© der Geschichte: Jürgen Schmitz. Nicht unerlaubt
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Die Flucht

Metallischer Geschmack im Mund. "Hm... Nanu? Ist das Watte, was mich einwickelt?" Sie spürte, wie sich in Myriaden Turbulenzen überschlagender Dunst durch ihre Poren strömte. "Geh! Bitte geh!..." "Wie bitte...? War ich das? ...Schön warm, der Mantel..." Den hatte sie noch aus anderen Zeiten, von einem Freund aus einer ihr jetzt weit entfernten ...bedeutungslosen Erinnerung, die wohl die Welt war, aus der sie kam, bevor sie hier landete in diesem ....entkoppelten Zustand, "komischer Zustand, war noch nie hier, ...schön, ...so friedlich ...", "schnell!", "....und still... Was mache ich ...? Hier....?"
Regen, gnadenlos gleichmäßiger Regen ergoß sich auf ihr langes, dunkelblondes Haupthaar, ließ es in Strähnen aufquellen, Regen durchsetzte die kalte Nacht wie ein aus silbernen Fäden gesponnener Schleier. Gläserne Fäden vor ihrem Gesicht, um die sich ihr betäubter Atem zu winden schien. Ein Knacken, hinter ihr fiel mit lautem Knall die Tür zu, durch die sie vor nicht mal einer Minute in die verregnete Nacht hinausgetreten war, eine Minute, die ihr als zur Unendlichkeit gedehnte Sekunde vorkam, ein Knall, der die Traumblase, in der sie sich schon heimisch fühlte, von ihr abschüttelte und, einem Flaschengeist gleich, mit dem sprudelnden Abwasser im überzulaufen drohenden Gulli verschwinden ließ. Sie war draußen. Hinausgekotzt in eine Welt, die noch nicht war, erst langsam wurde. Blasse Erinnerungsfragmente schoben sich ächzend ineinander, um wieder entsetzt auseinander zu stieben, aber mit jedem Male wurde es besser, sie spürte es, es wurde besser, immer träger die Fliehkraft, es würde bestimmt bald alles besser werden, dachte sie. Ohne Zweifel, ohne Gewißheit, ein Gedanke bloß, der sich in den Reigen der Erinnerungsfetzen schob.
"Es ist Blut", stellte sie fest, "der metallische Geschmack, Blut", freute sie sich, freute sich, ...-´als würde des Frühlings zarte Sonne die ersten Knospen sprießen lassen´-..., ja sie lebte, daran war kein Zweifel. Ausgekotzt, ein Körpergefühl, das sie hätte vermuten lassen können, ihre Haut umschlösse einen viskosen Haufen frisch Erbrochenes, aber sie stand hier, stand hier und jetzt im kalten Novemberregen, und keiner konnte ihr das nehmen. Regentropfen perlten über ihre Stirn, spülten die beruhigende Gewißheit ihrer Befreiung weg. "Ich...muß..." Koordinatenlinien woben sich durch die klare Unmittelbarkeit ihrer Leibhaftigkeit, aus den Tiefen ihres Verstandes gespiehene Parameter verklumpten zu Tatsachen, zur Tatsache von Ursache und Wirkung, sie mußte weg!
"Ich muß gehen...", dachte sie, "weggehen, weg von diesem Ort." Fieberhaft flatterten Möglichkeiten, Fluchtstrategien, potentielle Anlaufstellen an ihrem geistigen Auge vorbei. Sie merkte gar nicht, wie sie sich dabei schwerfällig, aber doch hastig in Bewegung setzte, wankte, durch den nun nur noch schwachen Nieselregen die nächste backsteinerne Straßenecke anvisierend. Wie in Zeitlupe spürte sie den Absatz ihres linken Stöckelschuhs brechen, sah, wie ihre Hände, während sie wie getrieben weitertorkelte, erst den rechten, dann den linken Schuh vom Fuß abstreiften und dem Asphalt überließen. Sie bog um die Ecke. Um die Ecke. Hatte sie ein Geräusch gehört? Ein Bellen, ein in die Schwärze der Nacht hinausgebelltes Fluchen, oder war's bloß der Nachhall ihrer Panik? Schuldgefühle erfaßten sie, als hätte sie ...Böses getan... "Böse!" Schuldgefühle wanden sich um das plötzlich wieder lebendige Kind, das sie nicht, nie mehr sein wollte... "Hat Daddy dir nicht gesagt, du .... hat... Daddy dir nicht gesagt, du sollst nicht....nicht...." Krämpfe schüttelten ihre geschundene Seele. "..Wie oft? Claire?? Wie oft hab ich dir schon...schon..." Stimmen! Jetzt war es deutlich zu hören. Zwei Stimmen, die sich abhoben vom Hintergrundrauschen ihrer kindlichen Furcht, ihrer Panik. Jetzt. "Lauf", schrie sie in sich hinein, in das Vakuum, das sich vor ihr auftat. "Lauf!!" Schritte, das Klappern eines Butterflys, todbringendes Klappern, aber es war die häßliche Fratze ihrer Alpträume, die die eisige Schwärze der Nacht durchbrach wie ein Preßlufthammer, die sie erfaßte, jedes Gefühl lähmte, jeden Gedanken erstickte, sie erfaßte wie eine Orkanböe, sie laufen ließ, ihren Körper hob, ihn packte, trug, verschleppte ins Vorne, nach vorne zerrte, "lauf!", nein, sie wollte, konnte nicht mehr bleiben, stehenbleiben. Wie in Trance, als schaute sie durch das beschlagene Fenster eines Zugabteils, glitten Fassaden an ihr vorbei. Rostrote Backsteinmauern, endlose Reihen von verstaubten, teils eingeschlagenen Fabrikhallenfenstern, dann: offenes Gelände. Sie spürte den giftig gelben Lehmboden unter ihren Füßen, spürte, wie er nachgab, wie er danach schmachtete, sie zu verschlucken, in sich zu nehmen, wie seine Präsenz sich schleimig um ihre Waden legte. Kleine und größere Müllberge quollen aus ihm hervor wie unverdaulicher Auswurf. Etwas Kaltes legte sich erst zaghaft, dann bestimmter um ihren nackten Fußknöchel. Grauen erfaßt sie, grub sich wie ein Eispickel in ihr Innerstes, "was ,was ist ...", sie blickte an sich herab, sah eine schwarze, mit glatter, glänzender Haut überzogene Hand ihren Fuß packen, "was....", sie stürzte, fiel auf Asphalt.

Dunkelheit. Stille.
Kein Raum. Keine Zeit.
"Wo bin ich?"
Ewigkeit.

Als sie die Augen öffnete, drangen schon die ersten Strahlen einer kalten Novembersonne am Horizont durch den blassen Morgenhimmel. Langsam hob sie den Kopf, spürte das Knirschen von Sand zwischen ihren Zähnen, wand sich aus ihrer Steifheit, spürte die weichende Taubheit, den Schmerz in ihren Knochen.
Zeit verging....

Endlos zog sich die hügelige, karge Graslandschaft jenseits der Schnellstraße, an deren Rand sie zusammengekauert die Nacht verbracht hatte, gen Horizont. Verirrte schmutzig-graue Plastikfolien wiegten sich im gleichmäßig an-und abschwellenden Wind, als wollten sie ihr, der gleichsam verirrt wie Verwirrten, Gesellschaft leisten. Den Blick schwerfällig von ihren lehmverkrusteten, zerschundenen Füßen hebend , den Sand aus ihren Augen reibend, nahm sie allmählich ihre Umgebung wahr, traten zögernd verschwommene Umrisse in Erscheinung, Umrisse von Gebäuden, entfernten Gebäuden, eingebettet in eine triste, ausgelaugte mit Unrat und vereinzelter, ausgedörrter Vegetation gespickte Lehmwüste. Subtile Strömungen verschwommener Erinnerungen machten schlagartig einer Gewißheit Platz. Sie war geflohen, letzte Nacht. Es war das Industriegebiet, das sie durchquert hatte. Ekel stieg in ihr auf, kroch widerstrebend aus ihrer Lendengegend hervor, "nein...", Schmerz und ohnmächtige Wut, sich in Raserei steigernder Haß,.... "wie lange war ich ...dort...", Demütigung.... "nein, vergessen, ...alles vergessen..." ...Verlust... "Steh auf! Steh auf..." Verkrusteter Lehm bröckelte vom zerschlissenen Trenchcoat. "Der Straße folgen... gehen, vergessen..." ...Der Straße folgend, ging sie.

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