© der Geschichte: Matthias Weidemann. Nicht unerlaubt
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Trommeln

Er streckte sich, ließ sich auf den Boden nieder und schaute sich um. Von der kleinen, mit Gras bewachsenen Anhöhe, auf der er sich jetzt befand, konnte er die Ebene gut überblicken. Behaglich seufzend, verschränkte er die Hände hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und sog die fette, würzige Luft tief in die Lungen ein. Der Geruch des gelb grünen Grases war berauschend süß, schwindlig machend.
Vor ihm, von einem türkisfarbenen Himmel umrahmt, erstreckte sich eine weite, schier endlose Steppenlandschaft. Ein sanfter Wind hatte eingesetzt, der zärtlich über sein Gesicht strich, wie die Hand einer liebenden Frau. In der Ebene vor ihm wogte das Gras rhythmisch, Wellen eines gigantischen Ozeans. Ein silbernes Schimmern war zu sehen, wenn der Wind das Gras beugte.
Die Sonne stand als gleißende Scheibe noch relativ hoch, den heran nahenden Abend vergessen lassend. Fern am Horizont zeichnete sich in diffusem Blau der Kamm einer Bergkette ab. Die kristallklare Luft, die wie ein Vergrößerungsglas wirkte, ließ sie unwirklich nahe erscheinen, täuschte so über die tatsächliche Entfernung hinweg. Kleine Bäume, die in der Steppe vereinzelt wuchsen, sahen mit ihren flachen, in die Breite wachsenden Kronen aus, wie wahllos in der Ebene aufgestellte Tische. Irgendwo in der Ferne schrie ein Vogel.
Seit seiner Notlandung waren zwar erst zwei Tage vergangen, doch kam es ihm vor, als würde es schon viel länger zurück liegen. Die Zeit schien hier draußen ohne Bedeutung zu sein.
Als er die klopfenden Geräusche im Motor bemerkt hatte, war ihm sofort klar gewesen, daß er die Maschine auf den Boden bringen mußte. Und tatsächlich, kurz nachdem er abgedreht war, um zur Landung anzusetzen, war dichter, schwarzer Rauch aus dem Motorblock gequollen, dem wenige Augenblicke später eine Stichflamme folgte.
Gerade noch war es ihm gelungen, die Maschine über den Kegel eines erloschenen Vulkans zu manövrieren, der urplötzlich vor ihm aufgetaucht war. Wenige Augenblicke später setzte das Flugzeug hart auf.
Er wunderte sich, daß der Vulkan nicht auf seiner Karte eingezeichnet gewesen war. Wenn er sich dennoch auf die Karte verließ, so mußte sich etwa zweihundert Kilometer weiter nördlich an den Ausläufern der Bergkette die Stadt befinden, die er hatte ansteuern wollen.
Auf Hilfe durfte er hier draußen nicht hoffen. Sein Funkgerät, das seinem Flugzeug in Sachen Altertümlichkeit in nichts nachstand, hatte bei der harten Landung Schaden genommen und zuvor war er nicht dazu gekommen, einen Notruf abzusetzen. Da er jedoch genug Proviant und entsprechende Ausrüstung an Bord mit führte, hatte er sich entschlossen, den Weg zu Fuß zurückzulegen.
Nach zwei Tagesmärschen war er schließlich auf diese seltsame und unwirklich schöne Landschaft gestoßen. Hinter ihm ragte der Kegel des erloschenen Vulkans düster und bedrohlich auf. Ein Blick auf seinen Kompaß sagte ihm, daß er sich die ganze Zeit exakt in nördlicher Richtung bewegt hatte. Dennoch konnte er sich eines Gefühls zunehmender Orientierungslosigkeit nicht erwehren. Und dann war da noch dieses merkwürdige Geräusch.
Zum ersten Mal hatte er es kurz vor Erreichen der kleinen Anhöhe gehört. Anfangs war er der Ansicht gewesen, daß er wegen der Anstrengung des Marsches sein eigenes Blut in den Ohren pochen hörte. Es war ein Trommeln, scheinbar tief aus seinem Inneren kommend. Er schloß die Augen und neigte den Kopf, aufmerksam lauschend. Doch wollte es ihm einfach nicht gelingen, den Ursprung dieses hypnotischen Trommelns zu ergründen. Der Rhythmus war treibend, alles beherrschend und doch unterschwellig. Er erinnerte ihn an die Trance hervorrufenden Trommelwirbel der Schamanen primitiver Völker.
Er setzte seinen Feldstecher an die Augen und suchte die Umgebung ab. Nichts sah er, außer dem wogenden Gras und den vereinzelten Bäumen. Auch Tiere hatte er bis jetzt nicht gesehen. Von ein paar bunt gefiederten Vögeln abgesehen, die erschrocken vor ihm aus dem Gras aufgeflogen waren, um im irisierenden Blau des Himmels zu verschwinden wie Diamanten in einem klaren Teich.
Die Sonne war indes ein ganzes Stück weiter gewandert und schickte sich an, die ganze Steppe in ein loderndes, dunkelrotes Feuer zu verwandeln. Die erhitzte Luft flimmerte in den letzten ersterbenden Sonnenstrahlen und wie ein samtener Handschuh stülpte sich die Dunkelheit über die Weiten des Graslandes. Es erinnerte ihn daran, wie er bei seiner langen Wanderung traumwandlerisch und blöde grinsend durch das duftende, fast hüfthohe Gras gestapft war. Als er aus diesen tranceartigen Zuständen erwacht war, hatte er feststellen müssen, daß er von seiner Route abgekommen war. Anstatt direkt auf die Bergkette zuzugehen, war er parallel zu ihr gewandert. Er wußte nicht, wieviel Zeit ihn diese Abweichungen gekostet hatten.
Er schraubte den Verschluß seiner Feldflasche ab und trank gierig. Seltsamerweise hatte er seit dem Tag seines Aufbruchs vom Wrack des Flugzeuges keinen Hunger verspürt. Dafür quälte ihn ein nicht zu löschender Durst, obwohl an Wasser keineswegs Mangel herrschte. An zahlreichen Bächen, die wie Adern durch die Ebene verliefen, hatte er seine Flasche füllen können. Das Wasser war frisch und klar, hatte aber einen merkwürdig erdigen Beigeschmack. Nachdem er getrunken hatte, machte er es sich auf dem Boden so gut es ging bequem und streckte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen aus. Indes hielt das Trommeln mit unverminderter Intensität an. Der monotone Rhythmus wiegte ihn in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als er die Augen öffnete. Ein karmesinroter Schimmer zeigte sich im Osten. Das Trommeln war nicht verstummt und hallte dumpf in ihm wider. Sein Mund war ein ausgetrockneter Brunnen, die Zunge ein pelziger Klumpen, der schmerzhaft angeschwollen gegen seinen Gaumen drückte. Er erhob sich mit Schmerzen in den Gliedern, griff nach der Feldflasche und trank, ohne daß er seinen Durst hätte stillen können. Umständlich schulterte er seinen Rucksack und blinzelte in die Sonne, die sich vollständig über dem Horizont erhoben hatte und schon jetzt ihre ganze Hitze auf ihn herab brannte. Mit der Zunge fuhr er sich über seine aufgeplatzten, brennenden Lippen, in einem vergeblichen Versuch, sie zu befeuchten.

Als er die Müdigkeit einigermaßen aus den Gliedern geschüttelt hatte, machte er sich auf den Weg. Er war schon eine Weile gegen den sanften Wind durch das wogende Gras gelaufen, als er innehielt. Etwas hatte sich verändert. Es war das Trommeln. Obwohl es nichts von seiner Intensität verloren hatte, war ihm, als könnte er endlich eine Richtung ausmachen. So, als wäre es aus ihm heraus gewandert, um nun von außen auf ihn einzudringen. Langsam drehte er sich um die eigene Achse und suchte den Horizont mit seinem Feldstecher ab. Endlos erstreckte sich die Graswüste im Licht des eben geborenen Morgens. Der Wind war nun stärker geworden, zerrte, schob, drängte ihn in Richtung des Trommelns. Er setzte das Fernglas ab und überließ sich dem Wind, ließ sich von ihm an der Hand nehmen. Seltsam leicht ließ es sich laufen. Die Erde federte sanft unter seinen Schritten. Der noch vor wenigen Augenblicken brennende Durst war verschwunden. Fast beiläufig umklammerte seine Hand den Kompaß, den er an einem Riemen um den Hals trug. Er warf einen kurzen Blick auf die zitternde Nadel, lächelte und zog sich das lederne Band über den Kopf. Das Gehäuse des Kompasses verursachte nur ein kaum wahrnehmbares Geräusch, als es auf dem Boden aufschlug.
Mit weit ausholenden Schritten und schwingenden Armen lief er dem Trommeln entgegen. Er achtete nicht auf seinen Weg. Mit geschlossenen Augen marschierte er weiter. Noch einmal setzte er die Feldflasche an, trank den letzten Schluck dieses klaren, jedoch nie Durst löschenden Wassers. Sein Rucksack glitt ihm beim Laufen von den Schultern und blieb nur wenige Meter neben der leeren Flasche liegen. Immer weiter lief er nun in die endlose Ebene aus sanft wiegendem Gras, atmete die würzige Luft, die nun voll war von diesem herrlichen Trommeln...

Der Pilot des Suchflugzeuges beugte sich über das zertrümmerte Cockpit der kleinen Maschine. Zwischen geschmolzenem Metall und geborstenem Glas auf das die hochstehende Sonne gnadenlos herunter brannte, war ein grotesk verrenkter Körper zu erkennen.
Ein zweiter Mann sah über die Schulter des Piloten. "Ist er tot?" Der Pilot nahm seine Sonnenbrille ab und nickte: "Ja, obwohl er nur leicht verletzt ist. Aber er wurde so unglücklich eingeklemmt, daß er sich nicht einen Zentimeter von der Stelle bewegen konnte. Dabei liegt der Wasserkanister nicht einmal einen Meter von ihm weg." Der andere kniete nieder: "Sieh Dir das mal an." Beide beugten sich zu dem Verunglückten hinab. Sie schauten in ein von der Sonne verbranntes Gesicht.
Aus dem Mund, der zu einem entrückten Lächeln verzerrt war, floß ein dünnes Rinnsal aus Sand.

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