© der Geschichte: Günter Langheld. Nicht unerlaubt
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Vor Sonnenaufgang im Moor

Die Morgendämmerung setzte gerade ein, als der Landstreicher erwachte. Es musste kurz vor vier Uhr sein auf sein gutes Zeitgefühl hatte er sich schon immer verlassen Können. Er reckte sich und massierte seinen Nacken. Dann kroch er aus dem Stroh und öffnete das Tor der Scheune, in der er übernachtet hatte.

Graues Dämmerlicht umgab ihn, als er ins Freie trat, die ersten Vögel regten sich schon in den Zweigen der Bäume. In der Ferne hörte er schwaches Hundegebell. Es würde wohl noch einige Zeit dauern, bis die Sonne aufging. Vor ihm erstreckte sich das Moor, das er an diesem Tage durchwandern wollte. Der Landstreicher gähnte noch einmal, schwang das Bündel mit seinen wenigen Habseligkeiten über die Schulter und marschierte in gemächlichem Tempo los.

Seine Beine trugen ihn nicht mehr so gut wie früher, und er musste langsamer gehen. In letzter Zeit wurde er immer schneller müde. Seit über zwanzig Jahren war er jetzt auf der Walze, Tag für Tag in der freien Natur. Und er wollte auch auf der Landstraße sterben, nicht in einem dieser weißen, nach Desinfektionsmitteln stinkenden Krankenhausbetten. Er wusste selbst nicht, weshalb er plötzlich an den Tod dachte.

Früher, ja früher hatte auch er ein geregeltes Leben geführt, dann jedoch hatte ihn der Wandertrieb gepackt, und ließ ihn fortan nicht mehr los. Sollte er nun froh oder traurig sein, dass alles so gekommen war froh oder traurig, froh oder traurig? Seine Gedanken kreisten im Takt seiner Schritte um diese Frage, doch er versuchte keine Antwort darauf zu finden. Es genügte völlig, danach zu marschieren.

Der Landstreicher erreichte eine Stelle, an der ein schmaler, mit Gras bewachsener Pfad abzweigte und sich über das Moor schlängelte. Rechts lag ein steiler, mit Brombeerbüschen bewachsener Hügel. Vor ihm, aus den Torfstichen, quoll weißer Nebel und zog über die Senken; im fahlen Gras schimmerten Tautropfen.

Er hatte diesen einsamen Weg gewählt, weil es die kürzeste Verbindung war, um ins Dorf zu kommen. Die Teerstraße wäre ein ziemlicher Umweg gewesen.

Sein leerer Magen begann zu knurren. Gestern, so überlegte er, war ein Glückstag für ihn gewesen, denn der Bauer, bei dem er angeklopft hatte, um etwas Brot und einen Schluck Wasser zu erbetteln, hatte ihm sogar erlaubt, im Stroh der Scheune sein Nachtlager aufzuschlagen.

So viel Glück war er nicht gewohnt gewesen. Oft hatte man ihn mit Hunden von den Höfen gehetzt, und es war nicht immer leicht gewesen, etwas zum Essen zu organisieren. Manchmal musste er es sich zusammen stehlen, um nicht zu verhungern.

Unter freiem Himmel zu schlafen, hatte ihm jedoch nie etwas ausgemacht, nur im Winter musste man acht geben, dass man über Nacht nicht erfror. Wer zu der kalten Jahreszeit keinen geschützten Platz fand, konnte meist froh sein, wenn er am nächsten Morgen überhaupt wieder aufwachte. Er hatte von Tippelbrüdern gehört, die eines Morgens mit steif gefrorenen Knochen, tot aufgefunden worden waren. Doch jetzt war Sommer.

Der Landstreicher zog sein schmutziges Taschentuch, schnäuzte sich die Nase und sah sich um. Die Birkenbüsche vor ihm rührten sich kaum; kein Lüftchen bewegte die dürren Äste. Links flatterte ein Kiebitz ängstlich auf, und plötzlich ertönte nicht weit entfernt ein Schrei. Ihm war, als hörte er einen Hilferuf. Der Landstreicher verließ den Pfad und eilte in die Richtung, aus der der Laut gekommen war. Der Boden war feucht und glitschig.

In der Nähe hörte er Schritte rascheln, die sich aber fort von ihm bewegten, als würde jemand vor ihm fliehen. Wieder erklang ein Ruf; diesmal jedoch schien er von weiter rechts zu kommen. Immer tiefer geriet er in die Moorebene hinein. Er verspürte den unwiderstehlichen Drang, den Geräuschen zu folgen.

Durch die Blätter fegte ein Windstoß, und für einen Augenblick sah es aus, als warnten ihn die Zweige durch wildes Auf und Abwallen. Doch es war nur eine kurze Windbö, und übrig blieb nur ein leichtes Zittern der Blätter. Der Landstreicher begann zu laufen. Kauerte nicht dort ein Schatten neben den Torfschollen? Einen Steinwurf entfernt, in dem Gestrüpp, bewegte sich etwas.

Laut schimpfend flog eine Rohrdommel auf. Dort im Nebel, wo es eben noch leise geraschelt hatte, sah er nun das verkümmerte Skelett einer Weide. Höhnisches Lachen schien ihn plötzlich zu umgeben. Fluchend drohte der Landstreicher mit der Faust. Trieb da etwa jemand seine Späße mit ihm?

Jetzt musste er aber schleunigst zurück auf den sicheren Weg, doch überall um ihn herum erblickte er nichts anderes, als die sumpfige, morastige Ebene. Es gluckste unter seinen Füßen und er bemerkte, dass er bis über beide Knöchel im Moorwasser stand. Er trat schnell einen Schritt zurück der Boden schwamm und bewegte sich. Erschrocken fasste er um sich, fand jedoch keinen Halt, an den er sich klammern konnte. Geisterhafte Arme schienen ihn zu packen und in die Tiefe ziehen zu wollen. Panik ergriff ihn, als er spürte, wie das Moor ihn aufzusaugen begann.

Er rief um Hilfe, doch wer sollte ihn in dieser einsamen Gegend schon hören? Die Moorbauern waren noch nicht so früh bei der Arbeit. Verzweifelt schlug er um sich, der Sog jedoch wurde immer stärker...

Noch einmal schrie er aus voller Kehle. Dann wurden seine gurgelnden Laute durch die breiige Masse erstickt, die langsam seinen Mund füllte. Blasen stiegen auf, zerplatzten an der Oberfläche, und der Boden schloss sich schmatzend.

Ein schwacher roter Streifen im Osten, kündigte den Sonnenaufgang an.

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