© der Geschichte: Tobias Schuhmacher. Nicht unerlaubt
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Die Kreaturen

"Sie müssen wissen, wir sind ein sehr altes Krankenhaus, deshalb ist die Stromversorgung nicht besonders gut. Außerdem scheinen einige der hohen Herren zu glauben, dass eine psychiatrische Anstalt mit wenig Geld auskommt. Es ist eine Schande!" Die Ärztin schleppte mich durch die Gänge der schwach beleuchteten Anstalt und versuchte die schwache Beleuchtung zu rechtfertigen.
"Weshalb haben Sie mich gerufen?"
"Das werde ich Ihnen gleich zeigen, Doktor Campbell. Wir haben gehört, dass Sie eine Koryphäe auf dem Gebiet mysteriöser Vorfälle sind, und ich denke, dass dies sehr mysteriös ist. Glauben Sie mir, so etwas hat es noch nicht gegeben." Langsam, fast zurückhaltend schlich sie vor mir durch den halbdunklen Gang, rechts und links waren in bestimmten Abständen Stahltüren mit Sichtfensteröffnungen angebracht. Sie alle waren mit Nummern auf den Türen versehen. Die Zellen der geistig Verwirrten. Zwanzig Meter vor uns wartete eine besonders große und besonders starke Tür darauf, geöffnet zu werden. Auf diese hielten wir nun zu. Mit langsamen Schritten kamen wir immer näher.
"Jede Nacht um drei Uhr zweiundzwanzig beginnt dieses Schauspiel, jede Nacht, und es wird jedes Mal beängstigender. Sie müssen sich das unbedingt ansehen!" Schreie waren irgendwo in der Ferne zu hören.
"Wenn Sie mir sagen würden, um was es sich genau eigentlich handelt, könnte ich mich vielleicht schon psychisch darauf einstellen", sagte ich. "Das kann ich Ihnen gar nicht beschreiben, Sie würden es nicht glauben. Vertrauen Sie mir, Sie müssen es sich unbedingt ansehen." Irgendwie beängstigend tat sich der stählerne Koloss von Tür in der Halbdämmerung vor uns auf. Es waren nun vielleicht noch zehn Meter.
Die Ärztin sah auf die Uhr, dabei schob sie sich ihre Brille zurecht. "Drei Uhr fünfzehn. Nur noch sieben Minuten, dann geht es wieder los!" sprach sie mit leicht zittriger Stimme. Ich sah ebenfalls auf meine Uhr und konnte es nur bestätigen. "Was ist das eigentlich für eine Regierungsabteilung, für die Sie arbeiten, die mysteriöse Phänomene und Ereignisse behandelt?" wollte sie wissen.
"Ich kann Ihnen da leider nicht allzu viel erzählen, denn das ist mehr oder weniger recht geheim. Nur so viel: Uns gibt es eigentlich nur inoffiziell, die Regierung hat mit uns nicht allzu viel am Hut. Sie kommen nur hin und wieder zu uns, wenn sie nicht weiter wissen und beauftragen uns, mysteriöse Phänomene und Ereignisse zu untersuchen. Größtenteils arbeiten wir allerdings unabhängig. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann und darf, denn ich bin noch recht neu in dieser Organisation?" Viel mehr wusste ich in der Tat nicht, denn Neulingen vertraute man noch nicht besonders, man musste sich erst bewähren. Ich wusste lediglich noch, dass die Organisation in der ganzen Welt tätig war und überall ihre Leute hatte. Teils hochrangige Mitglieder, Wissenschaftler und auch Leute aus der Wirtschaft, und teils kleine, unbekannte Hobbyverschwörungstheoretiker. Diese Leute waren immer auf Abruf und konnten durch ein aufwendiges Kommunikationsnetz im Notfall alarmiert werden. Genauso war es auch bei ihm geschehen gewesen. Der sogenannte ‚Senat' hatte ihn über das von der Organisation gelieferte Handy per Anruf alarmiert und auf diese Mission geschickt. Eine kratzende weibliche Stimme hatte zu ihm gesprochen. Irgendwie hatte sie auf ihre eigene Art und Weise sehr sexy geklungen. Wer die Organisation leitete wusste er nicht, wer der ‚Senat' war wusste er auch nicht. Ihm war lediglich klar, dass es jemand sein musste, der eine Menge Kohle hatte. "Aha!" sagte die Ärztin etwas ungläubig. "Das klingt ja alles sehr nach dieser einen komischen Fernsehserie. Wie hieß sie noch gleich?" Sie überlegte angestrengt, schien aber nicht darauf zu kommen.
"Ich weiß, was sie meinen, nur ist mir im Moment der Name auch entfallen", unterbrach ich ihre Überlegungen.
Sie nickte nur. "Da sind wir!" Wir standen nun vor der schweren Stahltür, die als einzige in diesem Gebäude ohne Nummer war, und die Ärztin öffnete das Sichtfenster, indem sie einen eisernen Riegel zur Seite schob. Mit kalter, unmenschlicher Gewalt rastete das stählerne Riegelstück ein, sodass es nicht zufallen konnte, wenn man durchschaute.
Sie sah kurz durch und schien sich nach etwas zu vergewissern. "Alles ruhig. Noch!" Es war nun drei Uhr achtzehn.
"In dieser Zelle - die sicherste, die wir haben - liegen zwei Patienten, die vor ein paar Jahren eingeliefert wurden. Die beiden wurden vor ein paar Monaten am Ufer des großen Flusses gefunden. Beide waren sie komatös und trugen tennisballgroße Krebsgeschwüre in ihren Hirnen. Man brachte sie sofort in ein Krankenhaus und behandelte sie dort eine Weile, doch eines Nachts geschah etwas grauenhaftes, nämlich genau das, was sie jetzt gleich sehen werden. Da ihre Krankenzimmer damals total zerstört und zwei Pfleger getötet, zwei weitere und eine Ärztin verletzt wurden, brachte man sie hierher. Warum, weiß ich nicht. Ich denke sie wollten sie einfach nur loswerden. Aus den Augen, aus dem Sinn, verstehen Sie?" Ich verstand nur zu gut, nach diesem Motto wurde sehr oft gehandelt, besonders wenn es um mysteriöse und unerklärliche Dinge ging.
"Wir können die beiden hier einfach nur liegen lassen", fuhr sie fort, "und hoffen, dass sie irgendwann einmal sterben. Eigentlich müssten sie nämlich schon längst tot sein, bei diesen Geschwüren. Inzwischen denke ich, dass es vielleicht besser wäre sie zu töten, denn sonst werden sie vielleicht nie sterben." Ich sah sie geschockt an und sie verstand meinen Blick.
"Ich weiß, ich bin Ärztin und sollte so etwas auf keinen Fall sagen, aber unter diesen Umständen...." Sie unterbrach sie selbst und sah wieder auf die Uhr. Ich tat es ihr nach.
Es war drei Uhr zwanzig.
"Nur noch zwei Minuten, dann geht es los!" flüsterte sie ängstlich. "Wollen Sie mal einen Blick hinein werfen."
Sie öffnete das Sichtfenster und ich spähte hindurch. Viel war bei dieser Dunkelheit nicht zu erkennen. Lediglich der sanfte Schein des abnehmenden Mondes in dieser ungewöhnlich klaren Nacht, der durch ein kleines und mit starken Eisenstäben vergittertes, sich auf der gegenüberliegenden Seite befindendes, Fenster hindurchfiel und so den Raum leicht erhellte, konnte man einige Dinge der sparsam eingerichteten Zelle erkennen. Das Fenster war in der Mitte der Wand eingelassen. In der linken und rechten Ecke befanden sich die beiden Betten der Patienten, die darin scheinbar friedlich schliefen. Kein Tisch, kein Stuhl, keine medizinischen Geräte, nichts dergleichen. Nur eine Toilette, die sich an der Wand unter dem Fenster befand und daneben ein Waschbecken. Es wirkte erschreckend friedlich in dieser Zelle.
Ich wand mich wieder der Ärztin zu. "Ich kann da nichts erkennen, wenn Sie mir doch wenigstens sagen könnten, auf was ich achten muss." "Glauben Sie mir, in etwas mehr als einer Minute werden Sie es erfahren und sie werden es auf jeden Falle erkennen, wenn Sie dort hindurchsehen", verriet sie geheimnisvoll.
Es war drei Uhr einundzwanzig.
Eine grausame Stille war entstanden. Ich fühlte mich eigenartig. Müdigkeit und Anspannung vermischten sich mit Neugier und Angst. Schon lange hatte ich kein so seltsames Gefühl in mir gespürt. Mein Puls legte zu, mein Herz konnte ich pochen fühlen. Mein Blut schien zu wallen, mein Körper schien sich gegen etwas zu wehren. "Gleich ist es soweit", sprach die Ärztin in die Stille hinein, die nach ihren letzten Worten entstanden war.
Tatsächlich, nur einige Sekunden später, genau drei Uhr zweiundzwanzig, erhoben sich aus jedem der Körper ein gleißendes, kugelrundes Licht. Aus diesen Lichtern heraus wuchsen zwei Kreaturen, gewaltig und bizarr, bösartig und beängstigend. Diese Kreaturen waren so unbeschreiblich abstoßend und zugleich so kalt abweisend, dass sie jeder Beschreibung trotzten und es mich fröstelte, ihnen zu zusehen. "Sehen Sie es, Doktor Campbell?!" wollte die Ärztin aufgeregt wissen. "Ja, aber was ist das?" entgegnete ich voller Erstaunen.
Sie sagte nichts mehr. Ich brachte auch kein Wort mehr heraus, sondern sah einfach zu, wie die Kreaturen übereinander herfielen. Sie stießen mit ihren gewaltigen Hörnern aufeinander ein, prallten mit ihren geschuppten Häuten gegeneinander und stießen dabei so heftig gegen die Wände, dass das halbe Krankenhaus leicht bebte. Teils blutüberströmend kämpften diese Bestien, als kämpften sie um ihr Leben - und das taten sie anscheinend auch. Ich war zu erstaunt, um im Moment nur einen klaren Gedanken fassen zu können, was dort ablief war derart angsteinflößend, dass ich schon bald fragte, was sie tun würden, wenn sie ihn bemerkten.
"Sind diese Dinger schon mal auf einen Menschen losgegangen?"
"Nein!" antwortete die Ärztin. "Bisher noch nie. Selbst, wenn sie uns zu bemerken schienen, taten sie nichts. Sie kämpften einfach weiter, bis sie am Ende wieder in diesem gleißend hellen Licht verschwanden - bis zu nächsten Nacht um drei Uhr zweiundzwanzig."
Ich sah noch immer gebannt dem Kampf der Bestien zu. Sie fielen übereinander her wie zwei wilde Tiere, die total ausgehungert um das letzte Stück Fleisch kämpften. Es beeindruckte und stieß mich ab zugleich - und ich fragte mich in diesem Moment, warum man mich hergeschickt hatte. Was sollte ich denn nun tun? Was glaubte der Senat denn, wie ich mich nun verhalten sollte? Die beiden Bestien kämpften unaufhörlich weiter. Sie schienen gar nicht mehr aufhören zu wollen.
Als der Kampf dann bereits über zehn Minuten andauerte kam es zu einem mächtigen Schlag, als beide Bestien sich die gewaltigen Hörner gegenseitig in ihre Leiber stießen. Daraufhin fuhren die beiden Lichter ineinander und es entstand ein Sog, der das gesamte Innere des Raumes ausfüllte und alles in sich hineinsaugte. Dann verschwand der Sog und nichts geschah mehr. Alles war verschwunden. Die Kreaturen, die Lichter, die beiden Menschen, die Betten - einfach alles. Es hatte keine Spuren hinterlassen.
"Was ist geschehen?" wollte die Ärztin wissen.
Ich wich zurück und ließ sie hindurchsehen.
"Das...das gibt es doch nicht", stotterte sie. "Alles ist weg! Was ist geschehen?" Ich erzählte ihr, was ich gesehen hatte. Im Hintergrund waren aus den anderen Zellen wieder Schreie und Rufe zu hören. Scheinbar hatte der Krach die Patienten geweckt.
Ich blickte in den Gang zurück, durch den wir gekommen waren. Düster und aussichtslos, so erschien mir dieser Gang, den die Stahltüren der Zellen umwucherten wie ein Unkraut des Verzweifelns.
"Was werden Sie jetzt tun?" fragte die Ärztin zurückhaltend.
"Öffnen Sie die Tür!"
Sie kramte in ihrem Kittel herum und holte bald ein großes Schlüsselbund hervor. Dann suchte sie unter den vielen Schlüsseln den richtigen und führte ihn in das Schloss ein. Mit einem metallischen Klacken war klar, dass die Tür nun entriegelt war. Vorsichtig zog sie am Metallgriff und die Tür öffnete sich. Ich ging hinein. Noch immer fiel der schwache Schein des Mondes durch das eine Fenster und erleuchtete dieses Zimmer auf geradezu mystisch-romantische Weise. Die Ärztin betätigte den Lichtschalter, der außen angebracht war und es wurde mit einem Mal hell.
"Leer, absolut leer", sprach die Ärztin so vor sich her. "Doktor Campbell, wie ist so etwas möglich?"
"Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was hier passiert ist. Und so wie es aussieht, kann ich auch keine großartigen Untersuchungen mehr anstellen, da es ja nichts mehr gibt." Ich sah mir wirklich jede mögliche Ecke, jeden Zentimeter des Raumes genau an. Nichts, da war absolut nichts mehr.
"Warum verschwinden diese Kreaturen ausgerechnet in dieser Nacht, wo Sie doch jetzt da waren, um das zu untersuchen", flüsterte die Ärztin verängstigt.
"Vielleicht hatten diese Kreaturen bemerkt, dass jemand fremdes sie beobachtete - vielleicht." Ich konnte beim besten Willen keine vernünftige Theorie zu diesem Phänomen aufstellen. Die Kreaturen waren verschwunden und damit auch alle Beweise. Ich hätte meine Videokamera mitnehmen sollen, um sie aufnehmen zu können. "Haben Sie die Kreaturen mal auf Video aufgenommen?"
"Wir haben es versucht, aber auf den Videos konnte man nie etwas erkennen."
"So ein Mist!" Ich sah mich noch einmal um, in der Hoffnung etwas zu entdecken. Aber da war nichts, gar nichts. So kehrte ich der Zelle den Rücken und fand mich nur einen Moment später auf dem Gang wieder. Die Ärztin verschloss die Zelle und wir schritten durch den Gang, vorbei an den Zellentüren, zurück zum Ausgang. "Was werden Sie jetzt unternehmen, Doktor Campbell, wenn ich fragen darf?"
"Sie dürfen!" Wir gingen ein Stück und ich überlegte dabei kurz. Dann blieb ich stehen. "Vielleicht werde ich eines Tages einmal eine kleine Horrorgeschichte darüber schreiben, sollte mich mal die schriftstellerische Ader packen, man weiß ja nie. Aber, so wie es im Moment aussieht, werde ich nur einen kurzen Bericht schreiben und diesen dann dem Senat zusenden. Sie werden vermutlich nie wieder von mir oder dem Senat hören und dieser Bericht wird irgendwo in irgendwelchen Archiven verschwinden. Es wir zumindest keine Ermittlung geben."
Ich löste mich von wir und lief schnellen Schrittes Richtung Ausgang, um diese finstere Brutstätte des Irrsinns schnellstmöglich verlassen zu können. Kurz bevor ich das Gebäude verließ, drehte ich mich aber noch einmal kurz zu der Ärztin um, die dort noch immer im Halbdunkel stand mit ihren Blicken meinen Schritten bis zur Tür gefolgt war.
"Ach ja, vergessen Sie nicht, alle Daten über diese Patienten, die in diesem Zimmer lagen, so bald wie möglich auszulöschen, sonst könnte es sein, dass Sie vielleicht noch unangenehmen Besuch bekommen. Nur ein kleiner Ratschlag von mir. Und: Lassen sie das Zimmer desinfizieren und neu belegen. Gute Nacht wünsche ich noch!" Ich verließ das Gebäude, stieg in mein Auto und fuhr in die Dunkelheit davon.

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