martin herum, humpelte weiter und riss die Fahrertür auf.

"Um Himmels willen! Was ist passiert?" schrie Simone und starrte in Martins schwitzendes, porzellanbleiches Gesicht.
"Wir müssen hier sofort verschwinden!" krächzte Martin und packte Simon am Arm, um sie mit sich zu zerren.
"Hey! Du tust mir weh!" Simone riss sich los. "Wir gehen erst, wenn du mir gesagt hast, was dich so lange aufgehalten hat."
"Dafür ist später noch Zeit. Jetzt will ich nur so schnell wie möglich weg!"
"Oh nein, Martin. Ohne Erklärung renne ich dir nicht wie ein Schoßhund hinterher." Doch Simone erahnte, allein aus Martins schreckenverzerrter Miene, dass sich nahezu Unglaubliches in dem Haus abgespielt haben musste.
"Was ich gesehen habe, kann es nicht geben. Unmöglich! Nein!" So sehr er sich auch bemühte, Martin war nicht fähig, sein Zittern vollends zu unterdrücken. Also lehnte er sich zurück, regulierte seinen flachen Atem und lockerte die Nackenmuskeln.
"Was meinst du damit? Jetzt sprich doch endlich!" In dieser Verfassung hatte sie ihn noch nie erlebt. "In Ordnung! Aber unterbreche mich nicht! Ich glaube, wenn ich den Faden verliere, habe ich nicht mehr den Mut weiter zu erzählen."
Mut? Er hat nicht mehr den Mut? Aber gerade das war eine der Eigenschaften, die sie so sehr an Martin liebte. Martin, ihr Fels, ihr Ruhepol, gab ihr Kraft und Halt. Aber nun? Simone spürte ihr klopfendes Herz. Was war in diesem Haus nur vorgefallen?

"Der Alte wirkte anfangs sehr freundlich", begann Martin. "Etwas skurril, aber in Ordnung, hab' ich mir gedacht. Ich sagte, dass wir eine Panne hätten, und er bat mich lächelnd herein.
Drinnen fiel mir seine Sammlung auf. Überall Holzmasken. Es müssen Hunderte von denen an den Wänden hängen. - Oh Simone! Solche Masken hast du noch nicht gesehen. Schwarze gebeizte Dinger, zu dämonischen Fratzen verarbeitet. Und jede lachte! Je länger ich sie betrachtete, desto schneller wuchs mein Unbehagen. Es kam mir vor, als wollten sie etwas hinter ihrem Lachen verbergen. - Eine fremde Mimik! Ein Gesicht, das von einem unbekannten Entsetzten gepackt panisch aufschreit. Ich weiß, es hört sich verrückt an, aber ich kann es nicht anders ausdrücken.
‚Sie sammeln Masken?', fragte ich.
‚Nicht direkt. Die Masken versinnbildlichen nur meine eigentliche Leidenschaft. - Wissen Sie, ich bin ein Liebhaber der wahren Kunst.'
‚Wahre Kunst? Wie meinen Sie das?'
Ich sah in das faltenzerfurchte Gesicht. Es lächelte mich ohne Unterlass an, aber die schmalen Lippen verrieten Hohn. Nur einen Hauch davon, aber es war da. Ich trat instinktiv zurück. Der Alte aber belehrte mich scheinbar ungerührt weiter:
‚Wahre Kunst, mein junger Freund, bedeutet Gegensätze zu vereinen. Nehmen wir zum Beispiel Feuer und Wasser. Mischen Sie die beiden Elemente, ohne sie dabei auszulöschen, dann sind Sie wahrlich ein Künstler. - Und so verhält es mit allen Gegensätzen. Ich habe mich dem Lachen verschrieben.'
‚Dem Lachen?' Der Alte war offenbar völlig verrückt.
‚So ist es! Dem Lachen gehört meine Liebe, denn es verbirgt die Abgründe der menschlichen Seele. - Aber Sie sind nicht hier, um den Marotten eines alten Mannes zu lauschen.' Er hörte einfach nicht auf, zu lächeln. ‚Sie möchten telefonieren, haben Sie gesagt? Dann gehen Sie diese Treppe hoch und den Gang gerade bis ans Ende hinunter. Vor dem Fenster werden Sie mein Telefon finden.'
Ich hatte nicht vor, auch nur eine Sekunde zu lang zu bleiben. Daher folgte ich rasch den Stufen und - tatsächlich! Vor mir gähnte ein langer dunkler Gang mit jeweils vier oder fünf Türen, seitlich. Eine Tür, links, stand einen Spalt breit offen, und fahles, kaltblaues Licht krauchte die gegenüberliegende Wand empor.
Der Alte wohnte wohl nicht allein, denn aus dem Zimmer, drang ein merkwürdiges Kichern. Da ich sowieso daran vorbei musste, beschloss ich einen Blick zu riskieren. Meine Knie haben ganz schön gezittert, als ich näher trat. Dieses ständige Gekichere ging mir durch und durch. Ich spähte hinein und ...'
Martin unterbrach kurz seine Geschichte. Er atmete tief durch, während neue Unruhe in ihm aufzukeimen schien. Simone schwieg dennoch und wartete geduldig, bis ihr Mann die richtigen Worte gefunden hatte.
"In der Kammer hockte eine junge Frau im weißen Nachtgewand vor einem Spiegel. Sie wandte mir den Rücken zu, und ihr Spiegelbild wurde von ihrem Hinterkopf verhüllt. So konnte ich natürlich ihr Gesicht nicht sehen. Sie kämmte sich die Haare und kicherte. Schließlich hatte sie mich wohl bemerkt, denn sie drehte sich langsam herum. - Als ich sie sah ... dieses Gesicht! ... Ich wollte schreien, aber das Grauen presste mir die Luft aus der Lunge.
Dieses Mädchen ... dieses Ding ... ihr Gesicht wurde durch ein unnatürlich breites Lächeln völlig entstellt. Und ihre unwirklichen Augen! Sie sahen aus wie gegrillte Ziegenaugen! Völlig bleich, kalt und tot. Sie glotzte mich an mit ihren blinden Augen und grinste weiter. Zuerst dachte ich sie wäre zu keiner anderen Miene fähig. Aber dann veränderte sich für einen Augenblick ihr Ausdruck. Ihre Züge verschwammen, als wäre etwas unter ihrer Haut, das ihr Gesicht zu einer Grimasse des Abscheus verzerrte, welche einen markerschütternden, stummen Schrei ausstieß. Als hätte dieses geistlose Geschöpf, tief in ihrem Inneren noch den Bruchteil einer zerschmetterten Seele bewahrt. - Einen Atemzug später klaffte wieder ihr abscheuliches Lachen im Gesicht. Danach rannte ich wie ein Wilder runter und schoß, direkt am Alten vorbei, aus dem Haus."

Simone umschlag ihren frierenden Leib mit den Armen. Was für eine völlig verrückte Geschichte. Trotzdem glaubte sie Martin. Er war nicht der Typ, der sich so etwas einfach nur ausdachte.
"Ich bin nur froh, dass du entkommen bist", flüsterte sie und starrte auf das Haus.
"Entkommen?" Martin begann leise zu glucksen. "Ich muss gestehen, ich war vorhin nicht ganz aufrichtig zu dir, was meine Panik betraf, denn ich bin nicht entkommen!"
Sein Glucksen schwoll zu einem sonoren, dumpft dröhnenden Lachen an. Simones Augen traten aus den Höhlen, als sie miterleben musste, wie sich Martins Mund immer weiter auseinander spreizte. Das Lachen zerteilte seine Backen, kroch wie ein tiefer Graben bis zu den Ohrmuscheln hinauf und entblößte grimmig die bleckenden Zähne.
"Nein! Martin! Hör auf!"
Martins Kiefer verzog sich krachend nach unten, während sein funkelnder, lidschlagloser Blick spottend auf Simone ruhte. Sein Gelächter mutierte weiter, zu einem röhrenden Gebrüll und verschmolz mit ihrem grellen Schrei zu einer atemberaubenden Melodie. Und weiterhin rauschten die Blätter und erzählten ihre unheimlichen Geschichten.

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