© der Geschichte: Reinhard Zens. Nicht unerlaubt
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Über den Tod hinaus...

Der Gong klang leise durch die Tür. Günter wußte nicht, ob jemand zuhause war, aber von der Straße aus schien es, als würde Licht in den Park hinter dem großen Haus fallen. Außerdem hatte er keine Wahl - es war das einzige Anwesen weit und breit. Während er mit den Füßen stampfte, um die Kälte aus den Schuhen zu vertreiben, sah er sich um. Unten auf der Landstraße, etwa hundert Meter entfernt, sah er den Schatten seines Wagens im Mondlicht. Im Inneren glimmte es immer wieder auf, wenn Ursula an ihrer Zigarette sog. Günter verfluchte seine Leichtsinnigkeit - er hatte sich nie um Dinge wie ein Reserverad gekümmert. Jetzt rächte sich das.
Er wollte schon ein zweites Mal läuten, als er Schritte hörte. Jemand schaltete das Licht ein, und Günter stand plötzlich im strahlenden Schein einer altmodischen Laterne, die über der Tür hing. Ein Schlüssel drehte sich, dann klappte die Tür auf. "Entschuldigen Sie bitte die späte Störung! Mein Name ist Weiding, mein Auto hat eine Panne. Dürfte ich Ihr Telefon benutzen?"
Noch während er sprach, musterte Günter sein Gegenüber. Der grauhaarige Mann, der in dem hellen Viereck der Tür stand, sah ihn aus kleinen, glänzenden Augen lächelnd an. Auf seinen faltigen Wangen lag ein rosiger Schimmer.
"Kommen Sie doch herein, bitte!" Die tiefe Stimme des alten Mannes klang heiser. "Danke!" Mit einem letzten Blick zurück trat er ein. Sofort umfing ihn wohlige Wärme. "Es tut mir leid, daß ich Sie so spät..."
"Keine Ursache!" unterbrach ihn der Alte und winkte ab. "Es ist ja wohl selbstverständlich, daß ich helfe. Bitte," - er zeigte auf einen kleinen Tisch neben der Eingangstür, - "dort steht das Telefon!"
Günter nickte dankend, trat zu dem Gerät und wählte die Nummer seines Autofahrerclubs. Während er wartete, betrachtete er seine Umgebung näher. Der Vorraum war riesig, wie es in einem so großen Haus nicht anders zu erwarten gewesen wäre. Links und rechts gingen mehrere Türen ab, geradezu führte eine pompöse Treppe, die sich auf halber Höhe teilte, in das obere Geschoß.
Die Einrichtung, die jeden Antiquitätenhändler in Verzückung versetzt hätte, wirkte auf Günter deprimierend. Die dunklen, schweren Möbel der Garderobe hatte der Alte wohl von seinen Großeltern geerbt. Von der Decke hing ein plumper Kronleuchter. Ein präparierter Deutscher Schäferhund und mehrere ausgestopfte Vögel, die auf Ästen an den Wänden über den Türen saßen, gaben dem Raum eine unheimliche Ausstrahlung. Günter mochte keine ausgestopften Tiere. Er hatte das schreckliche Gefühl, daß die Glasaugen sehen konnten.
Als am anderen Ende der Leitung endlich eine gereizte Männerstimme ertönte, setzte Günter rasch seine Meldung ab. Er wollte schnell wieder hier raus. Obwohl der alte Mann freundlich wirkte und das Haus nach Lebkuchen und Kerzen duftete, fühlte er sich hier unwohl. Die toten Tiere ringsum ließen ihn schaudern.
Er wollte sich nur bei dem alten Mann bedanken und gehen, aber dieser hielt die dargereichte Hand fest. "Bleiben Sie einen Moment! Hier ist es wenigstens warm. Möchten Sie einen Glühwein?"
"Nein, danke, ich möchte nicht weiter stören..."
"Aber, aber, junger Mann, Sie stören doch nicht! Ganz im Gegenteil. Meine Martha und mich besucht niemand - wir haben einfach niemanden mehr. Außer unseren Freunden hier." Er zeigte auf die Tiere. "Ich war früher Präparator. So konnte ich mit meinem Hasso auch über seinen Tod hinaus zusammen bleiben." Seine Rechte klopfte dem Hund auf den Kopf. "Und nicht nur mit ihm!"
Günter verspürte immer stärker den Wunsch, zu gehen. Er empfand fast Mitleid mit dem alten Ehepaar, das hier ohne jeden Freund, außer ein paar toten Tieren, lebte. Es mußte schrecklich sein, niemanden zu haben, der wenigstens zum Weihnachtsfest kommen konnte. Er dachte plötzlich ganz anders über die lästigen Familienzusammenkünfte, die jedes Jahr das Fest zu einer Rundreise von einem Verwandten zum anderen werden ließen. Die Alternative wäre wahrscheinlich ein Leben wie das dieser Leute.
"Machen Sie mir eine Freude und sagen Sie meiner Frau guten Abend." Der alte Mann drehte sich um und ging zu einer der Türen.
Günter wollte zurück zu Ursula, aber er wollte auch eine Gegenleistung für die Hilfe erbringen. Ich sage ihr schnell Hallo, dachte er sich, und dann verschwinde ich. Er folgte dem alten Mann.
Das riesige Zimmer war grauenhaft. Zwischen finsteren, uralten Möbeln und ausgestopften Kadavern stand eine mit goldenen und roten Kugeln geschmückte Weihnachtstanne. Der weihnachtliche Duft überlagerte nur wenig den muffigen Geruch der schweren Vorhänge, Teppiche und Sesselschoner.
Vor dem hell erleuchteten Baum saß die Dame des Hauses in einem schweren Ohrensessel. Das düstere Möbelstück stand mit der Lehne zur Tür, so daß Günter nur eine schmale Hand sehen konnte.
Der alte Mann trat seitlich an den Sessel heran und beugte sich vor. Seine Hand legte sich auf ihre. "Martha, Liebes, wir haben einen Gast. Er möchte dir nur kurz einen guten Abend wünschen."
Günter war in der Tür stehengeblieben. Sein Herz klopfte laut. Wie lebten diese Menschen nur? Umgeben von Vergangenheit und Tod... Trotz der vielen Kerzen wirkte das Zimmer finster, unheimlich und abstoßend. Es kostete ihn Überwindung, einzutreten. Der alte Mann erhob sich wieder und winkte ihn zu sich. Vorsichtig trat Günter näher. Mit jedem Schritt verstärkte sich sein innerer Widerstand gegen diesen Raum.
Günter trat um den Sessel herum. Die zarte Gestalt der weißhaarigen, blassen Frau versank in dem klobigen Möbelstück. Sie hatte den Kopf wie im Halbschlaf gesenkt, aber ihre Augen starrten auf einen Punkt irgendwo vor ihren Füßen.
Günter beugte sich leicht vor. "Guten Abend, gnädige...", begann er.
Doch plötzlich prallte er zurück. Der Blick seiner schreckgeweiteten Augen irrte durch den Raum, sprang zwischen den gläsernen Augen ausgestopfter Tiere umher und zurück zu der Frau. "Oh, mein Gott!" flüsterte er tonlos.
Dann stürzte er aus dem Zimmer, verfolgt von dem verwunderten Blick des alten Mannes, rannte durch den Vorraum, riß die Haustür auf und flüchtete in die Nacht. Vor seinen Augen sah er den Blick der alten Frau.
Den Blick zweier starrender Glaskugeln in einem toten Gesicht...

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