© der Geschichte: Matthias Weidemann. Nicht unerlaubt
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Der Brei

Der kleine Junge hatte es als erster gesehen. Er blieb auf dem Bürgersteig stehen und starrte mit offenem Mund nach oben.
Es dauerte nicht lange, da hatte sich auf dem belebten Bürgersteig eine Menschentraube um den Jungen herum gebildet, die es ihm gleich tat und nach oben glotzte. Und die Neugier der Schaulustigen wurde befriedigt.
Aus einem der obersten Fenster des Hochhauses quoll etwas wie eine graue Blase hervor. Der gläserne Riese mit den überdimensionalen Satellitenschüsseln auf dem Dach ragte vor den Menschen auf wie ein glänzender, zum Kampf gerüsteter Ritter. Der Junge war darauf aufmerksam geworden, als etwas zu seinen Füßen geklirrt hatte. Er hatte sich gebückt und in seiner Hand eine Glasscherbe gehalten, die träge in der klebrigen Nachmittagssonne des heißen Spätsommers funkelte. Offenbar hatte jene undefinierbare Masse da oben das Fenster nach außen gedrückt und zum Bersten gebracht. Wie durch ein Wunder war niemand von den herab fallenden Scherben getroffen worden. Aber damit war das Kontingent an wohltätigen Wundern erst einmal erschöpft. Und zwar für, sagen wir mal, eine beträchtliche Weile. Unter den Menschen, die vom Gehweg aus hinauf starrten, machte sich eine gewisse, füßescharrende Unruhe breit, begleitet von einer Art ungläubigem Staunen.
Jetzt erscholl ein helles Knallen von weit oben herab. Schon im nächsten Augenblick materialisierten sich glitzernde Libellenflügel in luftiger Höhe. Wie aus dem Nichts begannen sie einen taumelnd, irisierenden Flug, glitzernd, gleißend im heißen Sonnenlicht. Ein weiteres Fenster war geborsten. Fast bedächtig, schien es, segelten die scharfen Boten nahenden Ungemachs in Richtung der staunend geöffneten Münder. Jetzt endlich kam Bewegung in die Masse.
Schubsen, Drängeln, scharrende Füße, aber immer noch kein Laut drang über die Lippen der Flüchtenden. Ein glitzernder Regen prasselte herab, ergoß sich auf die jetzt rennenden Menschen. Fast gleichzeitig mit dem Klirren des Glases auf dem heißen Asphalt durchschnitten die ersten Schreie die Luft. Fast atemlos, hoch, spitz, nur unterbrochen von dem Bersten der Scheiben.
Eine nach der anderen gaben die Fensterflächen dem Drängen der grauen Masse nach, die sich aus dem Inneren des Hauses nach draußen schob. Langsam, stetig und zäh, mit einer gewissen Arroganz und gänzlich unbeeindruckt von den zutiefst verwirrten Menschen, die nun in Panik aus ihren Häusern auf die Straßen gelaufen kamen.

Spät abends war der Junge zu einen besorgten Eltern heim gekehrt. Ihr Haus war eines von vielen ähnlichen in einem kleinen Vorort der Stadt. Viele Stunden war er durch die teilweise gesperrten Straßen geirrt, bis er es endlich geschafft hatte. In der Stadt war der gesamte Verkehr zum Erliegen gekommen. Die Straßen quollen inzwischen über von jenem seltsamen, grauen Brei. Häuser waren auseinander gebrochen, Menschen von den zähen Massen erdrückt worden. Von überall her war das Bersten von Glas zu hören, gefolgt von jenem unheimlichen Sirren der zerbrochenen Scheiben, die aus großer Höhe hinab fielen. Dunkle Rauchwolken türmten sich über der Stadt auf wie riesige Pilze, dumpfes Donnern und ein gelegentliches Aufflackern, das die Silhouette der Stadt für Bruchteile von Sekunden sehen ließ, zeugte von explodierten Gasleitungen. Doch schien der Prozeß nicht schnell vonstatten zu gehen, eher gemächlich, wie ein träger, sich dahin wälzender Strom aus langsam erstarrender Lava. Je weiter der Junge sich aus der Stadt heraus bewegt hatte, um so geringer waren die Zerstörungen, die er um sich herum sah. Doch hatte er hinter sich gespürt, wie es ihm folgte. Unbeirrbar.
Jetzt saß er mit seinen Eltern am Küchentisch, die ungläubig seine Geschichte hörten, während in der Ferne Sirenen heulten und dumpfe Detonationen das Geschirr im Schrank leise klirren ließen. Sein Vater fuhr ihm tröstend durch die Haare, die Mutter nahm ihn in die Arme. Der Junge löste sich aus der Umarmung und ging zum Fernsehgerät. Er nahm die Fernbedienung und schaltete es ein. Die Mattscheibe zeigte nichts, außer einem elektronischen Schneegestöber. Aus den Lautsprechern drang atmosphärisches Rauschen.
Die Eltern schickten den Jungen zu Bett, trösteten ihn, daß schon alles gut werde, sagten sie, er sich keine Sorgen machen solle. Es war schon spät geworden und die Nacht war hereingebrochen. Der Junge sah oben aus seinem Fenster. Wo sonst die Lichter der Stadt funkelten, herrschte nun Dunkelheit. Hier und da gewahrte er den rötlichen Schein eines Feuers. Er schlich sich auf Zehenspitzen in den Flur, so wie er es jeden Abend tat, um noch etwas vom Fernsehprogramm zu erhaschen, dass seine Eltern Abend für Abend ansahen. Vom Wohnzimmer unten drang der Schein von Kerzen herauf. Der Strom war auch hier ausgefallen. Er hörte wie der Vater mit seinem Batterie betriebenen Radio versuchte, einen Sender einzufangen. Schließlich drang durch das Rauschen und Fiepen des Äthers die verzerrte Stimme eines Nachrichtensprechers. Wie es schien, war es Regierungstruppen gelungen, den Ursprung jener seltsamen Erscheinung zu lokalisieren. Alles hatte seinen Anfang in einer riesigen TV-Sendestation genommen. Wie der Sprecher mitteilte, hatte sich dasselbe Phänomen auch in anderen Erdteilen zeitgleich abgespielt. Und überall waren große TV-Sendestationen der Ursprungsort. Die Experten standen offensichtlich vor einem Rätsel, wußten nicht, mit was sie es zu tun hatten. Die Regierung hatte den Ausnahmezustand ausgerufen. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, in ihren Häusern zu bleiben und weitere Maßnahmen abzuwarten. Dann hörte man wieder nur Rauschen.
Der Junge ging zurück in sein Zimmer und legte sich ins Bett. Irgendwann in der Nacht weckte ihn ein helles Knallen, das vom Dach zu kommen schien, wo die Satellitenschüssel für das TV-Gerät angebracht war. Kurz darauf hörte er vom Speicher ein durchdringendes Knirschen und wie draußen im Hof etwas klirrend auf dem Pflaster aufschlug.

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