© der Geschichte: Günter Langheld. Nicht unerlaubt
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Aus der Tiefe

Der Fremde war mit seinem alten, klapprigen Ford ins Dorf gekommen, hatte umher gefragt und dann das Haus am Hügel für die Wintermonate gemietet. Er war sofort eingezogen. Woher er kam und welchen Beruf er ausübte, wussten wir nicht, die meisten von uns hielten ihn für einen dieser neurotischen Spinner, die die Abgeschiedenheit des Landlebens suchten, um nach irgendeiner pseudoreligiösen Lehre in Ruhe meditieren zu können. Paul Thiers, unser Gastwirt, meinte, die Kleidung des Fremden deute auf einen Künstler hin, oder jedenfalls auf das, was sich heutzutage eben so Künstler nennt. Doch, wie dem auch sei, Geld schien er wenigstens zu haben, denn die Miete für das Haus bezahlte er für drei Monate im Voraus. Zudem erzählte uns Hans Brüggemann, am Stammtisch, der Fremde sei am Tag zuvor bei ihm im Laden gewesen und habe haltbare Lebensmittel gekauft. Und zwar in solchen Mengen, als wolle er sich für den ganzen Winter mit Ess und Trinkwaren eindecken.

So konnten wir es uns auch erklären, dass er sich später nicht ein einziges Mal mehr im Dorf blicken ließ. Wir sahen und hörten nichts von ihm, aber das war uns nur recht so. Bei Dunkelheit konnte man allerdings ein mattes Licht am Hügel erkennen, das fast die ganze Nacht hindurch brannte. Doch das war auch alles, was uns an den Fremden erinnerte.

Und dann, am 17. Januar, einem besonders kalten Wintermorgen, fand man seine Leiche. Es schien, als hätte er ins Dorf hinab gewollt, denn man entdeckte den Toten gute zweihundert Meter vom Haus entfernt. Sein Körper wies etliche tiefe Wunden auf, die von Messerstichen oder Beilhieben herrühren mussten. So bestand kein Zweifel daran, das jemand den Mann ermordet hatte. Ungewöhnlich nur waren die seltsamen Spuren im Schnee, denn überall um den Toten herum waren Abdrücke von riesengroßen Pferdehufen zu sehen jedenfalls ähnelten sie Hufabdrücken. Hubert, der Dorftrottel, meinte, der Teufel müsse hier seinen Pferdefuß im Spiel gehabt haben. Doch das war natürlich Unsinn.

Dann nahm sich die Polizei der Sache an. Und bei einer Durchsuchung des Hauses, entdeckte man ein Heft, das Fragmente eines Tagebuches enthielt:


12. Dezember

Endlich ist es soweit, das Haus scheint wie geschaffen für mich. Nach so viel Trubel habe ich wirklich etwas Entspannung verdient.

Wer hätte gedacht, dass gleich mein erster Roman erfolgreich sein würde? Ob er es auch ohne die große Werbekampagne meines Verlegers geworden wäre? Ich bezweifle es.

Um mit meinem neuen Buch beginnen zu können, brauche ich jetzt nur Zeit und Ruhe. Zeit habe ich genug und was die Ruhe betrifft, wo gäbe es einen geeigneteren Platz, als hier in diesem Haus?

Elna wird sich bestimmt maßlos anstrengen, meinen Aufenthaltsort auszukundschaften, aber ich bin mir sicher es wird ihr nicht gelingen. Wenn sie mich fände, würde sie darauf drängen, die Weihnachtstage zusammen mit mir zu verbringen. Doch diesmal möchte ich wirklich allein sein.

Die Gegend hier ist noch recht urtümlich. Blickt man aus dem Nordfenster des Hauses, so sieht man auf das Dorf, auf die Bauernhäuser mit ihren schneebedeckten Rieddächern und auf die alte gotische Kirche, deren Turm von hier oben ausschaut, als streckte er sich wie ein mahnender Finger gegen den Himmel. Zu den anderen Seiten hin ist das Haus von Wald umgeben. Uralte, windschiefe Eichen und Buchen begrenzen den Blick zur rechten Seite, während hinter dem Haus und links knorrige Kiefern wachsen.

Ich werde mich hier sicherlich wohl fühlen.


13. Dezember

Ich befinde mich seit meiner Ankunft in einer selten gelösten Stimmung. Alles erscheint mir rosig. Heute morgen habe ich mich gründlich im Haus umgesehen. Es kam mir vor, als wäre ich wieder Kind und schnüffelte heimlich auf dem Speicher der Großmutter nach Verborgenem, ängstlich, dabei ertappt zu werden. Einige der Räume waren verschlossen, aber man hatte mir beim Einzug ein dickes Schlüsselbund ausgehändigt, und es machte mir einen Heidenspaß, jeden der Schlüssel auszuprobieren, bis ich schließlich denjenigen gefunden hatte, der sich im Schloss drehen ließ. Nur zu einer Tür scheint kein Schlüssel vorhanden zu sein. Ja, der Schlüssel zur Kellertür fehlt.

Eine besondere Überraschung erlebte ich, als ich die Tür zum Dachboden aufsperrte. Der Raum war mit Kisten, Kästen, Truhen und alten Möbeln vollgepfropft, alles mit einer dichten Staubschicht überzogen. Es sah aus, als hätte man die Sachen hier achtlos hingeworfen: Zerbrochenes Geschirr lag neben schmutzigen Bettüchern, leere Kartons über dreibeinigen Stühlen. Und inmitten dieses chaotischen Durcheinanders entdeckte ich ein zerrissenes schwarzes Buch. Wenn mich plötzlich die Langeweile plagen sollte, werde ich den Dachboden noch einmal genau untersuchen. Vielleicht birgt er noch einige Kuriositäten.


16. Dezember

Heute Nachmittag habe ich eine halbe Stunde lang Holz gehackt. Das Holz lagert im Schuppen hinter dem Haus und soweit ich es übersehen kann, ist genügend Brennmaterial vorhanden, um über den Winter zu kommen. Natürlich wäre eine Ölheizung bequemer, aber die körperliche Betätigung tut mir gut. Es macht mir sogar Spaß, mich beim Holzhacken einmal richtig auszutoben.

Gestern habe ich einige Stunden an meinem neuen Roman gearbeitet, und von nun an werde ich versuchen, täglich ein paar Seiten zu schreiben. Ich habe einen Zeitplan aufgestellt, um den Termin für mein Manuskript einhalten zu können. Wenn meine gute Laune bleibt, werde ich sogar noch eher damit fertig. Das Wichtigste ist, dass mich hier keiner stört.

Es ist herrliches Wetter, und ich werde noch einen Spaziergang machen, bevor es dunkel wird.


20. Dezember

Ich bin in den letzten Tagen sehr gut mit meinem Roman vorangekommen, hätte nicht gedacht, dass mir das Schreiben so leicht fallen würde. Selbst heikle Formulierungen glücken mir auf Anhieb.

Vorhin war ich noch einmal auf dem Dachboden, habe aber nichts Interessantes mehr entdeckt. Beim Herumstöbern stieß ich wieder auf das alte, verstaubte Buch und nahm es mit nach unten. Es ist doch keine Bibel, wie ich zuerst vermutet habe. Als ich es aufschlug, war ich ziemlich überrascht, denn die Seiten sind handbeschrieben, in verschnörkelten, altmodischen Buchstaben. Einige der Textstellen sind im Laufe der Zeit unleserlich geworden. Dennoch ist es mir unverständlich, warum man das Buch so achtlos zwischen all das Gerümpel geworfen hat.

Der schwarze lederne Einband trägt keinen Titel; es scheint aber so etwas wie eine mythologische Abhandlung zu sein. Ich muss das Buch in den nächsten Tagen wohl einmal genau unter die Lupe nehmen.


26. Dezember

Endlich ein Weihnachtsfest, wie es mir gefällt, ohne Flimmer und Flitterzeug, ohne Gänsebraten mit Rotkohl (und ohne den verdorbenen Magen danach) und vor allen Dingen, ohne die langweiligen Besuche, die Elna in diesen Tagen wieder einmal als unsere unumgängliche, heilige Pflicht angesehen hätte.

Ich habe mein Weihnachtsessen aus dem Inhalt von Konserven zusammengestellt, dazu eine Flasche wohltemperierten Burgunder. Und es hat mir vorzüglich geschmeckt.

Mit meinem Roman bin ich auch wieder ein gutes Stück weiter gekommen. Am Abend werde ich ein paar Seiten in dem alten Buch lesen.


1. Januar

Das alte schwarze Buch erscheint mir so sonderbar, dass ich kaum die richtigen Worte dafür finden kann. Es beginnt, wie folgt:

"Dieses Traktat soll nicht den Unreinen oder den Uneingeweihten offenbart werden, denn dies zu tun, hieße einen schrecklichen Fluch über sie und ihre Generation heraufzubeschwören. Dies ist das Zeugnis alles dessen, was ich in jenen Jahren gesehen habe, da ich die sieben Siegel der Chalmae besaß.
Nun aber bin ich schwach und krank und tiefe Erschöpfung lastet auf meiner Seele. Die Wölfe heulen meinen Namen zum Mond empor und die grausame, pfeifende Stimme Equustrons ruft nach mir, das Flattern seiner Schwingen, das Scharren seiner Hufe dringt zu mir herauf aus der Tiefe. Bevor ich mich jedoch in das Unvermeidbare fügen muss, werde ich alles das, was ich erlebte, niederlegen. Ich werde von jenen Schrecken berichten, die draußen umgehen und geifernd vor den Türen der Menschen lauern."

Ich konnte ich das Buch nicht eher beiseite legen, bis ich die Seiten bis zum Schluss entziffert hatte. Der letzte Satz lautete:

"Alle, die dieses gelesen haben, sollen hiermit gewarnt sein, denn das Menschengeschlecht weiß nichts von den Übeln, die ihm bevorstehen."

Das Buch hat mich so sehr in Beschlag genommen, dass ich meine eigene Arbeit total vernachlässigt habe. Nicht eine einzige Zeile habe ich in den letzten Tagen geschrieben, ja, es ist mir kaum bewusst geworden, dass inzwischen ein neues Jahr begonnen hat.

Ich habe einiges nachzuholen!


7. Januar

Unbehagen! Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Seit Tagen habe ich keinen vernünftigen Satz mehr aufs Papier gebracht. Wenn das so weiter geht, werde ich Schwierigkeiten mit meinem Verlag bekommen.

Aber noch ist genügend Zeit. Wenn ich mich nur konzentrieren könnte!


9. Januar

Seit gestern Abend fällt unaufhörlich Schnee. Es ist kälter geworden. Noch immer quälen mich trübsinnige Gedanken. Ich werde hinausgehen, um etwas Holz zu hacken. Vielleicht hilft die frische Luft und die körperliche Betätigung.


10. Januar

In der Nacht erwachte ich, weil die Brettertür des alten Holzschuppens vom Wind immer auf und zu geschlagen wurde.

Hoffentlich finde ich irgendein Werkzeug, mit dem ich die Tür reparieren kann. Ich fühle mich innerlich unruhig, mir ist, als wollte mir die Decke auf den Kopf fallen. Es fehlt mir einfach die Energie, um an meinem Roman weiter zu arbeiten.


12. Januar

Letzte Nacht erwachte ich wieder, aber es war diesmal nicht das Klappern der Schuppentür, das mich geweckt hatte, sondern ein Geräusch, das aus irgendeiner Ecke des Hauses kommen musste. Es klang, wie das schrille Pfeifen von in Panik geratenen Ratten.

Ich zog meinen Morgenmantel an und versuchte den Ursprung der Laute zu ergründen. Doch es gelang mir nicht; nach fast zweistündiger vergeblicher Suche, ging ich schließlich wieder ins Bett. Aber ich konnte nicht einschlafen und lag bis zum Morgen wach. Ich lauschte den schrillen Tönen, die erst erstarben, als es schon hell zu werden begann.

Meinen Nerven sind zum Zerreißen gespannt.


13. Januar

An diesem Tag setzten die seltsamen Laute schon kurz nach Eintritt der Dämmerung ein. Das schrille Pfeifen scheint von unten zu kommen; irgendwo dort unter den Dielenbrettern muss es seinen Ursprung haben. Und oft ertönt es so dumpf, als käme es tief aus der Erde.

Aber mir ist, als hörte ich noch andere Geräusche: Widerliche Schmatzlaute und leises Wispern mischen sich manchmal zwischen das Pfeifen.

Das alles kann unmöglich nur von Ratten herrühren. Viel länger halten meine Nerven diesen Wahnsinn nicht mehr aus. Ich werde mich zwingen müssen, an meinem Roman weiter zu schreiben. Ich muss unter allen Umständen auf andere Gedanken kommen.


14. Januar

Jemand treibt sich in der Nähe des Hauses herum! Als ich heute morgen aus dem Fenster sah, bemerkte ich es. Zwar konnte ich in dem dichten Schneetreiben draußen nicht viel mehr als einen Schatten erkennen, der als ich die Gardinen zurückzog eilig hinter dem Schuppen verschwand. Aber es langte doch, um jetzt sicher zu sein, dass man mir auflauert. Und das auch am Tage!


Schon während der Nacht hörte ich deutlich, dass sich jemand vor dem Haus herumtrieb: Ich war wider allem Erwarten kurz vor Mitternacht eingeschlafen, aber der Wind hatte sich zum Sturm gesteigert und riss einen der Fensterläden ab. Es geschah mit solcher Lautstärke, dass ich davon aufwachte und nicht wusste, was geschehen war. Dann hörte ich es vor der Haustür, erst kräftiges Stampfen, darauf hastig sich entfernende Schritte. Etwas Ungeheuerliches braut sich zusammen, und ich beginne mich vor der Nacht zu fürchten.

Mein Gott, wie kurz die Tage doch sind. Schon wieder wird es dunkel. Und wieder setzen diese furchtbaren Geräusche ein, die mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken treiben. Sie sind lauter geworden; ich kann unmöglich dabei einschlafen.


15. Januar

Es ist eisig kalt im Haus. Das Holz ist aufgebraucht, aber ich werde nicht zum Schuppen gehen, um neues zu holen. Ich weiß, sie warten nur darauf, dass ich unvorsichtig werde, um dann...

Letzte Nacht habe ich sie wieder flüsternd ums Haus schleichen hören. Und dann, plötzlich, kam etwas heran gebraust, ein Wesen mit riesigen Schwingen. In meinen Ohren klingt noch immer das geisterhafte Flattern, in meinem Kopf hämmert es unaufhörlich.

Ich habe einen Schrank vor die Tür gerückt, die Fenster verbarrikadiert, damit sie nicht ins Haus eindringen können.

Jetzt bin ich hier sicher, wie in einer Festung.


16. Januar

Ich muss wie ein Toter geschlafen haben, einer Ohnmacht nah. Als ich erwachte, war es schon wieder dunkel. Ich friere erbärmlich.
Das unterirdische Pfeifen dringt so laut, wie nie zuvor zu mir herauf.
Ich halte es nicht länger aus; ich muss irgendetwas unternehmen.
Halt was war das?
Es klingt wie splitterndes Holz.
Die Kellertür ist offen!

Hufe stampfen...das fürchterliche Pfeifen...riesige Schwingen... ich muss fliehen...

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