© der Geschichte: Florian Arnold. Nicht unerlaubt
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Glashaus

I.

"Komm schon. Da wird uns schon keiner sehen!" rufe ich und packe ihre Hand. Sie zögert.
"Was, wenn sie uns erwischen? Du weißt, daß wir das nicht dürfen!" sagte sie und ihre Stimme zittert. Ihr Gesicht ist plötzlich bleich, so hat sie Angst, und ihre zierliche Hand ist feucht.
"Ach, hab dich doch nicht so!" sage ich und lege etwas Verächtliches in den Klang. Wie kann man nur so eine Angst haben wegen etwas völlig Alltäglichem? Na gut, vielleicht nicht so alltäglich wie andere, alltäglichere Dinge - aber alltäglich genug, um nur ein absolutes Minimum an Angst haben zu müssen. Ich dränge sie: "Komm!"
Ihre Augen flackern unruhig: "Warum drängst Du mich so?", ruft sie vorwurfsvoll: "Wir können auch morgen noch dorthin gehen. Oder übermorgen. Das Haus wird nicht verschwinden! Warum suchst du nur immer so merkwürdige Plätze aus?"
Ich überhöre die Frage. Sie ist albern, vielleicht auch etwas unangenehm, wie auch immer. Ich antworte nicht darauf. Sie hat schon ein kleines bißchen Recht, ich habe eine gewisse Vorliebe für Orte, an denen die anderen Kinder nicht so gerne spielen.
Dunkle Dachböden.
Keller.
Oder der kleine Fichtenwald, eine halbe Stunde von unserem Haus entfernt. Selbst an hellen Sommertagen ist es dort merkwürdig dunkel und kühl. Nichts regt sich zwischen den hohen, alten Bäumen, selbst die Vögel wollen sich nicht hierher verirren. Eine seltsame Stille
beherrscht den kleinen Wald und vielleicht liebe ich ihn deshalb so. Noch so eine Macke von mir. Vielleicht hat sie Recht und ich bin nicht ganz normal. Aber ich mag Stille. Ob ihr das paßt oder nicht.
"Na los, jetzt hab’ dich nicht so!", sage ich nochmals und ziehe an ihrer Hand. Sie will nicht, entreißt sich. Sie rennt aber auch nicht weg. Sie steht nur unschlüssig herum.
"Was ist denn so toll an deinem Spukhaus?" beharrt sie zu wissen und wie immer, wenn sie nicht weiß, ob sie mitmachen oder es bleiben lassen soll, zuckt ihre linke Augenbraue und ihr Mund wird ganz klein. So wirkt sie irgendwie immer zickig. Und das regt mich auf.
"Du hast einfach keinen Sinn für so etwas, wirklich!", schnaube ich heftig und gehe zwei Schritte weiter: "Ich sage dir, das Haus habe ich noch nie gesehen, keiner hat es schon mal gesehen und ich gehe jetzt da rein, ob du jetzt mitkommst oder nicht, da ist mir ganz egal!"
Und ich gehe noch drei Schritte. Sie zögert. Sie verlegt ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Sie nagt an der Unterlippe und gibt sich alle Mühe, desinteressiert auszusehen, weil sie meint, daß mich das von meinem Vorhaben abbringen könnte. Wird es aber nicht. Da kennst sie mich schlecht.
Ich gehe noch drei Schritte: "Kommst du?"
Nicht, daß ich mich alleine fürchten würde. Ich brauche meine große Schwester nicht, um mich in das Spukhaus zu wagen, wirklich nicht. Aber es ist eben etwas lustiger zu zweit. Dann kann ich sie erschrecken und sagen: ‘Siehst du, ist gar nichts dabei, und du dachtest, es wäre schlimm!’ und dann wird sie wieder ganz beleidigt gucken, wie immer, wenn ich Recht hatte und sie Unrecht. Sie macht vier Schritte. Und noch zwei.
"Ich weiß nicht, wieso ich wieder mit dir mitkomme. Du bist ein Spinner!" bemerkt sie und trottet mißmutig hinterher. Weil sie weiß, daß ich sie an ihrer verwundbarsten Stelle gepackt habe: Neugier. Da mußte sie verlieren. Meine große Schwester ist nämlich furchtbar neugierig.
Alles muß sie wissen. Wenn man ihr sagt, daß sie neugierig ist, dann zieht sie nur eine Schnute und sagt, ‘Das stimmt nicht, gar nicht wahr’, aber es ist eben doch wahr, das weiß ich ganz genau.
So gehen wir eine ganze Weile, vielleicht eine Viertelstunde, ohne ein Wort zu reden. Ich
genieße meinen Triumph, und sie schmollt, weil sie sich hat überreden lassen. Sie läßt sich immer überreden, aber dann tut sie immer so, als sei es meine Schuld daß sie so neugierig ist.
Ich verstehe große Schwestern nicht.
Naja, aber Gott sei dank habe ich ja nur eine.
Wir nähern uns dem Wald. Bald sind wir da. Dann werde ich ihr das alte Haus zeigen, mit seinen vielen finsteren Ecken und Zimmern, den Möbeln, auf denen zentimeterdicker Staub liegt und Spinnennetzen, die älter sind als wir beide zusammen. Ich bin ganz aufgeregt und würde am liebsten rennen, um schneller da zu sein. Es gibt nichts spannenderes als ein altes, verlassenes Haus. Meine Schwester kann das nicht einsehen, aber ich werde sie schon noch überzeugen, ganz bestimmt, und mit dem alten Spukhaus im kleinen Fichtenwald ganz bestimmt.
"Das ist wirklich das letzte Mal, daß ich mitkomme auf eine deiner verrückten Touren!" sagt meine Schwester und klingt dabei nicht sehr endgültig. Sie wird nächstes Mal sicher wieder mitkommen, das weiß ich jetzt schon, aber ich sage es nicht, weil sie es sowieso abstreiten würde.
Dann erreichen wir das Fichtenwäldchen.
Es ist eigentlich ziemlich klein und ich dachte, ich hätte schon alle seine Ecken erkundet. Und deshalb war ich auch sehr erstaunt, als ich vorgestern plötzlich zum ersten Mal vor dem halb in sich zusammengesunkenen Spukhaus stand. Es schien sich an die alten, knorrigen Kiefern zu lehnen, als ob es sie wie einen Krückstock oder so etwas benutzt, ganz komisch sah das aus. Aber ich finde es sehr spannend. Davon erzähle ich meiner Schwester.
Sie hört kaum zu, gibt sich Mühe, weiterhin so auszusehen als ob sie schmollt. Ihr Gesicht soll sagen ‘Das ist das letzte Mal’, aber sie kriegt das doch nicht hin.
Sie fragt, wo das Haus denn liegt. "Ich war schon oft im Wäldchen und habe dort nie ein Haus gesehen! Bestimmt legst du mich rein!"
"Nein, tue ich nicht!" bemühe ich mich, sie zu überzeugen. „Und da ist wirklich ein Spukhaus, wart’s nur ab. Es ist auf der anderen Seite, dort, wo die krummen Kiefern stehen!"
"Die Kiefern sind häßlich!" sagt meine Schwester sofort. "Sie sehen so häßlich aus und so dürr!"
"Na und?" frage ich zurück. Was hat denn das damit zu tun? Wir stapfen durch das dunkle Wäldchen, in das sich - weil die Bäume so eng stehen - kaum ein Sonnenstrahl verirren kann. Immer wieder schlagen uns Äste ins Gesicht und wir können nicht rechtzeitig ausweichen."Mist!" schimpft meine Schwester.
"Scheiße!" rufe ich laut, weil es so weh tut wenn ein Ast mich schlägt.
Dann haben wir das andere Ende des Wäldchens schon erreicht. Es ist wirklich sehr klein, man ist in fünf Minuten durchgelaufen.
"Und wo bitte ist jetzt dein Haus?" fragt meine Schwester. Sie klingt ungeduldig. Die Hände stemmt sie in die Hüften und sieht mich an, bestimmt sagt sie gleich ‘ Und ich hatte Recht, du hast mich reingelegt!’. Den Spaß gönne ich ihr aber nicht.
"Na, komm schon!" sage ich und wir gehen noch ein kleines Stück weiter bis wir an der Stelle ankommen, wo die alten Kiefern stehen. Hier ist es wirklich unheimlich. Das Gras ist immer braun und ganz dünn und man hört nie einen Vogel oder ein anderes Geräusch hier.
Wir machen einige Schritte, dann...
"Siehst du?" rufe ich triumphierend, zeige auf die Stelle vor mir und renne voraus. Da ist die Haustür...
Sie öffnet sich!
Dieses Licht... Wo kommt es her?
Meine Schwester bleibt wie angewurzelt stehen. Ich sehe zurück und laufe langsamer. Ihre Augen sind schrecklich weit geöffnet.
Geh nicht dorthin! Lauf weg! Lauf weg! Lauf...!
Zitternd zeigt sie auf eine Stelle vor mir... Das hatte ich nicht erwartet. Irgendetwas wird jetzt anders. Mein Herz schlägt plötzlich bis zum Hals, ich bin unfähig, mich zu rühren. Es zieht mich an und ich kann nichts tun. Meine Schwester öffnet den Mund zu einem tonlosen Schrei.
Lauf doch weg!
Es ist totenstill.
Und ich renne.

II.

Die Mutter der verschwundenen Kinder saß mit glasigem Blick in der Küche.
Der Vater stand wortlos am Fenster. Die Hände hat er auf dem Rücken verschränkt. Er wirkt ganz ruhig. Nur daß die Knöchel an seinen Händen weiß hervortreten, weil er sie so fest inein-anderkrallt, zeugt von seiner inneren Verfassung. Ruhig fragt er Polizist erneut.
"Haben die Kinder irgend etwas gesagt, wo sie hingehen wollen?"
Die Mutter sieht ihn an, als bemerke sie ihn erst jetzt: "Ja... Ja, Jan hat noch was gesagt" kommt ihre Stimme leise wie aus weiter Ferne.
"Er wollte in das alte Haus im Fichtenwäldchen gehen..."
Sie schlägt entsetzt die Hände vors Gesicht. Der Polizist sieht sie ratlos an, dann zum Vater, er sich umgewendet hat.
"Es gibt kein altes Haus im Fichtenwäldchen. Gab es nie".
Seine Stimme klingt schrecklich ruhig.

III.

Kinder vermißt!

(dpa) In dem kleinen Ort Raine Falls/Maine werden seit gestern nachmittag zwei Kinder vermißt. Der elfjährige Jan und seine dreizehnjährige Schwester Anne wurden das letzte mal von einem Nachbarn gesehen, der die beiden Kinder in einen nahegelegenen Wald gehen sah. Die Polizei hat bisher keinerlei Anhaltspunkte für ein Verbrechen gefunden. Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeistation in ihrer Nähe entgegen



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