© der Geschichte: Alexander Amberg. Nicht unerlaubt
vervielfältigen oder anderswo veröffentlichen. Alle Rechte
dieses Werkes liegen bei dem Autor. Diesen Disclaimer bitte
nicht entfernen


Der Berg ruft

Mir sind schon einige seltsame Geschichten passiert. Das bleibt nicht aus in meinem Beruf, und auch mit Achim Bergers Tod befaßte ich mich aus reiner Routine. Ich unterhielt mich mit dem Mann, der ihn bei seiner Bergtour begleitet hatte, Karl Fichtel, und im Gegensatz zu den Angaben, die die Männer von der Bergwacht machten, bestand er darauf, daß es Mord war - oder zumindest etwas, was dem sehr nahe kommt. Aber die Verfassung des Mannes war schlecht, und der behandelnde Arzt versicherte mir, daß er phantasiere.
Als ich mich nach meiner Scheidung aus der Großstadt in diesen idyllischen Ort versetzen ließ, stellte ich mir alles viel ruhiger vor. Natürlich kannte ich die Statistiken, und ich wußte, daß in jedem Sommer mindestens ein Dutzend Touristen ums Leben kamen:
Wetterstürze, Lawinen, Herzinfarkte, maßlose Selbstüberschätzung in einer feindlichen Natur. Neuerdings ertranken sie gleich zuhauf beim Rafting. Jeder dieser Unfälle wurde eingehend untersucht, und für jeden wurde bislang eine einleuchtende Erklärung gefunden. Die Leute im Dorf sagen allerdings nur: "Der Berg hat sich wieder einen geholt."
Die Aussage, die Karl Fichtel machte, gehört in diese Kategorie. In meinem Abschlußbericht wird stehen, daß es ein Unfall war, mehr nicht. Aber Fichtel erzählte mir eine andere Geschichte. Das ist sie:
"Wir stiegen auf über viertausend Meter auf. Ich war noch nie so hoch oben gewesen; aber Achim hatte nicht übertrieben. Der Anblick lohnte tatsächlich jede Mühe. Es ist, als würde man ein verwunschenes Märchenland betreten, ringsum nichts als schneebedeckte Gipfel so weit das Auge reicht, und vor einem die kristallklare Eislandschaft, in der sich der Himmel spiegelt. Achim hatte mich gewarnt, daß der Gletscher gefährlich sei. Die blauen Linien, die die weiße Fläche durchzogen, waren Rinnsale, die unter dem Eis dahinrieselten, oder schlimmer noch: Gletscherspalten. Wir sicherten uns gegenseitig, denn wer da abstürzt, ist unweigerlich verloren. Allein hätte ich diese Tour niemals gewagt; aber mit Achim war das kein Problem. Er kannte sich aus wie kein anderer und hatte auch schon eine Reihe ausgedehnter Touren im Himalaya hinter sich. Einmal habe ich ihn gefragt, warum er denn die ganzen Strapazen auf sich nähme. Er lächelte nur und sagte: 'Der Berg ruft mich.' Und ich glaube, das hat er getan. Der Berg hat ihn gerufen.
Wer nicht da oben war, hat keine Vorstellung davon, wie herrlich eine Landschaft sein kann. Aber schließlich machten wir uns doch an den Abstieg. Trotzdem der Weg sehr steil und beschwerlich war und wir Seil und Steigeisen brauchten, kamen wir gut voran. Das letzte Stück bis zur Baumgrenze war sogar ein richtiger Pfad, und wir hatten die ersten Bäume fast erreicht, als es sich eintrübte. Achim machte ein besorgtes Gesicht. Der Wetterbericht hätte zwar nicht besser ausfallen können, aber plötzliche Witterungsumschwünge sind im Gebirge keine Seltenheit. Er trieb mich zu größerer Eile an, und obwohl ich nicht gerade ein Hochleistungssportler bin und meine Füße mittlerweile höllisch weh taten und der Rucksack entsetzlich drückte, hatte ich keine Lust, mich so hoch oben von einem Unwetter überraschen zu lassen. Als Nebel aufkam, schlug er vor, das Zelt aufzubauen. Aber wir waren ein gutes Stück vorangekommen, seit wir die Bäume erreicht hatten, und ich dachte, den Rest würden wir auch noch schaffen. Achim wollte zwar auf Nummer sicher gehen; aber schließlich habe ich ihn doch überredet, unseren Weg fortzusetzen. Ich konnte ja nicht ahnen, daß das passieren würde."
Er schlug die Hände vors Gesicht und seine Stimme schwankte ein bißchen. Aber er fing sich wieder und erzählte ruhig weiter. Nachdem sie die Baumgrenze passiert hatten, fiel der Abstieg immer leichter. Vernünftig wäre es gewesen, auf Achim Bergers Rat zu hören, als es neblig wurde. Aber bei dem Tempo, das die beiden vorlegten, hätten sie keine zwei Stunden mehr bis zum Dorf gebraucht. Dadurch ließ Berger sich wohl täuschen und handelte wider besseres Wissen. Statt ein Lager aufzuschlagen, ging er weiter. Nach dem, was Fichtel mir erzählte, wurde es immer diesiger und die Gewitterwolken immer dichter. Fichtel stolperte hinter Berger her, vorbei an knorrigen Baumriesen, die ihre Äste nach ihm ausstreckten, so als wollten sie ihn zurückhalten; und als der Nebel aufkam, erschien ihm die Gegend immer unheimlicher.
"Eine richtige Suppe," sagte Fichtel, "man konnte die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Es ging eine Weile gut, bis ich über einen Stein stolperte. Achim fing mich auf, sonst wäre ich der Länge nach hingeschlagen. Als ich in sein Gesicht sah, fand ich bestätigt, was ich schon seit einer Weile befürchtet hatte; denn auf dem Weg, den wir zum Dorf nehmen wollten, lagen keine Steine, über die man stolpern konnte. 'Wir haben den Weg verloren,' sagte Achim zu mir. In diesem Augenblick brach mit einem Donnerschlag ein Regen los, wie ich ihn noch nicht erlebt habe. Es prasselte nur so auf uns herunter und innerhalb von Sekunden waren wir tropfnaß. Das Beste wäre jetzt wohl gewesen, ein Lager aufzuschlagen, wie Achim geraten hatte. Aber dann kam dieser Bauer."
"Was für ein Bauer?" fragte ich.
"Nun ja, Achim fluchte vor sich hin und meinte, für ein trockenes Plätzchen würde er jetzt sogar seine Seele verkaufen, und da stand er plötzlich vor uns. Er war einfach da, als wäre er aus dem Boden gewachsen."
Es mußte ein ziemlich häßlicher Bursche gewesen sein, aber er war keineswegs aus dem Boden gewachsen. Der Mann suchte eine Kuh, die sich verlaufen hatte, und der Nebel mußte ihn vor den Augen der beiden Bergwanderer verborgen haben. Sie hatten Mühe, den Dialekt zu verstehen, den er mühsam radebrechte. Wahrscheinlich war seine Muttersprache Rätoromanisch, das hier in einigen Tälern gesprochen wird. Berger und Fichtel verstanden jedenfalls soviel, daß er sie aufforderte mitzukommen, und obwohl es klüger gewesen wäre, es nicht zu tun, entschieden sie sich angesichts der Situation, in der sie sich befanden, dafür, ihm zu folgen. Er führte sie bergan durch den prasselnden Regen, und Fichtel wunderte sich, wie der Fremde bei diesen Sichtverhältnissen überhaupt seinen Weg finden konnte. Aber er bewegte sich behende wie eine Gemse, während Fichtel und Berger sich anstrengen mußten, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, obwohl sie dicht hinter ihm gingen. Achim Berger versuchte mehrmals, ein Gespräch zu beginnen, aber der Fremde grunzte nur etwas Unverständliches vor sich hin, so daß sie weder wußten, wer er war, noch wohin er sie führte.
Nach einer Weile ließ der Regen etwas nach, und als sie auf eine Lichtung kamen, bemerkte Fichtel, daß nicht weit entfernt ein Licht brannte. Darauf hielt der Fremde zu, ohne sich ein einziges Mal danach umzusehen, ob seine Begleiter ihm auch folgten. Im Näherkommen sah Fichtel, daß es sich um ein Feuer handelte, das vor einer aus rohen Steinen erricheten Sennhütte brannte. Als sie in den einzigen Raum der Behausung traten, begrüßte sie eine uralte Vettel mit einem zahnlosen Grinsen. Sie war genauso zerlumpt wie ihr Mann, und was sie sagte, war womöglich noch schwerer zu verstehen. Mit einer schweren Schöpfkelle rührte sie in einem undefinierbaren Sud, der in einem riesigen kupfernen Kessel kochte.
Berger und Fichtel kramten in ihren Rucksäcken nach trockenen Sachen, und als das seltsame Paar sah, was die beiden vorhatten, ließen sie sie für einen Moment allein. "Ich wußte gar nicht, daß es hier eine Hütte gibt," meinte Berger verwundert. Aber Fichtel zuckte nur die Achseln. Die Topographie und ihre Besonderheiten waren ihm mittlerweile einerlei. Ihm genügte, daß es hier trocken und warm war, und auch wenn die Nacht nicht allzu bequem zu werden versprach, würde sie doch bald vorüber sein.
Nachdem die beiden sich umgezogen hatten, erschienen der Schrat und seine Frau wieder. Erst jetzt stellte Fichtel fest, wie häßlich die beiden waren. Die Vettel hatte unglaubliche Glubschaugen, die ihrem Aussehen etwas Fischartiges verliehen. Wo bei ihr lediglich ein rosaschimmernder Gaumen zu sehen war, wenn sie vor sich hin plapperte, blitzte bei ihm eine Reihe nadelspitzer Zähne, wenn er den Mund öffnete. Die muskulösen Unterarme des Schrats ragten aus einer schäbigen Filzjacke und waren über und über behaart. Die ganze gedrungene Gestalt strahlte hier, in der Nähe des Feuers, eine Aura mühsam unterdrückter Gewalt aus, aber am meisten alarmierte Fichtel das bösartige Funkeln in den Augen des Fremden, die fast nur aus der Pupille zu bestehen schienen. Es war ungefähr zu diesem Zeitpunkt, als Fichtel sich trotz seiner Müdigkeit vornahm, in dieser Nacht lieber kein Auge zuzutun.
Der Schrat bedeutete seinen Gästen, an dem rohgezimmerten Tisch Platz zu nehmen. Fichtel drehte es bald den Magen um, als er sah, wie die Vettel die Schöpfkelle in den Kupferkessel tunkte und Bergers Teller mit einer dicklich-braunen Brühe füllte. "Nein danke, ich bin Diabetiker," lehnte er ab, was ihm einen bösen Blick seines Gastgebers einbrachte. Berger zögerte, aber die Augen des unheimlichen Paares hingen wie gebannt an ihm. Um den Fauxpas seines Begleiters auszugleichen, schluckte er mit Todesverachtung den ersten Löffel der dampfenden Brühe. Sofort machten der Schrat und seine Frau sich schmatzend und schlürfend über ihre Teller her. Fichtel war erstaunt zu sehen, daß Berger Anzeichen sichtlichen Wohlbehagens von sich gab, und aus dem Augenwinkel registrierte er das befriedigte Grinsen, das um die Lippen seines Gastgebers spielte.
"Das war gut," sagte Berger nach dem Essen, und die Köchin lächelte verschämt. Der Schrat erhob sich und machte sich an einer Truhe zu schaffen. Wie aus dem Nichts hielt er plötzlich eine Flasche Enzian in der Hand. Er verteilte Gläser auf dem Tisch und schenkte reihum ein. Als Fichtel "Nein danke!" sagte, warf Berger ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Der Schrat knurrte etwas vor sich hin, sagte aber nichts weiter. Er prostete Berger zu, Berger hob sein Glas, und sie tranken. Die Alte hielt mit, der Enzian kreiste, und bald entwickelte sich ein angeregtes Gespräch. Berger sagte irgend etwas, dabei merkte Fichtel seiner Zunge an, daß sie schwer wurde. Die Alte nuschelte und brabbelte vor sich hin, und der Schrat knurrte in seinen Bart. Daß er, trotzdem er angestrengt zuhörte, nur Satzfetzen mitbekam, schob Fichtel auf seine Müdigkeit. Er konnte Bergers Ausgelassenheit nicht verstehen, und als es ihm zu bunt wurde, ging er vor die Tür und setzte sich auf eine Bank, die in die Wand eingelassen war. Er vertrieb sich die Zeit damit, ins Feuer zu sehen, und wahrscheinlich döste er dabei ein. Jedenfalls schreckte er hoch, als sich jemand neben ihn setzte. Es war der Schrat.
Fichtel rückte ein Stück, um ihm Platz zu machen, sagte aber keinen Ton. Der Fremde ebenfalls nicht. Nach einer Weile stand er auf, ging zu einem Stapel Holz, den Fichtel bislang gar nicht bemerkt hatte, nahm ein armdickes Scheit, brach es über dem Knie entzwei und legte es aufs Feuer. Sofort leckten die Flammen gierig daran und brannten höher. Mit den Augen bedeutete der Fremde seinem Gast, es ihm gleichzutun. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus schüttelte Fichtel nur den Kopf und gähnte. Der Fremde zuckte die Achseln und verschwand wieder in der Hütte.
Von drinnen hörte Fichtel Bergers Stimme. Er erzählte von seinen Bergtouren im Himalaya. Die beiden schienen ihm interessiert zuzuhören, als er sie in die Geheimnisse der Geisterwelt Nepals einweihte. "Isch dös woahr?" fragte der Schrat mit erregter Stimme, und Berger lallte eine Antwort. Er war eindeutig betrunken. Als der Morgen bereits graute, hörte Fichtel Schritte. Der Schrat erschien in der Tür, sah auf das Feuer, das zu einem kläglichen Rest heruntergebrannt war und warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. Verschwörerisch legte er ihm den Arm um die Schulter und zeigte mit der freien Hand lächelnd auf den Holzstoß. Dabei entblößte er eine Reihe nadelspitzer Zähne. Er sah Fichtel tief in die Augen, stand auf, ging zu dem Stapel, zerbrach einen Ast über dem Knie, schürte damit das Feuer, bis die Flammen hell aufloderten, und legte ein weiteres Scheit nach. Er bedeutete Fichtel, das Gleiche zu tun. Aber wieder hatte Fichtel das unbestimmte Gefühl, es sei besser, sich überhaupt nicht zu bewegen, vielleicht sogar zu frieren, als das zu tun, was der andere von ihm verlangte.
"Brrr, ist das eine Kälte," meldete sich eine Stimme. Sie gehörte Berger. Anscheinend hatte er seinen Rausch ausgeschlafen. Seine Augen waren noch immer glasig, aber er schien nicht mehr betrunken. Er trat ans Feuer und rieb sich die Hände.
"Tu' ihm doch den Gefallen," sagte er. "Es ist ganz schön kalt."
Hinter einer Bergspitze brachen im Osten die ersten Sonnenstrahlen hervor. Fichtel sah, wie der Schrat einen besorgten Blick in diese Richtung warf, dann erwartungsvoll Berger ansah. Lauernd. Berger ging zu dem Holzstoß und nahm einen trockenen Ast. Fichtel wollte etwas sagen, um ihn zurückzuhalten. Berger zerbrach das Holz über dem Knie und ...
... schrie gellend auf, als er abstürzte. Aus aufgerissenen Augen sah Fichtel, wie Berger schreiend in einem Abgrund verschwand. Er selbst saß auf einer Felskante direkt am Rand einer einhundertfünfzig Meter tiefen Schlucht. Das Feuer war verschwunden, der Schrat und die Hütte ebenfalls. Die Sonne ging auf, und noch immer saß Fichtel auf seiner Felskante, ohne sich zu rühren. Stunden später fanden ihn ein paar Wanderer und brachten ihn ins Tal. Zwei Tage später barg ein Hubschrauber der Bergwacht Bergers zerschmetterten Leichnam. Die Obduktion ergab tatsächlich, daß er vor seinem Tod Alkohol getrunken hatte. Aber man mußte kein Hellseher sein, um herauszufinden, daß der Flachmann in seinem Rucksack leer war.

"So war es," sagte Fichtel, als er geendet hatte, "und hätte ich auf den Fremden gehört, würde ich jetzt auch da unten liegen."
Wir schwiegen beide - recht lange, glaube ich. "Sie trifft keine Schuld," versuchte ich ihn zu beruhigen. "Wetterumschwünge sind keine Seltenheit im Gebirge, das haben Sie selbst gesagt. Sie waren extremen Minusgraden ausgesetzt und Sie können von Glück sagen, daß Sie an Ihrer Felskante - im übertragenen Sinn - festgefroren waren. Ihr Freund war ein erfahrener Bergsteiger. Es tut mir leid um ihn. Aber, wie die Sache aussieht, ist er ausgerutscht und abgestürzt. Das ist kein Fall für die Polizei. Ein bedauernswerter Unfall, mehr nicht."
Das stand auch in meinem abschließenden Bericht: ein Bergunfall, mehr nicht.

zurück