© der Geschichte: Seth Ghwyndion. Nicht unerlaubt
vervielfältigen oder anderswo veröffentlichen. Alle Rechte
dieses Werkes liegen bei dem Autor. Diesen Disclaimer bitte
nicht entfernen


Morgengrauen

Alles, doch nicht der Regen war es, der kalt und naß, trübsinnige Stimmung herbeirufend an die Fensterscheiben klopfte, auch nicht der Donner war es, der drohend zwischen den Bergen widerhallte und dessen Blitze machtvoll die Dunkelheit zerteilten, sondern die innere Unruhe und die düsteren Nachtmahre waren es, die Josephia vom Schlaf abhielten.
Müde und frierend klammerte sie sich an die Kissen, sich bemühend, zur Ruhe zu kommen. Schon seit Wochen war es ihr geradezu unmöglich, nachts länger als drei Stunden in einen unruhigen und unheilvollen Schlaf zu fallen, dessen Träume ihre Unruhe nur noch von Mal zu Mal verstärkten, und ihr jede ruhige Minute auch tagsüber unmöglich machten.

Wie gerne wäre sie doch zu ihrer liebsten Freundin Julie gegangen. Aber gerade dies zu tun, schien ihr als das Schlimmste, was sie tun könnte, da doch gerade Julie der Grund ihrer qualvollen Nächte zu sein schien. Eine Angst befiel sie, wenn sie an ihre Freundin dachte, wie sie sie selbst als Kind nicht empfunden hatte. Daß sie sich nun nicht mehr zu ihr wagte und ihr niemand mehr außer der brennenden Angst geblieben war, die sie geradezu verbrannte, wußte sie das erste Mal in ihrem Leben, was Verzweiflung war, tiefe Verzweiflung, aus der es keine Rettung zu geben schien.
Von jeher war ihr Julie irgendwie unheimlich erschienen, Julie, die ihr so stark ähnelte, wie die Nacht dem Tage. Natürlich war es gerade dies, was Julie für sie so interessant und im höchsten Maße faszinierend gemacht hatte. Auch ihre merkwürdige Weise, sich in ihrer Freizeit zu beschäftigen, hatte sowohl Abneigung und Mißtrauen wie auch Neugier in Josephia geweckt.

Anders als Julie interessierte sie sich an sich kein bißchen für okkulte Dinge und parapsychologische Forschungen. So hatte sie am Anfang auch nur gelacht, als Julie ihr mitteilte, sie habe da so eine Ahnung, daß sie sich in einem früheren Leben schon einmal begegnet seien.

Doch plötzlich waren die Träume gekommen, die beide Frauen zugleich erfaßt zu haben schienen. Schreckliche Träume waren es, die voller Grauen waren. Das Erschreckende war, daß es ganz so schien, als seien die Träume von Julie und Josephia identisch.

Dunkle Keller, graues Gestein, Wasser tropfte von den rissigen Wänden, der Boden bedeckt mit Unrat und Blut, Schreie hallten von den Wänden wider. Kerzenschein, schemenhafte Gesichter, dumpfe Schläge, Panik, Schmerz und Angst lagen in den Gemäuern.

Josphia hatte Angst, Angst vor ihren Ahnungen. Wenn es nun doch möglich wäre, daß der Mensch nicht nur einmal lebte, wenn sie und Julie schon einmal in Wirklichkeit diese grauenerregenden Momente erlebt hatten??

Die Angst vor Julie wuchs. Immer wieder sah sie die feinen, blassen Hände eines jungen Mannes, hörte seine grausame Stimme. Schauer des Entsetzens liefen ihr den Rücken herunter. Sein Lachen, so grotesk in diesen widerlichen Gewölben, hallte in ihren Ohren. Dann wieder das Gesicht von Julie, das Gesicht, daß sie so gut, ja vielleicht besser als ihr eigenes kannte, das harte Glitzern, das sich neuerdings in ihren Augen widerzuspiegeln schien, es beunruhigte sie. Auch schien Julie neuerdings so distanziert, so fremd, und es hatte den Anschein, als breite sich Haß in ihrem Wesen aus. Josephia dachte an ihre bösen Ahnungen. Aber nein, es konnte einfach nicht sein. Nein, nicht ihre geliebte Julie konnte es sein, nein, niemals. Aber irgendetwas in ihr warnte sie vor Julie.

Draußen schwoll das Donnergrollen zu einem lauten Donnern an, das die Wände beben ließ. Josephia meinte Stimmen zu hören, qualvolle Schreie und abermals dieses gräßliche Lachen. Der Blitz erhellte das Zimmer für einen kurzen Augenblick, lang genug, um die Frisierkommode für kurze Zeit aus der Dunkelheit tauchen zu lassen. Blut schien am Spiegel herunterzulaufen.

Josephia schrie bei diesem Anblick auf und lief rasch zum Lichtschalter. Aber alle Hoffnung schien vergebens. Sie hatte sich nicht getäuscht. Noch immer rann Blut am Spiegel auf die Kommode. Ungläubig starrte sie auf das unerklärliche Schauspiel. Oh, Gott, was war geschehen? Voller Panik rannte sie zum Telefon und wählte Julies Nummer. Sie brauchte nicht lange zu warten. Julie meldete sich überraschend schnell.

"Julie, ich hatte wieder einen dieser Albträume und nun läuft Blut über die Kommode. Ich habe solche Angst, bitte komm vorbei!"

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang merkwürdig wach und gefaßt, aber auch kalt wie Eis. "Ja, ich hatte den selben Traum. Wir sollten das Ganze sofort bereden. Ich habe heute zum ersten Mal das Gesicht des Mannes gesehen. Ich komme sofort."

Sie legte schnell auf, zu schnell, wie es Josephia durch den Kopf schoß.

Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, daß es doch keine so gute Idee gewesen war, Julie gerade zu diesem Zeitpunkt herzubestellen. Und was wäre, wenn sich ihre böse Ahnung bewahrheiten sollte? Was würde nun geschehen, wenn es doch Julie wäre? Aber Julie, als grausamer Burgherr, der eigens seine Gefangenen marterte? Nein, doch nicht ihre geliebte Julie! Es konnte, nein, es durfte nicht sein. Schon wieder schien Panik sie zu erfassen.

Benommen starrte sie zum Fenster heraus, wie gerne wüßte sie doch, was es mit den Träumen wirklich auf sich hatte. Wieso hatte sie dieses Mal bloß nicht das Gesicht des gefürchteten Mannes gesehen, wogegen Julie es heute zum erste Mal gesehen hatte? Warum waren ihre Träume dieses Mal nicht identisch, wie alle Male zuvor? Gerade heute hätte Sophia gerne das Gesicht des grausamen Peinigers gesehen, um festzustellen, ob es irgendeine Ähnlichkeit mit dem Julies habe. Schweiß stand ihr auf der Stirn, als sie Julie durchs Fenster erblickte, die die Straße heraufgerannt kam. Irgendetwas hielt sie in der Hand. Sie konnte nicht erkennen, was es war, aber sie fühlte ihr Herz vor Angst stoppen. Was hatte Julie bloß vor??

Erschreckt fiel ihr ein, daß ihre Nachbarn vor kurzem in den Urlaub gefahren waren. Oh, Jesus, sie war allein. Laut schallten Julies Tritte im Hausflur. Viel zu hastig rannte sie zur Wohnungstür. Reflexartig wandte sich Josphia zur Tür, um Julie zu öffnen. Doch ein Blick zum Fenster ließ sie voller Entsetzen verharren. Das Verstehen kam. Die Angst lähmte sie. Denn Julie war nicht gekommen, um ihr zu helfen.

Nun getraute sie sich nicht mehr, Julie zu öffnen, die heftig an ihrer Wohnungstür hämmerte. Es war ihr eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe, das sie daran hinderte. Voller Entsetzen sah sie, wie sich ihr Spiegelbild in das des grausamen Mannes verwandelte, der so viele Menschen auf dem Gewissen hatte. Sie wollte wegrennen, doch die Züge des Mannes waren ihr eigenen, sein Lachen ihrs und es waren ihre eigenen Hände, die mit Blut befleckt waren.

zurück