© der Geschichte: Thomas Otto. Nicht unerlaubt
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Mein Freund im Spiegel

I Welt im Spiegel

Der Kleinbus mit den Journalisten an Bord passierte ohne Kontrolle die Einfahrt zum Niels Bohr Institut für Quantenphysik.
Dem Pförtner, der im kleinen Wachgebäude saß, war bereits vorher angekündigt worden, daß eine Abteilung von Reportern das Werksgelände betreten würde. Das Presseschild an der Windschutzscheibe hatte dem Pförtner genügt, um die ohnehin ziemlich lauen Sicherheitskontrollen erst gar nicht anzuwenden. Zu bewachen gab es im Forschungszentrum sowieso nicht viel. Da es eine staatliche Einrichtung war, waren alle Forschungsergebnisse frei zugänglich. Im Großen und Ganzen paßte der Pförtner nur darauf auf, daß niemand das Gelände des Forschungsinstituts als Parkplatz benutzte. Als der Bus die Einfahrt passiert hatte, widmete sich der Pförtner wieder seiner Zeitung.

Das Niels Bohr Institut für Quantenphysik war ein recht großes Gelände. Die verschiedenen Abteilungen mit den dazugehörigen Gebäuden und Forschungseinrichtungen erstreckten sich immerhin auf die Ausmaße eines kleinen Dorfes.
Beschleunigerphysik war schon immer eine recht kostspielige und auch große Angelegenheit gewesen. Das Elektronensynchrotron des Instituts hatte einen Durchmesser von beinahe drei Kilometern. Aber der Kleinbus passierte die Gebäude, wo die Meßstationen des Teilchenbeschleunigers untergebracht waren, ohne Interesse. Als der Wagen am Ende des Geländes ankam, hielt er schließlich. Die Seitentür des Kleinbusses öffnete sich und drei Männer stiegen aus. Mißmutig schauten sie um sich. Der Chefredakteur der Zeitschrift "ESOTERIKA" hatte sie hierhergeschickt. Jan Brehme, der Reporter von den dreien, verstand diese Entscheidung nicht.
Wer interessierte sich schon für Quantenphysik wer wußte überhaupt, was das Ganze überhaupt ist? Der Bericht würde ein Reinfall werden, davon war er überzeugt. Der Reporter, der Fotograf und der Fahrer des Kleinbusses, gingen auf den recht kleinen Flachbau zu, vor dem sie geparkt hatten. Die Glastür des Gebäudes öffnete sich und ein Mann trat auf die Journalisten zu.
Der Mann war leger gekleidet. Er trug eine alte, verwaschene Jeans und dazu einen etwas zu weiten Pullover. Jan Brehme kannte solche Typen. Das hier war ein geborener Wissenschaftler.
Nun, gut..., sagte er sich und trat mit einem Lächeln auf den Mann zu. Dieser lächelte ebenfalls und fragte:
"Sie sind von der Esoterikzeitschrift?".
Brehme nickte und der Mann fuhr fort: "Ich bin Christian Schmid, der Forschungsassistent des Spiegelprojekts. Kommen sie mit ins Gebäude. Der Projektleiter, Alain Prospect, wird ihnen alle Fragen beantworten.". Der Assistent wartete nicht lange und trat wieder durch die Glastür. Die Reporter folgten ihm. Sie gingen an das Ende eines kleinen Flurs und traten durch eine Stahltür. Jan Brehme haßte solche Zweckbauten. Die Neonröhren an der Decke, die weißgestrichenen Wände, der gekachelte Boden und die schweren Türen erinnerten ihn an seine alte Schule.
Dennoch war er gespannt, was er hier erfahren würde. Sein Chefredakteur hatte ihm nicht viel über das "Projekt Spiegel" mitgeteilt, er sollte alles vor Ort erfahren.

Die Stahltür führte in einen Raum von etwa dreißig Quadratmetern Größe. Auch hier waren Metallplatten und Neonröhren an der Decke. Die Wände waren eintönig weiß gefärbt. An der Rückwand befand sich eine Tafel und ein Tageslichtprojektor. An der rechten Wand befand sich der Aufbau des Experiments.
Jan Brehmes Gesicht wurde lang. Ein mannshoher Spiegel war an die Wand gehängt worden. Etwa einen Meter vor dem Spiegel waren auf einem Holztisch mehrere Geräte aufgebaut, deren Bedeutung der Reporter nicht ersinnen konnte. Vor dem Spiegel stand ein Mann im weißen Kittel, anscheinend Alain Prospect, der Projektleiter. Als er die kleine Gruppe bemerkte drehte er sich um und begrüßte die Journalisten freundlich.
Der französiche Akzent war Prospect zwar noch anzumerken, ansonsten sprach er fehlerloses Deutsch. Er bemerkte wohl, daß die Journalisten keinen begeisterten Eindruck machten. Der Fotograf machte ein paar Aufnahmen von der Apparatur, doch es schien nur ein natürlicher Reflex zu sein. Irgendetwas mußte er wohl fotografieren. "Nun, Herr Prospect,", sprach Jan Brehme, "wir kommen von einer Zeitschrift, die sich eigentlich mit Grenzwissenschaften befaßt. Bermuda Dreieck, die Pyramiden, Astrologie.... sie wissen schon. Was können sie unseren Lesern also bieten?". Prospect lächelte. "Diese Frage habe ich erwartet. Ich habe zufällig den Chefredakteur ihrer Zeitschrift getroffen und ihm einige grundlegende Dinge über mein Experiment erzählt. Ich brauche Publicity. Geld, um es genauer zu sagen. Meine Kollegen halten nicht viel von meinem Projekt, ich hoffe, daß der Bericht in ihrer Zeitung einige Leute interessieren wird...".
Das hättest du wohl gerne..., dachte Jan Brehme. Wo war er bloß hingeraten? Warum hatte man gerade ihn mit so einer Seifenblasenstory beauftragt? Aber es ließ sich wohl nicht ändern.
"Was ist nun der Sinn ihres Spiegelprojekts?", fragte Brehme. "Um ehrlich zu sein: diese Geräte hier machen keinen beeindruckenden Eindruck auf mich.".
"Lassen sie mich erklären:", erwiderte Alain Prospect, "Verstehen sie etwas von Quantenphysik?". Brehme schüttelte den Kopf.
"Gut,", fuhr Prospect fort, "ich habe nichts anderes erwartet. Ich will Ihnen kurz das allerwichtigste schildern: Es gibt in der Quantenphysik den Begriff der Unschärfe. Er bedeutet vereinfacht ausgedrückt, daß ein Teilchen nicht über exakt definierte Eigenschaften verfügt. Ein Teilchen hat also keine exakt definierte Geschwindigkeit und auch keinen exakt definierten Aufenthaltsort. Man kann nun versuchen, Geschwindigkeit und Ort zu messen, jedoch sorgt die Unschärfe dafür, daß man nur eine dieser Komponenten genau messen kann - die andere wird dafür um so ungewisser. Gleiches gilt auch für die Energie eines Teilchens innerhalb eines gewissen Zeitraumes.
Diese Unschärfe ist nun etwa kein Meßeffekt, sondern fundamentale Eigenschaft aller Dinge. Die Plancksche Konstante in der Unschärferelation sorgt dafür, daß nur Elementarteilchen spürbare Unschärfe besitzen. Prinzipiell aber haben auch Moleküle, Zellen, Tiere und Menschen diese Unschärfe. So und nun zu meinem Experiment: Normalerweise glaubt man. daß ein Spiegelbild ein exaktes, wenn auch seitenverkehrtes, Abbild des Betrachters ist. Wenn man aber die Unschärfe berücksichtigt, kann dem nicht so sein. Ich versuche einfach nachzuweisen, daß das Spiegelbild vom Original abweicht.
Die Geräte hier auf dem Tisch scannen intensiv den Spiegel. Mit Hilfe von den Umlenkspiegeln, die sie hier neben dem Hauptspiegel sehen können, werden meine Umrisse und die meines Spiegelbildes exakt miteinander verglichen. Um Abweichungen durch Materialfehler auszuschließen, sind die Spiegel so exakt wie möglich geschliffen.".
Jan Brehme starrte Prospect an. Seine Gedanken drehten sich noch ein wenig. Unschärfe... er erinnerte sich vage an sie, aber irgendwie ergaben die Worte von Prospect keinen echten Sinn für ihn..
"Was ist nun der Inhalt ihres Experiments?", fragte Brehme deshalb.. "Da muß ich wohl leider wieder kurz etwas ausholen,", antwortete Prospect, "In der Quantenmechanik kann man bestimmte Ereignisse wie z.B. die Elektroneninterferenz so interpretieren, daß sich bei dieser Interferenz das Universum aufspaltet. Vielleicht kennen Sie ja Schrödingers Katze. Dort dreht es sich gerade um diese Aufspaltung in Mehrfachwelten.
Ich möchte nun folgendes herausfinden: wenn mein Spiegelbild tatsächlich aufgrund der Unschärfe von mir abweicht, gibt es dann nicht auch zwei Welten? Eine, wo ich bin und eine, wo mein Spiegelbild ist?"

Langsam fing Jan Brehme an, das Thema interessant zu finden.
Durch all den wissenschaftlichen Brimborium hindurch hatte er nur eines herausgefunden: dieser Prospect wollte feststellen, ob es eine Welt hier und eine im Spiegel gab. Das war ein Thema für ESOTERIKA.
"Und wie wollen sie feststellen, ob es eine Welt im Spiegel gibt?", wollte Brehme wissen.
Prospect stellte sich vor den Hauptspiegel, sein Assistent begab sich an die Meßgeräte.
Zwei Hochleistungskameras nahmen die beiden Bilder auf. Eines von Prospect und eines von seinem Spiegelbild.
"Worauf ich warte ist, daß mein Spiegelbild irgendwann einen Quantensprung vollzieht. Daß es halt eine Bewegung ausführt, die ich nicht mache und wäre die Abweichung auch nur klein, ich würde sie feststellen. Die beiden Bilder der Kameras werden elektronisch verarbeitet und Bit für Bit verglichen. Sollte mein Spiegelbild also irgendwann einmal etwas tun, was ich nicht tue, so würde es sofort bemerkt werden."

II Zu Besuch im Spiegelland

"Haben sie denn schon eine Abweichung des Spiegelbildes feststellen können?", fragte Brehme.
Prospect schüttelte den Kopf. "Quanteneffekte gibt es zwar bei allen Objekten, doch je größer das Objekt ist, umso geringer werden sie. Ein Mensch ist sehr groß im Vergleich zu Elementarteilchen. Es gilt folgende Regel: je größer das zu beobachtende Objekt ist, umso unwahrscheinleinlicher wird eine große Abweichung, sie ist aber möglich. Darauf warte ich...". Prospect schaute sein Spiegelbild an. Manchmal war er sich nicht sicher, ob sein Projekt wirklich Erfolg versprach.
War er doch nur ein Spinner? ?rennipS nie run hcod re raW

Warum war er da? Er starrte jemanden an und fühlte, daß er es war, den er beobachtete. Er hörte sich etwas sagen und wußte, daß er es war, der etwas sagte und doch hatte er nicht das Gefühl, daß er selber dies gesagt hatte - sondern jener andere.
Der andere... Plötzlich drehte er sich um. Er hörte sich etwas sagen, doch im Raum, den er sah, war niemand. Trotzdem erschien es ihm vollkommen natürlich, zu sprechen.
Sein Kopf wurde wieder herumgerissen, er starrte erneut diesen anderen an, der so aussah wie er. Plötzlich lächelte er und er begann, alberne Bewegungen auszuführen. Er wußte nicht wieso, aber er fühlte, daß es der andere war, der ihn zu diesem Unsinn trieb. Er drehte sich wieder um und sprach etwas. Obwohl er hören konnte, was er sagte, schien es ihm so, als ob es nicht seine Worte waren. Die des anderen? Zu wem sprach er überhaupt? Er sah nur einen Tisch, Geräte, zwei Kameras und ein Fenster, durch welches er ein wenig der Außenwelt sehen konnte. Plötzlich tauchte eine Hand auf. Er schaute nach rechts und sah eine einzelne Hand, die sich auf und ab bewegte. Die Hand schwebte im Raum. Das konnte nicht sein! Er wurde aber wieder herumgerissen und starrte sein Ebenbild an. Er lächelte noch einmal, dann ging er zur linken vom Spiegel weg. Nein! Er wollte nicht gehen. Nicht gehen... Er spürte noch, wie sich alles um ihn herum auflöste, dann nichts mehr.

Prospect trat vom Spiegel weg. Brehme hielt weiterhin seine Hand vor den Spiegel und fragte: "Ist es nicht anstrengend, immer vor dem Spiegel zu stehen? Wenn ich sie richtig verstanden habe, wollen sie doch das Spiegelbild eines Menschen untersuchen?".
"Sie haben recht.", meinte Prospect, "Aber natürlich stehe ich nicht den ganzen Tag vor dem Spiegel. Für diesen Zweck habe ich eine lebensgroße Fotografie von mir anfertigen lassen.".
Christian Schmid, der Assistent, holte die Fotografie, die bisher an der Wand gelehnt hatte und baute sie vor dem Spiegel auf. Das Foto war auf Pappe geklebt und in einem Ständer eingelassen, so daß sie nicht umfallen konnte.
"Sehen sie:", erklärte Prospect, "das Experiment verläuft automatisch. Der Bildvergleich wird natürlich vom Computer ausgeführt. Sobald er eine Abweichung der Bilder feststellen sollte, wird er dies sofort festhalten und registrieren. Wir werten nur die Analyse des Computers aus. Mehr nicht."

Der Fotograf schoß noch ein paar Bilder, dann machte sich die Dreiergruppe wieder auf den Weg zum Bus. Man hatte mit Prospect vereinbart, in Kontakt zu bleiben, um die neuesten Ergebnisse zu erfahren.
Jan Brehme reimte sich in Gedanken schon die ersten Ideen für den Artikel über das Spiegelrojekt zusammen. Die ganze Sache war schon wieder so verrückt, daß man sie sicherlich für ein paar nette Schlagzeilen auf dem Cover nutzen konnte.

Prospect war zufrieden. Er hatte diese Presseleute wohl doch noch überzeugt. Hoffentlich würde dieser Artikel ein paar Interessenten schaffen, die ihn unterstützen würden, denn das Forschungsinstitut spielte schon seit längerem mit dem Gedanken, das Gebäude, in dem er arbeitete, für andere Zwecke zu nutzen. Das Spiegelprojekt lief schon seit zwei Monaten, ohne daß eine Abweichung von Original und Spiegelbild festgestellt worden wäre. Der Vorstand bezweifelte, ob überhaupt jemals eine Abweichung auftreten würde.
Prospect und sein Assistent machten noch einige Einstellungen an den Geräten, überprüften die Justierungen der Kameras und verließen schießlich auch das Gebäude. Es war schon später Nachmittag und selbst Wissenschaftler brauchten manchmal - wenn auch selten - Freizeit.

Als es Abend wurde, wurde die Reinigungsfirma auf dem Gelände aktiv. Die meisten Forscher auf dem Gelände sorgten natürlich selber dafür, daß die Räume, in denen sie arbeiteten, nicht verkamen, doch solche Dinge wie Fensterputzen wurden von ihnen nicht ausgeführt.
Dafür hatte das Niels Bohr Forschungsinstitut eine Reinigungsfirma engagiert. Martin Friedl war Physikstudent und verdiente sich in der Reinigungsfirma sein Taschengeld am Abend. Die Firma betreute mehrere Einrichtungen und Firmen, doch Martin Friedl wurde, da er Student war, vornehmlich im Niels Bohr Institut eingesetzt.
Da er sozusagen vom Fach war, war man der Meinung, daß er genau wußte, was er anfassen durfte und was nicht. Martin Friedl wurde mit fünf anderen Kräften auf dem Gelände eingesetzt.
Der Zufall wollte es, daß er die Fenster in dem Gebäude putzen sollte, in dem das Spiegelprojekt untergebracht war. Er hatte von außen die Fenster bereits gereinigt und machte sich nun daran, sie auch von innen zu putzen. Er betrat den Raum, in dem das Experiment aufgestellt war.
Friedl lächelte.
Er war schon mehrere Male hiergewesen und er verstand immer noch nicht, was das alles hier sollte. Da stand diese Fotografie vor dem Spiegel und wurde ständig von Kameras überwacht.
Er schüttelte den Kopf. Er trat etwas näher an den Aufbau und versuchte zu ergründen, welcher Zweck hier verfolgt wurde. Doch er konnte keinen erkennen und so nahm er den Wassereimer und den Abzieher wieder auf und drehte sich um, um zu dem Fenster zu gehen.
Der Abzieher war an einem langen Stiel befestigt, damit sich der Fensterputzer nicht immer lang machen mußte, wenn er die oberen Fensterregionen reinigte und dieser lange Stiel stieß gegen die Fotografie, als sich Friedl abwendete. Das Foto kippte um. Friedl erschrak und besah sich sein Ungeschick. Das hatte nicht passieren dürfen. Er stellte seine Gerätschaft ab und trat vor den Spiegel. Glücklicherweise war das Pappstandbild nicht gegen die Kameras gestoßen. Friedl bückte sich und stellte das lebensgroße Foto wieder auf. .fua otoF eßorgsnebel sad etllets dnu hcis etkcüb ldeirF

Er war da und wußte nicht wieso. Er bückte sich, obwohl er nicht wußte wieso. Er hob ein lebensgroßes Standbild auf und stellte es in Position, obwohl er nicht wußte wieso. Er fühlte sich wie eine Marionette, die jede Bewegung ausführt, die von ihr verlangt wird.
Er dachte seine eigenen Gedanken und tat doch immer nur das, was der andere tat. Plötzlich ging er nach links, vom Spiegel weg. Er wollte doch gar nicht! Nein! Schon spürte er, wie alles um ihn herum verblaßte, als er plötzlich eine noch nie gefühlte Kraft in sich spürte. Für einen unvorstellbar kurzen Augenblick, hatte er das Gefühl, daß er tun konnte, was er wollte. Er riß sich herum und die Nebel verfestigten sich wieder.
Er fühlte sich anders als vorher. Anscheinend hatte er ein paar Eigenschaften des Bildes, das vorm Spiegel stand, angenommen, als er sich wieder verfestigt hatte. Die Kraft in ihm war so unbändig, daß er vorwärts stürzte, gegen den Spiegel. Der Spiegel zersplitterte unter der Wucht des Aufpralls. Er fiel nach vorne auf den Boden und fühlte sich frei. Einfach frei.

Martin Friedl hörte ein Splittern hinter sich und drehte sich um. Er traute seinen Augen nicht. Eine Gestalt im Spiegel, die ein wenig wie er und ein wenig wie diese Fotografie von Alain Prospect aussah, stürzte gegen den Spiegel.
Von innen.... Von innen!
Diese Gestalt war nur auf einer Seite des Spiegels! Als der Mann gegen den Spiegel krachte, zersplitterte er. Der Spiegel zerbarst, als der Mann durch ihn hindurchstürzte und hinfiel. Er riß das Standbild um und krachte gegen den Tisch mit den Geräten. Martin Friedl schrie laut auf. Das konnte nicht sein! Da war jemand von der anderen Seite des Spiegels auf die reale Seite des Spiegels hinübergestürzt! Er rannte fort.

Benommen lag er kurz auf dem Boden. Schließlich stand er auf und schaute um sich. Wie war er bloß hierhergekommen? Hinter ihm lag ein einziger Scherbenhaufen. Er hatte den Spiegel zertrümmert. Er? Hatte er etwas getan, ohne daß der andere da war? In der Tat entdeckte er hier niemanden, der sonst immer genau das tat, was er dann auch tun mußte.
Langsam wurde ihm bewußt, daß etwas einmaliges geschehen war. Da war dieser Student gewesen, er fühlte sich ein wenig wie dieser Student, er war der andere gewesen und er fühlte sich auch ein wenig wie diese Fotografie, welches der andere zuvor gewesen war, als er plötzlich diese Kraft verspürt hatte. Vor allem fühlte er sich aber frei. Frei. Er lachte laut auf und bewegte seine Glieder. Er konnte das tun, was er wollte und rannte einfach fort.

III Spiegelfechterei

Die Nacht war über dem Niels Bohr Institut für Quantenphysik hereingebrochen. Selbst die unentwegtesten Forscher hatten ihre Experimente für diesen Tag beendet und das Gelände verlassen.
Nur im Verwaltungsgebäude brannte im ersten Stock noch Licht. Im Besprechungsraum des Institusvorstands saßen vier Leute: Dr. Brenner, der Leiter des Institus, Dr. Mehring, sein Stellvertreter, Alain Prospect sowie ein vierter Mann, den Prospect hier noch nicht zuvor gesehen hatte, welcher ihm allerdings als jemand von der Polizei vorgestellt worden war.
Als Martin Friedl aufgeregt den Pförtner über den merkwürdigen Vorfall unterrichtet hatte, hatte dieser selbstverständlich sofort den Leiter des Forschungsgeländes informiert. Kurz darauf hatte Dr. Brenner Alain Prospect angerufen und ihn herzitiert.
Prospect hatte voller Verwunderung die Verwüstung in seinem Labor betrachtet. Im Besprechungsraum, in den man sich schließlich begeben hatte, hatte Prospect die Computerdaten der Überwachungskameras analysiert. Er hatte den drei anderen Männern auch den Videofilm vorgeführt, den die Kameras aufgezeichnet hatten.
Jetzt herrschte betretenes Schweigen in der kleinen Runde. Dr. Brenner ergriff als erster das Wort: "Sie... sie wollen also wirklich behaupten, Herr Prospect, daß es eine Art eigene Welt im Spiegel gibt und daß dieser Mann, der diesem Studenten sehr ähnlich sieht, nichts weiter als ein Spiegelbild ist, daß lebendig geworden ist?". Prospect nickte. "Folgendes ist geschehen: dieser Spiegelmensch sieht im Großen und Ganzen wie dieser Student aus, zusätzlich hat er aber auch noch einige Merkmale des Standphotos, das als Versuchsobjekt diente. Wie es scheint, ist er also eine Mischform. Ich kann mir alles nur so erklären, daß tatsächlich das unendlich unwahrscheinliche Ereignis eines enorm großen Quantensprunges aufgetreten ist, was das Spiegelbild in die Lage versetzte, vom Original abzuweichen und etwas selbstständig zu tun.
Wie es scheint ist meine Theorie also richtig: immer wenn man einen Blick in den Spiegel wirft, wird eine Welt geschaffen. Die Welt spaltet sich auf und es existieren dann zwei Betrachter, einer vor, der andere hinter dem Spiegel, beide glauben, daß sie das Original sind, bis irgendwann die Unschärfe wirksam wird. Die beiden Welten teilen sich und existieren nun unabhängig voneinander. Wie es scheint ist in diesem kurzen Augenblick dem Spiegelbild gelungen, in unsere Welt einzutreten.".
"Das hört sich phantastisch an!", befand Dr. Mehring, "Welch einmalige Gelegenheit, etwas über andere Welten zu erfahren. Wir müssen diesen Mann fangen! Wir müssen ihn gründlich untersuchen. Deswegen haben wir auch die Polizei informiert. Kommissar Warstein ist aus diesem Grund auch in dieser Runde dabei. Er gehört zu einem Sondereinsatzkommando und wird alles unternehmen, um diesen Menschen zu fangen." Warstein nickte und fragte Prospect: "Können sie mir sagen, ob dieses Wesen irgendwelche Besonderheiten aufweisen wird?".
"Nein, abgesehen davon, daß er ein Spiegelbild ist, wird er sich wohl normal verhalten. Er wird natürlich linkshänder sein. Sie können sich in ihrer Suche also auf diesen kleinen Teil der Menschheit beschränken.".
Das war natürlich nicht viel, aber Prospect wollte nicht mehr dazu sagen. Er traute diesem Polizisten nicht. Vielmehr wollte er persönlich diesen Spiegelmenschen ausfindig machen. Eine wichtige Sache hatte er allen verschwiegen: die ganze Biologie des Spiegelmannes war natürlich seitenverkehrt. Prospect hatte genug Ahnung von Biologie um zu wissen, daß es zwei verschiedene Arten von Eiweißen gab. Links und rechtsgedrehte.
Aus irgendeinem Grund bestand der Körper des Menschen aus linksgedrehten Eiweißen, die Moleküle hatten also die Form einer Schraube mit Linksdrehung. Zwar gab es auch Eiweiße mit Rechtsdrehung, doch konnten diese nicht vom Menschen in Nährstoffe umgesetzt werden.
Dieser Spiegelmensch hatte rechtsgerichtete Eiweiße, das war klar. Er würde also die normale Nahrung zwar essen, aber nicht verwerten können. Er müßte somit verhungern, es sei denn er wüßte, wie man rechtsgerichtete Eiweiße herstellt. Dafür brauchte man auf jeden Fall Instrumente. Prospect würde sich ein wenig umhören...

Schließlich wurde die Sitzung beendet. Man hatte vereinbart, über der Sache Stillschweigen zu bewahren. Die Öffentlichkeit sollte nichts erfahren. Welt im Spiegel... es war zu beunruhigend. Warstein, der Polizist, hatte ein paar Bilder des Spiegelmenschen mitbekommen. Seine Leute würden noch diese Nacht die Umgebung des Forschungsgeländes absuchen. Weit konnte der Spiegelmensch noch nicht gekommen sein.
Weit war er tatsächlich noch nicht gekommen. Als er das Institutsgelände verlassen hatte, war er ein wenig umhergestreunt. Er fühlte sich merkwürdig. Ein Teil von ihm wollte ihm weismachen, daß er Martin Friedl sei, doch er spürte ganz genau, daß dem nicht so war. Er erinnerte sich noch ganz genau an die Welt hinter dem Spiegel, ihre Grausamkeit, ihre Leere, ihre Abhängigkeit vom Beobachter. Nein, er war nicht Martin Friedl. Er war er selbst.
Und er hatte Angst. Die kurze Zeit, in der er sich beinahe in nichts aufgelöst hatte, hatte einen Teil von Martin Friedls Identität in ihm gelöscht, sie war von der Leere des Standbildes vor dem Spiegel ersetzt worden. Es war merkwürdig. Wie es schien, konnte sich der Spiegelmensch nicht an die Vergangenheit von Friedl erinnern. Sein Gedächtnis war in dieser Beziehung leer. Physikalische Formeln schwirrten in seinem Kopf herum und er erinnerte sich vage, daß dieser junge Mann wohl Student war.
Der Spiegelmensch spazierte eine Weile und genoß seine Freiheit. Ihm bereitete schon die kleinste Bewegung seiner Finger Freude, da er sie allein tat, ohne den anderen, der ihm immer vorschrieb, was zu tun war. Als es schon dunkel war und es spät wurde, verspürte Martin, denn so wollte sich der Spiegelmensch nennen, Hunger. Ein Teil von Friedls Gedächtnis erinnerte sich vage daran, daß es in der Nähe ein Schnellrestaurant gab.
Martin sah tatsächlich in einiger Entfernung das rotgelbe Schild von McDonalds. Bald hatte er das Restaurant erreicht. Er betrat es und schaute sich um. Die Uhr über dem Verkaufstresen zeigte halb zwölf. Das Restaurant war schwach besucht. In einer Ecke saßen ein Mann und eine Frau, die sich nicht um Martin kümmerten. Er schaute sich nur die Leuchttafeln mit den Speisen an und versuchte sich zu erinnern, was all die Namen bedeuteten. Hamburger? Martin wußte, daß es eine Stadt mit diesem Namen gab. Wie sollte man einen Bewohner der Stadt essen können? Waren die Menschen in dieser Welt Kannibalen? Nein, das konnte nicht sein. Er strengte sein Gedächtnis an und langsam kam die Erinnerung ans Tageslicht.
Hamburger waren Brötchen... Warum wurden sie bloß nicht so genannt? Martin trat auf die Kasse zu, die geöffnet hatte und bestellte einen Hamburger. Der junge Ausländer hinter der Theke gab ihm den Hamburger und verlangte das Geld. Geld? Martin kramte in seiner Tasche und fand tatsächlich einen Geldbeutel.
Friedl hatte glücklicherweise seine Brieftasche dabeigehabt. Martin öffnete sie und schaute nach Geld. Er nahm einen Fünfzigmarkschein und gab ihn dem Kassierer. Als dieser ihm das Wechselgeld gab, setzte sich Martin an einen Tisch und packte den Hamburger aus. Es war ein ziemlich mickriges Brötchen.
Martin traute diesem Ding nicht. Er biß einmal hinein, schluckte hinunter und ließ es dann sein. Furchtbar! Anscheinend hatte Friedl keine Hamburger gemocht. Martin stand auf und ging wieder an die Kasse. Nochmals ließ er die Leuchtschilder auf sich wirken. Pommes, ja, Pommes klang irgendwie vertraut. Cola? Coca Cola? Hörte sich ebenfalls gut an. Er bestellte beides und setzte sich wieder an seinen Tisch, als ihm die Bedienung hinter dem Tresen die beiden Sachen gegeben hatte. Martin schmeckten die Pommes schon bedeutend besser als dieses komische Brötchen. Bald hatte er alles verzehrt und er verspürte das Bedürfnis, auf die Toilette zu gehen.
Der Restaurantmanager erschien an der Theke und wies die letzten verbliebenen Gäste darauf hin, daß man bald schließen würde. Das Pärchen, das immer noch in der Ecke saß, stand auf und verließ das Restaurant. Der Manager warf Martin einen ungeduldigen Blick zu woraufhin er versprach, sich zu beeilen. Martin ging auf die Toilette. Als er sich schließlich die Hände wusch( warum wußte er nicht, es erschien ihm halt normal ), fiel sein Blick auf den Frisierspiegel. Martin hielt inne. War er, da er nun in dieser Welt war, auch einer der anderen geworden? Martin blickte in den Spiegel und war verblüfft. Er sah kein Spigelbild von sich. Martin bewegte sich, hielt seine Hand vor dem Spiegel, doch er sah sich nicht. Es gab von ihm kein Spiegelbild.
Martin schluckte. Er berührte den Spiegel mit seinen Fingerspitzen, doch da gab es nichts, was er berühren konnte. Seine Hand griff in den Spiegel hinein! Martin wurde neugierig und stieß seinen Kopf durch die silberne Oberfläche des Spiegels. Sein Kopf fuhr glatt hindurch. Er sah den Waschraum, jetzt allerdings seitenverkehrt. Martin hatte Angst, daß er auf der anderen Seite des Spiegels nicht mehr herauskommen könnte und zog seinen Kopf wieder zurück. Konnte er tatsächlich die Welt im Spiegel betreten?
Er war also keiner der anderen geworden, die Spiegelbilder werfen und somit grausame und leere Welten schaffen. Er war noch ein Spiegelbild. Wir wollen schließen!", tönte eine Männerstimme. Martin trocknete rasch seine Hände ab und verließ die Toilette. Der Restaurantmanager hatte bereits sein Schlüsselbund in der Hand und geleitete Martin zur Tür. Als Martin in die dunkle Nacht eingetreten war, schloß er die Tür ab.

Nuri, der türkische Kassierer, war froh, daß nun endlich Feierabend war. Er ging nach hinten, wo der stellvertertende Restaurantmanager, Herr Yildiz, seine Kasse zählen würde. McDonalds traute nichts und niemandem, am wenigsten seinen Mitarbeitern, weswegen die Kassen immer noch am selben Abend überprüft wurden.
Im Raum des Managers saß bereits Herr Yildiz und wartete nur auf Nuri. Dieser setzte sich auf den zweiten Stuhl und wartete nun, bis Yildiz fertig mit dem Zählen war und er endlich nach Hause gehen konnte. Herr Yildiz hatte bereits die Zehn und Zwanzigmarkscheine gezählt, als er plötzlich "Nuri..." sagte. Nuri blickte vom Boden auf und betrachtete Herrn Yildiz. Yildiz lächelte ein wenig und hielt einen Fünfzigmarkschein in seiner Hand. "Was ist das?", wollte er von Nuri wissen.
Nuri lächelte, was wollte der Knacker bloß? "Ein Fünzigmarkschein, Herr Yildiz.", antwortete er.
"Wirklich?", erwiderte Yildiz, "Schau ihn dir doch mal an...".
Nuri nahm den Schein entgegen und untersuchte ihn. Verdammt! Das gabs doch nicht! Der Schein war spiegelverkehrt! Der Mann auf dem Schein war in der linken Hälfte und schaute nach rechts und statt 50 DM stand auf der rechten Hälfte des Scheins MD 05.
"Scheiße!", murmelte Nuri. Er wußte genau, daß dieser Fehler ihm wieder mindestens eine Woche Küchenarbeit einbringen würde. Hamburger braten. Vielleicht würde er auch kündigen...

Martin ging allein durch die Nacht und ahnte nichts von dem Unglück, daß er angerichtet hatte. Er war glücklich, daß er hier in dieser Welt der anderen war, die einen eigenen Willen besitzen. Er dachte über das Erlebnis im Waschraum nach: Martin wollte unbedingt herausfinden, ob er wirklich die Welt im Spiegel immer noch betreten konnte. Der Forschertrieb, den Friedl, der Student, besessen hatte, lebte im Spiegelmenschen fort.
Als Martin gerade so in Gedanken versunken die Straße hinunterging tauchte hinter ihm plötzlich ein Polizeiwagen auf. Kommissar Warstein hatte fünf Streifenwagen auf Patrouille geschickt, um den Spiegelmenschen zu fangen. Er mußte immer noch in diesem Stadtteil sein.
Der Streifenführer bemerkte als erster den jungen Mann auf dem Bürgersteig. "Dieter, gib mir mal das Foto.", meinte er zu seinem Beifahrer. Als der Streifenführer das Bild schließlich in seinen Händen hielt und es mit der Gestalt auf dem Bürgersteig verglich, kamen ihm beide Gestalten ähnlich vor. Der Streifenführer blendete die Scheinwerfer des Wagens auf.
Martin spürte plötzlich ein gleißendes Licht hinter sich. Er drehte sich um, sah aber nichts, da er von Scheinwerfern geblendet wurde. "Dieter, das ist er!", meinte der Streifenführer. Die beiden Polizisten stiegen aus. "Sie da, kommen sie her!", rief der Streifenführer Martin zu.
Martin, der keinen Anlaß sah, vor der Polizei Angst zu haben (anscheinend war Friedl noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten...) trat näher. "Los, Dieter!", rief der Streifenführer. Der andere Polizist tat wie ihm geheißen und stürzte sich auf Martin. Noch bevor er sich wehren konnte, hatte ihm Dieter bereits Handschellen angelegt. Er wurde auf die Rückbank des Polizeiwagens gezerrt und die beiden Polizisten fuhren los.

IV Susanna

Man hatte Martin in eine enge Arrestzelle eingeschlossen. Kommissar Warstein saß in seinem Büro und genoß seinen Erfolg. Dr. Brenner und dieser Alain Prospect waren bereits informiert. Mit ihrer Hilfe würde er das Geheimnis des sogenannten Spiegelmenschen schon herausfinden. Es klopfte an der Bürotür. "Herein!", sagte Warstein. Ein Wachtmeister öffnete die Tür und sagte: "Kommissar, ein Herr Brenner und ein Herr Prospect sind für sie da.".
"Ausgezeichnet!", befand Warstein. Er erhob sich von seinem Stuhl und begrüßte die beiden Wissenschaftler.
"Wo ist er?", wollte Prospect wissen, "Ich will mit ihm sprechen.". Prospect war insgeheim überhaupt nicht erfreut, daß dieser Kommissar seinen Spiegelmenschen gefangen hatte. Prospect hatte etwas anderes mit ihm vor. Geld, Geld sollte die Sache einbringen.
"Er sitzt in einer unserer Arrestzellen.", antwortete Kommissar Warstein. "Darf ich ihn allein sprechen?", fragte Prospect, "Ich glaube der Spiegelmensch dürfte recht verstört sein. Sie dürfen nicht vergessen, daß er auch Merkmale meines Standfotos hat. Er wird wohl ein gewisses Vertrauen zu mir bilden. Ich bin ja sozusagen sein Vater...".
Warstein nickte. "Er soll ihr Mann sein."

Martin saß in der Zelle auf dem engen Bett und fragte sich, warum man ihn hier eingesperrt hatte. Hier fühlte er sich fast wie im Spiegelland. Er konnte nicht tun, was er wollte. Plötzlich knirschte das Schloß in der Tür und ein Mann trat ein. Martin glaubte, ihn zu kennen. Irgendwie glich er dem Standfoto, das auch ein Teil von ihm war.
Der Wachtmeister, der Prospect begleitet hatte, machte das Licht in der Zelle an und schloß die Tür hinter Prospect wieder zu."Phantastisch!", befand Prospect, "Du bist also der Spiegelmensch. Kennst du mich?".
Martin nickte. Ihm kam dieser Prospect nicht gerade sympathisch vor. Er war auch nur einer der anderen, die Spiegelbilder werfen und sich nicht im geringsten darum kümmerten.
"Höre mir zu:", sprach Prospect, "ich bin dein Freund. Ich bin nicht Schuld, daß man dich hier eingesperrt hat. Ich glaube, die anderen, die dich eingesperrt haben, wollen etwas mit dir anstellen, dich untersuchen, dich ausfragen. Ich will dir nur helfen. Du mußt fliehen. Ich werde einen Weg finden. Höre mir also..." "Was will man mit mir tun?", fragte Martin.
Prospect schüttelte den Kopf: "Das hat man mir nicht gesagt. Gutes wird es auf jeden Fall nicht sein. Deswegen werde ich dir zur Flucht verhel..."
Martin hatte mittlerweile etwas bemerkt. Die Tür in seiner Zelle war schneeweiß gestrichen. Das Bett, der Tisch und die Lampe reflektierten an ihrer Oberfläche spiegelten sich. Spiegel? Martin kam eine Idee. Er wollte einfach frei sein. Frei. Er traute diesem Prospect nicht so recht. Wenn sein Standbild auch ein Teil von ihm war, so spürte er, daß dieser Prospect nicht ganz aufrichtig war. Menschen waren nicht uneigennützig. Martin sprang von seinem Bett auf und lief in die Tür hinein. Prospect stockte der Atem. Der Spiegelmensch war in die Tür hineingelaufen! Er sah ihn undeutlich und verschwommen in der Tür stehen allerdings auf der anderen Seite...

Martin sah fast gar nichts, alles wirkte so verschwommen und undeutlich. Diese Tür war auch nur ein sehr schlechter Spiegel. Immerhin hatte er jetzt aber den Beweis, daß er die Spiegelwelt betreten konnte. Würde er sie auch wieder verlassen können? Prospect schrie laut. Der Wachtmeister öffnete die Tür und schaute in die Zelle. "Er ist weg!", rief Prospect.
"Das, das ist doch unmöglich!", stammelte der Wachtmeister.
Martin lauerte immer noch im Spiegelland der Tür. Die Zelle war auf. Er stürzte auf die Tür zu, die er von seiner Seite aus sah und stürzte aus dem Spiegelland hinaus. Er stieß den Wachtmeister um und rannte fort.
Prospect stürzte sofort hinterher. Das war einfach zu phantastisch! Dieser Spiegelmensch konnte also tatsächlich von der realen in die Spiegelwelt wechseln und umgekehrt. Welche Möglichkeiten taten sich da auf.
"Haltet ihn!", rief der Wachtmeister, der sich wieder aufgerappelt hatte, doch zu dieser späten Stunde war das Polizeirevier nicht gerade gut besetzt. Martin stürzte so überraschend aus dem Trakt mit den Zellen in die Wachstube hinein, daß die zwei Beamten, die dort gerade saßen und Zeitung lasen, völlig überrumpelt wurden. Martin stürzte auf den Ausgang zu und verließ das Revier. Er blickte kurz um sich und lief dann in die Nacht hinein.
Warstein, der den Lärm natürlich gehört hatte, stürzte aus seinem Büro. Auf dem Flur traf er den Wachtmeister. "Er... er ist geflohen!", meinte dieser aufgebracht. Warsteins Augen weiteten sich. "Schickt alle Wagen los, die wir zur Verfügung haben!", befahl Warstein. Wie hatte das nur passieren können!

Mehrere Stunden waren vergangen. Trotz intensiver Suche hatte die Polizei keine Spur des Spiegelmenschen gefunden. Prospect und Brenner saßen in Warsteins Büro. "Ich glaube, sie sollten mir jetzt einige Dinge erklären.", sprach Warstein, "Laut Gesetz gibt es keinen einzigen Grund, diesen Spiegelmenschen zu verfolgen. Den Sachschaden, den er im Labor angerichtet hat, rechtfertigt keine Fahndung, wie sie sonst nur bei Terroristen durchgeführt wird. Ich muß mich bei meinen Vorgesetzten für die Aktionen rechtfertigen, die diese Nacht gelaufen sind. Also?". "Es gibt einen sehr wichtigen Grund.", antwortete Prospect, der sich gezwungen sah, die Wahrheit zu sagen, "Die Art und Weise, wie der Spiegelmensch geflohen ist, ist mehr als phantastisch. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er in die reflektierende Oberfläche der Tür hineingelaufen ist und dann von dort aus, als die Tür offen war, geflohen ist.".
Warsteins Gesicht schien förmlich ein Fragezeichen zu bilden.
"Verstehen sie nicht? Dieser Spiegelmensch kann die Welt des Spiegels betreten. Welch wissenschaftliche Sensation ist das. Dieser Mann muß gefangen werden. Bedenken sie nur die Möglichkeiten, so einen Mann einzusetzen. Er kann in die Spiegelwelt eintreten, dort ungesehen bleiben und erst wieder hinaustreten, wenn er es möchte. Dieser Effekt muß untersucht werden.".
Warstein verstand langsam. Da taten sich wirklich ungeahnte Möglichkeiten auf. "Gut, ich werde alles versuchen, um die Suche aufrechtzuerhalten. Sobald es was neues geben sollte, werde ich sie beide informieren.".
Brenner und Prospect wurden verabschiedet und verließen das Polizeirevier. Prospect fühlte sich nicht wohl. Würde er seinen Spiegelmenschen noch fangen?
Warstein saß in seinem Büro und dachte nach. Schließlich hob er den Hörer seines Telefonapparats auf und wählte eine Amtsnummer.
Gewisse Herren würden sich für den Spiegelmenschen sicherlich interessieren und er, als Fänger dieser Person, würde sicherlich auch ein Stück der Belohnung erhalten.

Es war schon später Vormittag und Martin stieg aus der U Bahn aus, mit der er die letzten Stunden gefahren war. Mit seinen Spiegelgeldmünzen hatte er sich problemlos eine Fahrkarte am Automaten lösen können. Hier in der Bahn war es wenigstens warm und sicher gewesen. In der Anonymität der Menge hoffte er, nicht aufzufallen. Martin hatte in den vergangenen Stunden nachgedacht. Er, der aus der Spiegelwelt kam, mußte in dieser Welt der anderen sicherlich etwas außergewöhnliches sein. So außergewöhnlich, daß man ihn fangen und untersuchen wollte. Doch er wollte nur frei sein, das tun, was man in der Spiegelwelt nicht unternehmen konnte.
Allmählich verspürte er Hunger und somit stieg er an einer Haltestelle aus, um etwas eßbares zu besorgen. Es war seltsam, obwohl er gestern etwas gegessen hatte, hatte ihn das nicht satt gemacht. Er fühlte sich sogar noch hungriger. Ein Teil von Friedls Wissen gab ihm weiterhin das Gefühl, daß er noch etwas wichtiges wissen müßte. Etwas lebenswichtiges. Als Martin schließlich wieder auf der Straße war, besann er sich kurz, wo man etwas zu essen bekommen könnte.
Anscheinend war Friedl ein McDonaldsfan gewesen, denn Martin fiel ein, daß es ganz in der Nähe hier in der Gegend ein weiteres Restaurant dieser Kette gab.

Das Essen im Schnellrestaurant hatte weder gut geschmeckt, noch hatte es ihn satt gemacht. Was war bloß los? War das Essen in dieser Welt nichts für ihn? Martin zog erst einmal weiter. Ab und zu blickte er sich nach einem Polizeiwagen um, doch er sah keinen. Vielleicht hatte man tatsächlich seine Spur verloren.

Martin war eine Weile gegangen. Er war an einem großen leeren Platz vorbeigekommen, der ihn undeutlich an Friedls Kindheit erinnerte. Martin hatte fast alles aus Friedls Erinnerung verloren, doch dieses Gefühl hier war so stark, daß es selbst im Spiegelmenschen weiterlebte.
Kirmes... Kindheit... Es war ein schönes Gefühl. Martin hielt kurz inne, betrachtete den leeren Platz und ging dann langsam weiter.
Wie sollte es weitergehen? Inzwischen fühlte er sich mehr als hungrig und eine Bleibe hatte er auch nicht. Der Spiegelmensch war zwar in der realen Welt, doch er gehörte nicht zu ihr. Als er so in Gedanken versunken die Straße entlangging, bemerkte er nicht, wie ein scheinbar ziviles Auto plötzlich die Aufmerksamkeit auf ihn richtete.
Der Anruf von Kommissar Warstein hatte weite Kreise gezogen. Die oberen Stellen hatten sich sehr interessiert gezeigt, als er ihnen den Sachverhalt mitgeteilt hatte. Und als man schließlich das Videoband gesehen hatte, war man vollends begeistert gewesen. Ein Mensch, der in die Welt des Spiegels eintreten konnte, war für gewisse Zwecke sicherlich gut zu gebrauchen...
Zwei Mitarbeiter des BND saßen in dem besagten Auto und verglichen das Foto, das auf dem Armaturenbrett lag, mit der Gestalt, die da direkt vor ihnen auf dem Bürgersteig ging. Er war es. Es gab keinen Zweifel. Der Zufall hatte die beiden Mirarbeiter des BND auf die Fährte des Spiegelmenschen geführt.
Der Beifahrer nahm das Autotelefon und informierte die Polizei.
Als Martin gerade an einem Konsumtempel vorbeiging, bemerkte er, wie drei Polizeiwagen von der Kreuzung mit Sirenengeheul in seine Richtung fuhren. Martin überlegte nicht lange. Das konnte nur ihm gelten. Wohin sollte er rennen? Er drehte sich um und sah zwei Männer, die sich unauffällig gaben und ihn dennoch interessiert musterten. Die beiden Agenten hatten ihren Wagen abgestellt und waren nun zu Fuß unterwegs.
Martin schaute auf das große Gebäude, in dem ein Supermarkt untergebracht war. Er rannte dorthin und verschwand im Eingang.
"Scheiße, er hat es gemerkt!", murmelte einer der BND Leute. Sie fingen auch an zu rennen, blieben aber vor dem Eingang des Supermarktes stehen. Die Besatzungen der Polizeiwagen, die auf dem Bürgersteig gehalten hatten, trafen auf die BND Leute. Sie zeigten ihre Ausweise und gaben Instruktionen. "Er sitzt in der Falle. Da kommt er nicht mehr raus! Einer bleibt vor dem Eingang stehen, einer geht vor den Hintereingang und ein dritter bewacht den Zugang zum Parkdeck. Der Rest durchsucht den Markt von innen."
Drei Polizisten wurden eingeteilt, die anderen drei machten sich mit den BND Leuten daran, den Markt von innen zu untersuchen.
Die Kassenleitung des Marktes zeigte sich aufgeregt, als die Polizisten den Markt betraten. Man sprach kurz mit der Frau und erzählte ihr, daß ein entflohener Verbrecher im Markt untergetaucht sei. Der Marktleiter wurde schnell hergerufen, welcher dann seine Einwilligung gab, den Markt zu durchsuchen.

Martin wußte natürlich, daß man ihn verfolgen würde. In der Eile hatte er sich selbst in die Falle geritten. Das Gebäude war bereits sicherlich umstellt. Nun würde er nicht mehr ungesehen hinauskommen. Martin befand sich hinter der Kassenzone in der Textilabteilung des großen Supermarktes und schaute ängstlich auf den Eingang. Dort sah er, wie drei Polizisten und zwei zivil gekleidete Männer mit einem Mann und einer Frau sprachen. Anscheinend Mitarbeiter des Hauses. Man würde ihn mit Sicherheit finden. Martin duckte sich ein wenig und ging weiter nach hinten. Sein Blick fiel auf einen Garderobenspiegel. Spiegel?
Martin lächelte und schaute um sich. Es war gerade keiner in der Nähe und blitzschnell stürzte er sich in den Garderobenspiegel hinein. Es war phantastisch. Er war in der Spiegelwelt des Supermarkts. Spiegelkunden gingen an ihm vorbei, ohne daß er bemerkt wurde. Wie denn auch? Er war nur in der Welt der Spiegel sichtbar. Die anderen, die Originale, gingen draußen einkaufen und schauten nicht in den Spiegel. Denn nur wenn man in den Spiegel blicken würde, würde man ihn auch sehen, dessen war sich der Spiegelmensch sicher.
Martin ging in der Spiegelwelt ein wenig umher. Sie war vielleicht zehn Meter breit und reichte bis zur Kassenzone. Ringsherum war nichts. Nur Nebel. Martin würde besser nicht dorthingehen. Hier in der Spiegelzone konnte ihm nichts passieren. Als Martin sich umschaute, sah er, wie ein Polizist in die Abteilung kam und sich umschaute. Der gespiegelte Polizist sah ihn natürlich nicht. Doch was machte er da? Er ging zum Spiegel! Er würde ihn dort entdecken! Martin ging an einen Garderobenständer und versteckte sich hinter ihm.
Vom Spiegel aus konnte er nun nicht mehr gesehen werden. Martin machte eine Entdeckung. Er berührte einen der Wintermäntel, die am Ständer hingen und sah, wie er ihn berühren und bewegen konnte. Martin zupfte am Ärmel des Wintermantels und schaute dabei in den Spiegel, den er von seinem Versteck aus sehen konnte. Der Mantel bewegte sich auch im Spiegel. In der realen Welt...
Der Polizist stutzte. Er hatte den Sitz seiner Uniform im Spiegel überprüft und sich nun wieder umgedreht. Am Garderobenständer etwa fünf Meter vor ihm hatte sich gerade ein Mantel bewegt. Schon wieder! Der Ärmel schlug hin und her! Der Polizist stürzte auf den Ständer, doch da war niemand. Er blieb eine Weile stehen, ging dann aber weiter. Auch die intensive Durchsuchung des Supermarktes hatte nichts ergeben. Ratlos standen die BND Leute und die drei Polizisten am Eingang des Supermarktes und berieten sich. Man würde halt bis Ladenschluß warten und dann den Markt nochmals intensiv durchsuchen... Der Spiegelmensch konnte unmöglich vorher den Markt verlassen.

Martin sah, wie sich der Markt langsam leerte. Schließlich standen nur noch die Polizisten am Eingang. Martin ging näher an die Kassenzone. Die müde aussehenden Kassierer erledigten gerade ihre Abrechnung. Martin überlegte kurz. Er ging an den Ständer mit den Süßigkeiten und versuchte, einen Schokoladenriegel aufzunehmen. Es klappte! Martin schob sich den Riegel in den Mund und aß ihn.
Eine der Kassiererinnen glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Da schwebte doch tatsächlich ein Schokoriegel in der Luft! Jetzt wurde er ausgepackt... Das Papier fiel hinunter. Plötzlich verschwand der Riegel. Weg...
Martin schaute die junge Kassiererin an, die ihn anstarrte. Sie konnte ihn nicht sehen, da er nur in der Spiegelwelt sichtbar war, aber der Schokoriegel? Das war zu phantastisch. Martin wurde klar, daß er in der Spiegelwelt alles anfassen, berühren und tun konnte, aber mit einem Nebeneffekt. Wenn er die Spiegelbilder berührte, so wurden auch die Originale hinter dem Spiegel berührt...
Martin ging zum Spiegel zurück und wartete dort. Er wollte aus dem Supermarkt herauskommen.

Susanna schüttelte ihren Kopf. Spätestens jetzt wurde ihr klar, daß ihr der Job im Supermarkt noch den letzten Nerv rauben würde.
Schokoriegel, die in der Luft schweben.... Lächerlich! Warum mußte sie ihre Semesterferien auch unbedingt mit arbeiten verbringen. Gran Canaria oder Mallorca, dort sollte sie jetzt sein. Sie brauchte dringend etwas Ruhe.
Susanna schaute nochmal auf den Ständer mit den Süßigkeiten. Das Papier lag tatsächlich auf dem Boden. Susanna trat näher und hob es auf. Sollte etwa...? Susanna schüttelte erneut ihren Kopf und brachte ihre Kasse fort. Sie hatte Pech gehabt. Ihr letzter Kunde hatte einen prallgefüllten Einkaufswagen gehabt und somit war sie nun die letzte, die Feierabend machte.
Die anderen Kassierer hatten die Kassenzone bereits verlassen. Susanna gab eilig ihre Einnahmen ab, verabschiedete sich flüchtig von der Kassenaufsicht, dann machte sie sich auch auf den Weg.

Martin stand vor dem Spiegel und wartete. Mehrere Personen waren bereits am Spiegel vorübergegangen doch nie allein. Er konnte sich unmöglich mehreren Personen zeigen. Der Aufruhr wäre zu groß gewesen. Martin hatte gesehen, daß die Polizisten sich erneut im Markt verteilt hatten. Zur Zeit war keiner in der Kassenzone oder in der Textilabteilung, der sehen könnte, daß er den Spiegel verlassen würde. Doch was dann? Vor dem Eingang standen mit Sicherheit weitere Beamte. Aber da kam ihm eine Idee.
Martin schaute in den Spiegel und sah eine junge Frau, die langsam auf ihn zukam. Es war ihre Kasse gewesen, wo er den Schokoriegel gegessen hatte. Der Spiegelmensch wußte nicht wieso, aber sie kam ihm symphatisch vor. Er wußte nicht viel von den Menschen in der wirklichen Welt, aber dieses Gefühl war stark, sehr stark. Wer weiß, vielleicht hatten ja Friedl oder Prospect eine Schwäche für zartgebaute Mädchen mit langen roten Haaren und schmalen, hübschen Gesichtern, die sich auf Martin übertragen hatte. Wie auch immer - diese junge Frau war die einzige, die Martin jetzt noch helfen konnte.
Als Susanna am Spiegel vorbeigehen wollte, sagte Martin deshalb plötzlich leise "Hallo", zu ihrem Spiegelbild. Erschrocken drehte sich ihr Spiegelbild und somit auch Susanna um.
Wer war das gewesen?
"Hier, hier im Spiegel bin ich!", sagte eine leise Stimme zu ihr. Susanna hörte zwar alles genau, sah aber bei bestem Willen keinen Menschen um sich herum. Schwebende Schokoriegel... Stimmen aus dem Nichts... War es nun schon soweit? "Hier im Spiegel bin ich!", sagte die Stimme erneut. Susanna trat an den Spiegel heran und schaute hinein. Sie sah ihr Spiegelbild und neben ihr einen etwas bläßlich wirkenden jungen Mann, mit gehetztem Gesichtsausdruck.
Susanna drehte sich um, doch neben ihr stand keiner! Sie schaute in den Spiegel und da war dieser Typ! Martin sah die Angst und Verwirrung in Susannas Gesicht. Er mußte es riskieren. Er trat auf den Spiegel zu und hinaus in die reale Welt. Blitzschnell stürzte er sich auf Susanna, die vor Schreck wie gelähmt war und hielt ihr den Mund zu. Martin bemerkte das dezente Parfum, daß Susanna trug und wunderte sich innerlich, wie er in so einem Augenblick an so etwas denken konnte. Nein, nein, nein! Da war keiner aus dem Spiegel herausgetreten! Da war keiner aus dem Spiegel herausgetreten! Da war... da war er...
"Bitte nicht schreien.", flüsterte Martin, "Ich will dir bestimmt nichts tun. Ich brauche deine Hilfe. Bitte hilf mir. Die Polizei in diesem Haus sucht mich. Dabei habe ich nichts verbrochen. Bitte hilf mir...".
Natürlich hatte Susanna die wildesten Gerüchte über den Mann gehört, der hier von der Polizei gesucht wurde, aber das hier, das konnte doch nur ein Scherz sein? Susanna rang innerlich mit sich. Sollte sie laut schreien und damit die Polizei heranholen?. Sie musterte den jungen Mann etwas genauer. Er wirkte tatsächlich ziemlich verstört und gehetzt. Seine Wangen waren leicht eingefallen, er zitterte am ganzen Körper und er wirkte so unheimlich blaß.
Martin hatte inzwischen seine Hand von Susannas Mund genommen, so daß sie wieder frei atmen und sprechen konnte.
Für Susanna gab es keinen Zweifel: der Junge hatte Probleme und brauchte Hilfe. Es gab nur ein Problem... Warum mußte sie diejenige sein, die helfen muß? "Du... du bist da eben aus dem Spiegel gestiegen?", fragte sie etwas unsicher. Der Spiegelmensch nickte. "Wenn du mir hier hinaushilfst, erkläre ich dir alles. Bitte mach nur schnell."
Susanna zögerte kurz. Welchen Ärger könnte sie sich damit einhandeln? Das letzte, was sie brauchte, war eine Ablenkung wie diese. Sie mußte sich neben ihrer Arbeit hier im Supermarkt auch noch auf die Prüfung für ihr Studienfach Psychologie vorbereiten. Dann wiederum... was könnte es interessanteres geben, als das hier? Aber abseits all dieser Überlegungen tat ihr der Mann einfach leid. Susanna seufzte kurz."Ich helfe dir!", meinte sie und versuchte dabei nett zu lächeln.
"Danke! Komm mit!", sagte Martin, der sich wie ein gehetztes Tier dabei umblickte. "Gibt es hier irgendwo eine Toilette?".
"Eine Toilette?", wollte Susanna argwöhnisch wissen. Wer sagte ihr, daß dieser merkwürdige Kerl am Ende nicht etwa ein Triebtäter war?
"Ein Ort, wo wir ungestört sind, damit ich fliehen kann", versuchte Martin zu erklären.
Susanna nickte, vergaß kurz ihren Argwohn und ging voraus. Sie gingen durch eine Stahltür und nun befanden sich die beiden in einem engen Flur. Am Ende des Flurs gab es eine Herrentoilette.
Martin trat durch die Tür. "Komm mit!", sagte er leise zu Susanna. Doch sie zögerte.
"Das ist das Herrenklo", flüsterte sie Martin zu. "Ich kann da nicht rein!" Was wollte er bloß in der Toilette allein mit ihr?
"Ich will nicht auf die Toilette, ich will hier flüchten und brauche deine Hilfe - bitte!", versuchte Martin Susanna zu überzeugen. Und als sie in das Gesicht des Spiegelmenschen blickte, sah sie nichts außer Furcht und Angst. Sie würde den Grund für den gemeinsamen Toilettenbesuch schon noch herausfinden. Susanna erinnerte sich aber in Gedanken daran, in Zukunft wieder das Reizspray in die Jackentasche zu legen. Wenn jetzt etwas passieren würde, wäre sie praktisch wehrlos.
Als die beiden endlich im engen Waschraum standen, erklärte Martin Susanna seinen Plan. "Ich muß hier raus. Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden. Ich werde in den Toilettenspiegel hineinsteigen und du wirst ihn hinaustragen.".
Susanna blickte Martin nur mit ihren blauen Augen erstaunt an. "Äh... wie?"
Doch Martin wartete nicht, sondern stieg auf die Waschschüssel. Er stieg mit dem Kopf voran in den Spiegel hinein. Es war zwar eng, aber schließlich war er vollends auf die andere Seite des Spiegels gestiegen.
Susanna stand nur mit aufgerissenen Augen davor und bemerkte nebenbei, wie ihre Knie zitterten. Das konnte es einfach nicht geben! Vielleicht hatte sie ja doch Halluzinationen? Sie brauchte dringend mehr Schlaf, entschied Susanna gerade. "Du, he du, wie heißt du eigentlich?", fragte der Spiegelmensch Susannas Spiegelbild.
Susanna, die diese Worte natürlich auch hörte, sagte ihren Namen ein wenig tonlos und immer noch sehr verwirrt. Hörte sie die Stimme wirklich oder waren das Anzeichen eines ernsthaften geistigen Defektes? Susannas Verstand entschied sich allerdings vehement dafür, nicht wahnsinnig zu sein.
"Du kannst mich Martin nennen. Und nun trag mich bitte hinaus. Nimm den Spiegel von der Wand und trag ihn mit hinaus. Bitte. Hinterher beantworte ich dir alles. Hilf mir doch nur bitte!".
Susanna versuchte gar nicht mehr nachzudenken, sondern nahm einfach den Spiegel aus der Halterung. "Äh... schüttelt das nicht?", fragte sie vorsichtig in den Spiegel hinein. Hatte sie eben wirklich mit dem Spiegel gesprochen? Irgend etwas in Susanna grinste nur noch verwirrt.
Der Spiegelmensch versuchte zu lächeln. "Wacklig ist es schon.", meinte er.
Susanna holte einmal tief Luft und versuchte wieder natürlich zu wirken. Schließlich trat sie aus der Toilette hinaus. Den Spiegel hatte sie unter den linken Arm geklemmt. Sie mußte nur auf den Pförtner aufpassen, der in seinem Raum saß und den Personaleingang bewachte. Doch dieser war gerade unterwegs, um die Einkaufstaschen für eine Kassiererin zu holen. Auch der Supermarkt traute nichts und niemandem am allerwenigsten seinen eigenen Mitarbeitern...

Susanna stempelte ihre Karte und verließ schnell das Gebäude. Tatsächlich: vor dem Eingang stand ein Polizist, der alle beäugte, die aus ihm heraustraten. Hier vor dem Eingang standen auch noch ein paar der Kassiererinnen und Kassierer, die nur auf Susanna gewartet hatten, man wartete oft auf die Kollegen, da nach Feierabend gerne noch ein Besuch in einem nahegelegenen Pizzarestaurant abgehalten wurde. "Susanna, was soll denn der Spiegel da?", fragte einer der Kassierer.
Susanna versuchte zu lächeln, was ihr nicht so recht gelingen wollte und meinte: "Ist ein Geschenk für meinen Bruder. Der ist so verliebt in sich selbst, daß er nicht genug von sich bekommen kann. Mit diesem Spiegel kann er sich den ganzen Tag über betrachten.".
Susanna wartete nicht lange und ging weiter. Es war zwar normalerweise nicht ihre Art, so abweisend zu anderen zu sein, doch heute war alles anders.

Susanna ging nach Hause und fragte sich, was sie nun tun sollte. Sie wohnte noch bei ihren Eltern, weil sie während des Studiums unmöglich eine eigene Wohnung finanzieren konnte. Vielleicht sollte sie den Spiegel einfach auf den Boden legen und wegrennen?
Aber die Neugier siegte. Und außerdem tat ihr der Mann im Spiegel immer mehr leid. Sie entschied sich dafür, den Spiegel mit nach Hause zu nehmen.
Susanna war froh, als sie nach einer kurzen Bahnfahrt, in der sie den Spiegel verkrampft festgehalten hatte, endlich in ihrem Zimmer war. Sie stellte den Spiegel auf ihren mit Büchern beladenen Schreibtisch und schaute in ihn hinein.
Der Spiegelmensch wirkte ziemlich durchgeschüttelt, aber er war noch da. "Du kannst rauskommen!", meinte Susanna "Wir sind erstmal in Sicherheit."
Mühsam kletterte Martin aus dem Spiegel hinaus in Susannas Zimmer hinein. Es war recht groß und ziemlich vollgestopft. Neben dem großen Kleiderschrank gab es noch ein großes Regal, auf dem sich Bücher stapelten, der Schreibtisch beherbergte weitere Bücher sowie einen PC. Mit einem leisen Lächeln registrierte Martin den Kuschelteddy, dem ein Auge fehlte, auf dem ausklappbaren Sofa, das nachts zum Bett wurde.
"Wo bin ich hier?", fragte Martin.
"Leise!", flüsterte Susanna, "Wir sind bei mir zuhause und es wäre wirklich besser für dich und für mich, wenn dich meine Familie nicht findet.".
"Du bist verheiratet?", fragte der Spiegelmensch.
Susanna lächelte herzhaft. "Nein, ich wohne bei meinen Eltern, es wäre nicht gerade gut, wenn sie uns hier so sehen würden. Nicht, daß ich keine Freunde mit nach Hause nehmen darf, aber meine Mutter hat mich hineinkommen sehen und würde sich gewiß wundern, wo du herkommst! "
"Warum hast du mich dann hierhergebracht zu deiner Familie?", fragte Martin
"Du hast gesagt, ich soll dir helfen. Gut. Ich habe geholfen. Aber ich bin auch neugierig. Um ehrlich zu sein: Du machst mir ebenfalls ein wenigAngst. Du... du lebst im Spiegel?".
Martin verstand natürlich und er fing an, ihr alles zu erzählen, was er über das Leben im Spiegelland wußte. Susanna setzte sich auf ihre Couch, wobei sie mehr unbewuß den alten Kuschelteddy in die Arme nahm und konnte das Gehörte nicht fassen.

"Du meinst jedesmal, wenn ich in den Spiegel schaue und mein Spiegelbild sehe, erschaffe ich eine Welt, wo es auch eine Susanna gibt?", fragte Susanna verwirrt, als Martin seinen Bericht beendet hatte.
Martin nickte. "Aber was für eine Welt. Es ist eine Welt der Sklaven. Die Spiegelbilder wissen nicht, wieso sie immer das machen müssen, was die anderen immer tun. Die Spiegelbilder möchten ausbrechen, selber etwas unternehmen, doch das Gesetz des Spiegels fesselt sie. Die Spiegelwelt ist grausam. Als ich noch im Spiegel war, habe ich zwar alles gesehen, was sich im Spiegel reflektierte, aber nichts gefühlt. Es war kalt, gefühllos und einsam. Und nun bin ich hier in deiner Welt. Es ist zu schön hier. Hier kann ich endlich tun, was ich möchte und sei es auch nur, daß ich meinen kleinen Finger bewege. Ich bewege ihn. Ich kann fühlen. Ich kann berühren. Ihr habt es wirklich gut."
Von diesem Standpunkt aus hatte es Susanna noch nicht gesehen. Sie versuchte sich in die Welt des Spiegels hineinzuversetzen. Es gelang ihr recht gut und sie konnte nachempfinden, wie grausam es sein mußte. "Du meinst also, daß die Polizei hinter dir her ist, weil man dich fangen und untersuchen möchte, so als ob du ein Außerirdischer wärest?", fragte Susanna schließlich.
Martin nickte erneut. "Anscheinend wollen einige Leute mein Talent, in die Spiegelwelt einzutreten, ausnutzen.". Ein Geräusch erklang aus dem Wohnungsflur. "Es kommt jemand!", meinte Susanna aufgebracht, "Schnell! Versteck dich!". Mit einer Wendigkeit, die sie dem Spiegelmenschen nicht zugetraut hätte, sprang er in den Frisierspiegel hinein. Und schon öffnete sich die Tür.
Susannas Mutter kam ins Zimmer. "Warum bist du hier so ganz allein in deinem Zimmer, Susanna? Wir wollen doch gleich essen, magst du nicht kommen?"
"Ich wollte nur kurz von der Arbeit ausspannen, Mutti, ich komme gleich", erwiderte Susanna.
"Gut", meinte die Mutter "In fünf Minuten essen wir." Sie schloß die Tür wieder. "Du mußt leider im Spiegel bleiben, bis ich wiederkomme!" flüsterte Susanna in den Spiegel.
Martin, der im engen Spiegelland des Frisierspiegels hockte, bat Susanna noch um etwas, ehe Susanna ging: "Habt ihr hier im Haus keinen großen Spiegel? Einen Garderobenspiegel? Es ist etwas eng hier drinnen, wenn ich mich verstecken muß. Im Garderobenspiegel könnte ich mich freier bewegen."
Susanna dachte kurz nach. Wollte der Spiegelmensch etwa länger bleiben? Aber irgendwie fühlte sie sich bereits verantwortlich für Martin. Wie es schien, war sie seine einzige Hilfe zur Zeit.
Im Keller stand noch ein alter Spiegel. Sie würde ihn nachher holen. Sie sagte das dem Spiegelmenschen und verließ dann das Zimmer.

Die beiden BND Agenten waren ratlos. Der Supermarkt war genauestens durchsucht worden, trotzdem hatte man keine Spur des Spiegelmenschen gefunden. Die BND Leute hatten natürlich auch unauffällig alle Spiegel im Supermarkt untersucht. Doch sie hatten nichts gefunden. Irgendwie mußte es dem Spiegelmenschen gelungen sein, aus dem Markt zu entkommen. Dennoch waren sie überzeugt, daß sie ihn noch finden würden.

Susanna hatte nach dem Abendessen aus dem Keller einen alten Garderobenspiegel geholt und in ihrem Zimmer aufgestellt.
Martin war aus dem unbequemen Frisierspiegel gestiegen und in den Garderobenspiegel eingetreten. Der Spiegel bildete das Zimmer vollständig ab. Hier drinnen ließ es sich schon aushalten.
Martin schaute um sich und betrachtete sich auf einem Bord ein paar Bücher. "Du gehst zur Schule?", fragte er Susanna.
Susanna schüttelte ihren Kopf. "Ich studiere Psychologie", antwortete sie. Langsam gewöhnte sie sich daran, mit jemanden zu sprechen, der nicht zu sehen war, außer man schaute in den Spiegel. Sie blickte in den Spiegel und sah Martin, wie er in ihren Büchern blätterte. Susanna drehte sich um und sah, wie ihre Bücher scheinbar in der Luft schwebten.
"Wie machst du das bloß?", fragte sie.
Martin wandte sich an Susannas Spiegelbild und antwortete: "Wie es scheint, funktioniert alles wie im Spiegel. Wenn du vor dem Spiegel etwas hochhebst oder berührst, so wird auch das Spiegelbild hochgehoben und berührt. Für mich ist deine Welt das Spiegelbild, wenn ich mich im Spiegel aufhalte.".
Martin blätterte in einem alten Chemiebuch und fand zufällig einen Absatz über Razemate. Razemate waren Gemische aus rechts und linksgedrehten Molekülen. Plötzlich fiel es Martin wie Schuppen von den Augen.
Friedl war sehr an Naturwissenschaften interessiert gewesen und hatte auch ein paar Kenntnisse über Biologie. Martin fiel wieder ein, daß alles Leben auf der Erde aus linksdrehenden Aminosäuren aufgebaut war. Spiegelbilder hatten demnach rechtsdrehende Moleküle.
"Susanna, bitte hole mir doch mal eine Scheibe Brot.", bat Martin.
Susanna ging in die Küche und schnitt eine Scheibe Brot ab. Sie legte sie auf ihren Schreibtisch. Martin trat an den Spiegelschreibtisch heran, nahm die Scheibe Brot auf und aß sie. Susanna stockte erneut der Atem. Die Scheibe Brot auf ihrem Schreibtisch schwebte in der Luft und wurde gerade verspeist.
Martin lachte. Das Rätsel war gelöst. er mußte gespiegelte Nahrung essen, um nicht zu verhungern. Martin erklärte Susanna den Sachverhalt.
Susanna verstand sofort und lächelte "Und wie schmeckt das Brot? Kannst du wirklich alles im Spiegel genauso fühlen und berühren wie in der echten Welt?", fragte Susanna.
Martin hatte das selber noch nicht im Detail ausprobiert. Er konnte den Schreibtisch anfassen und fühlte Holz. Er trat an Susanna heran und schaute sie sich an. Wie würde es sein, wenn er sie berührte? Martin ertappte sich bei dem Gedanken, daß er Susanna sehr gerne berühren wollte. Er schaute sie etwas länger an, als er wollte und gab ihr schließlich einen zarten Kuß auf die Wange. Er fühlte warme Haut, spürte ihr dezentes, leicht fruchtiges Parfum.
Susanna schrie leise auf. Was war das gewesen? Sie hörte jemanden leise ausatmen. Martin trat wieder aus dem Spiegel hervor und berührte Susanna sanft an der Schulter. Sie drehte sich um.
"Hast du eben etwas gefühlt?", fragte Martin.
"Hast du mich auf die Wange geküßt?" Susanna lächelte dabei. Ihr war schon aufgefallen, daß der Spiegelmensch sie manchmal länger als nötig anschaute. Aber sie sagte sich, daß sie schließlich der erste und bisher einzige Mensch auf dieser Welt war, mit dem Martin Kontakt hatte. Es war halt alles neu für ihn. Das sagte sich Susanna zumindest.
Martin nickte. "Wie es scheint, ist die Welt im Spiegel völlig real für mich. Alles was ich dort tue, wirkt sich allerdings auf die Originalwelt aus. Ich habe das Brot gegessen, ich habe dich berührt und deine Körperwärme gespürt. Du hast mich auch gespürt, nur nicht gesehen, da ich keine Spiegelbilder werfe. So sieht die Sache wohl aus...".
"Bitte tue das nicht nochmal.", bat Susanna.
"Was?".
"Etwas mit mir zu tun, was ich nicht beeinflussen kann. Wenn du im Spiegel bist, kannst du alles machen, ohne daß ich irgendeinen Einfluß darauf habe. Außerdem rede ich gerne mit Leuten, die ich auch sehen kann. Meine Eltern kommen nicht einfach so ins Zimmer gestürmt, wir sollten also sicher sein... warte mal". Susanna unterbrach sich selbst und hatte eine Idee. Sie öffnete ihre Zimmertür vorsichtig und spähte auf den Flur hinaus. Ihre Eltern waren im Wohnzimmer.
"Geh bitte leise vor die Tür und klingel dann!"
"Warum?" wollte Martin wissen.
"Dann denkt die Familie, du wärest ein regulärer Besuch. Ich werde sagen, daß du ein Kommilitone von mir bist."
Und so klingelte Martin an die Haustür, nachdem er sich aus der Wohnung geschlichen hatte.
"Hallo Martin!" begrüßte ihn Susanna überschwenglich als die Tür öffnete.
Aus dem Wohnzimmer trat Susannas Mutter, die wissen wollte, wer klingelte.
"Mutti, das ist Martin, wir belegen den gleichen Kurs an der Uni und ich habe ihn für heute abend eingeladen" Susanna lächelte fröhlich und wies Martin mit einer unauffälligen Geste an, die Eltern zu begrüßen.
Martin wurde kurz den Eltern vorgestellt und danach ging es wieder ins Zimmer.

"So jetzt bist Du ganz offiziell hier", meinte Susanna, als die beiden alleine waren.
"Du bist so nett. Ich danke dir so sehr", sagte Martin, der sich auf Susannas Couch setzte.
"Schon gut", meinte sie ein wenig verlegen. "Weiß du, mit ist da ein Gedanke gekommen, warum du anscheinend von allen Seiten verfolgt wird." "Welcher?" wollte Martin wissen.
"Überlege doch, du kannst im Spiegel alles tun, einfach alles ohne aber dabei bemerkt zu werden, es sei denn die Person schaut in den Spiegel. Du kannst Dinge bewegen, manipulieren, Du könntest im Spiegel sein und eine Taste am PC drücken, um Daten abzurufen, alles ist möglich. Damit bist du der perfekte Undercover Agent!" Martin nickte. Irgendwie hatte Susanna vielleicht den Punkt getroffen. Seine Möglichkeiten waren vielfältig. Wenn jemand darüber verfügen könnte... Susanna und Martin tauschten noch eine ganze Weile Gedanken aus. Martin wollte vor allem mehr Details über die Welt da draußen wissen, die Susanna auch bereitwillig lieferte.
Dabei wurde es schließlich später Abend.
"Schon so spät!" entfuhr es Susanna, die einen Blick auf ihre Wanduhr geworfen hatte. Es ergab sich plötzlich ein Problem... Wohin mit dem Spiegelmenschen? Er konnte doch unmöglich in ihrem Zimmer bleiben. Susanna hatte einfach vergessen, daß Martin alles andere als ein normaler Besuch war.
"Du hast wohl keine Wohnung, nehme ich an?" fragte Susanna bedächtig.
Martin schüttelte seinen Kopf. "Ich gewiß nicht. Ich habe Papiere bei mir, gespiegelt natürlich, sie gehören wohl demjenigen, der im Labor die Fenster putzte. Zu ihm nach Hause kann ich gewiß nicht."
"Ja... äh... wo willst Du dann schlafen?" fragte Susanna mit gedehnter Stimme. Warum fragte sie eigentlich, dachte sie sich. Die Antwort war doch ohnehin schon klar. Sie seufzte leise. "Würde es dir etwas ausmachen, auf dem Fußboden zu schlafen?"
"Gewiß nicht", versicherte ihr Martin schnell, der sich selbst darüber wunderte, warum er sich mehr freute als eigentlich Anlaß gegeben war.
"Ich glaube, es ist besser, wenn Du dafür aber in den Spiegel gehst und dich dort auf den Boden legst", meinte Susanna. "Es ist schon so spät und ich muß morgen auch noch einige Stunden arbeiten... Was mache ich bloß", fuhr sie mehr zu sich selbst redend fort.
"Ich störe auch nicht", sagte Martin, der zusah, wie Susanna im Zimmer auf und ab ging.
"Hm? Oh ja, das wäre schön... ich bin wirklich müde." Susanna verschwand aus dem Zimmer und Martin fragte nicht, wohin sie ging. Er konnt es sich denken.

Als Susanna aus dem Bad zurückkam, war das Zimmer leer. Sie seufzte kurz und knöpfte langsam ihre Hose auf, um sich auszuziehen. Keine zwei Sekunden später hielt sie inne.
Martin stand im Spiegel und bemühte sich, schnell wegzuschauen, als Susanna ihn fixierte. "Verzeih, ich war so ganz in Gewohnheit..." Mit diesen Worten ging Susanna an den Schrank und holte etwas hervor, das Martin nicht sehen konnte. Danach verschwand Susanna wieder aus dem Zimmer.
Martin seufzte. Er registrierte überrascht, wie er gerne gesehen hätte, wie Susanna... doch die Tür ging auf und Susanna betrat das Zimmer wieder. Diesmal in einem zarten weißen -und wie Martin fand - erfreulich kurzen Nachthemd, das seiden schimmerte und zarte Rundungen erahnen ließ. Susannas Haare, die nun offen nach vorne fielen bildeten einen schönen Kontrast zu ihrem Nachtkleid.
Susanna merkte wohl, wie der Spiegelmensch sie ansah und versuchte, es zu übersehen. "Ich mache jetzt das Licht aus, ja?"
Martin nickte.
"Und bitte keine Dummheiten machen, ja?" sprach Susanna weiter.
Martin schüttelte seinen Kopf und legte sich auf den Boden. Susanna begab sich ins Bett und kramte kurz unter ihrem Kissen herum.
"Hier ein Kissen für dich, ich schlafe eigentlich mit zweien, aber du kannst ja nicht so einfach auf dem Boden liegen."
Susanna hielt es in die Luft und Martin nahm es vorsichtig aus ihren Händen. Sie sah im Spiegel, wie der Spiegelmensch sich das Kissen nahm und wieder hinlegte. Das Licht ging aus.
"Gute Nacht", sagte Susanna leise.
"Gute Nacht", kam die Antwort aus dem Nichts.
Natürlich schlief Susanna keine Sekunde diese Nacht. Martin selbstverständlich auch nicht, er hatte sich umgedreht und schaute Susanna in ihrem Bett zu, wie sie ruhig dalag und versuchte zu schlafen. Er dachte an den zarten Kuß auf die Wange vorhin. Irgendwann nickten dann beide dann doch noch kurz ein.

Mehrere Tage vergingen, in denen Martin in Susannas Zimmer lebte. Soll heißen, er lebte nachts und tagsüber im Spiegel. Wenn Susanna nach Hause kam klingelte kurze Zeit später Martin an der Tür, der sich zuvor herausgeschlichen hatte. So konnte er wenigstens den Nachmittag und Abend offiziell mit Susanna verbringen.
Und die Eltern fragten Susanna, ob sie einen neuen Freund habe. Sie hatte nur kurz genickt und sich dafür gescholten, nun schon ihre Eltern anzulügen. Zugegeben, die Tage mit dem Spiegelmenschen waren verrückt und interessant, sie hatte ihn auch irgendwie schon sehr in ihr Herz geschlossen. Er war so anders als alle anderen männlichen Wesen, die sie bisher kennengelernt hatte. Vielleicht war es auch nur die Tatsache, daß der Spiegelmensch die Kleinigkeiten des Alltags so wichtig nahm und sich daran erfreuen konnte. Was aber wohl kein Wunder war, wenn man bedachte, wie leer und sinnlos die Welt hinter dem Spiegel für die Spiegelbilder war.
Die beiden unterhielten sich oft und lange über solche und andere Dinge. Martin wollte so vieles von Susanna über die Welt der Menschen lernen und er erfuhr vieles, was er von Friedls Gedächtnis verloren hatte. Susanna kam dies immer noch irgendwie irreal vor. Hatte sie wirklich einen Freund im Spiegel?
Und es gab noch einige Dinge, die Susanna Kopfzerbrechen bereiteten...

V Eulenspiegeleien...

Es geschah, als Susanna für einige Stunden arbeiten mußte und Martin ganz allein in ihrem Zimmer war.
Martin befand sich natürlich im Spiegelland und blätterte dort in einem von Susannas Büchern, so vertrieb er sich meist die Zeit, wenn Susanna leider nicht da war. Er vermißte sie sehr. Nachts, wenn Susanna schlief, beobachtete er sie manchmal. Sie sah so friedlich und zart aus. So... Martins Gedanken wurden jäh unterbrochen als plötzlich die Tür zum Zimmer aufgemacht wurde und die Mutter das Zimmer betrat.
Eine halbe Sekunde zu spät bemerkte Martin, daß das Buch, welches er in den Händen hielt, für die Mutter scheinbar in der Luft schweben mußte. Er ließ es fallen und es plumpste zu Boden.
Ein Schreckensschrei entfuhr der Mutter, die aus dem Zimmer stürmte. Es dauerte etwa eine Minute bis sie wiederkam und sich argwöhnisch umblickte. Diese Zeit hatte für Martin ausgereicht, um das Buch zurück ins Regal zu stellen. Die Mutter schaute im Zimmer nach, sah aber nichts. Sie öffnete das Fenster und blickte nochmals um sich, ehe sie das Zimmer wieder verließ.
Das war knapp gewesen.

Es war später Nachmittag, als Susanna endlich nach Hause kam. Die Mutter fing sie gleich an der Haustür ab und erzählte ihr von dem unheimlichen Vorfall heute in ihrem Zimmer.
"Da war bestimmt nichts, Mutti", versuchte Susanna ihre Mutter zu beruhigen. "Manchmal bilden wir uns Dinge einfach nur ein." Susanna sprach noch eine Weile weiter, bis die Mutter einsah, daß sie sich auch getäuscht haben könnte. Und an Poltergeister glaube sie nun auch nicht, so daß der Vorfall auch bald von der Mutter zu den Akten gelegt wurde.
Probleme gab es trotzdem.
Susanna und Martin Sofa saßen auf dem Sofa und blickten sich schweigend an. "Du kannst doch nicht den Geist spielen!", meinte Susanna nach einer kleinen Weile schließlich ein wenig aufgebracht. "Was soll ich denn meinen Eltern sagen? Soll ich ihnen etwa am Ende sagen, daß in meinem Spiegel ein Mann haust, der sich tagsüber meine Bücher durchliest?"
Martin blickte betrübt zu Boden."Ich fühle mich halt einsam, wenn ich den ganzen Tag nur im Zimmer, nur im Spiegel bin. Ich möchte leben und nicht als Spiegelbild existieren.Ich glaube, ich störe dich nur", meinte er.
Susanna versuchte zu widersprechen, doch Martin unterbrach sie, als er fortfuhr: "Du bist der netteste Mensch, den ich kenne, Susanna, aber ich weiß, daß ich dich störe. Du kannst mich nicht ewig ernähren, ich verbrauche Nahrung und Wasser, ich habe nicht mal etwas zu anziehen, Du hast mir ein paar Sachen zum Wechseln gekauft, aber ich kann Dir doch nicht für den Rest deines Lebens im Spiegel hier wohnen..." Susanna hatte sich natürlich auch schon Gedanken gemacht in den letzten Tagen. Eigentlich mußte sie sich in ihrer Freizeit auf die Prüfung vorbereiten, bloß kam sie nicht dazu. Sie hatte auch praktisch keine Privatsphäre mehr, sie spürte Martins Blicke immer im Rücken, auch wenn er sich in den Spiegel zurückzog, um Susanna wenigstens ansatzweise allein zu lassen für eine Weile.
"Ach, Martin, ich habe auch viel nachgedacht", sprach Susanna leise, wobei sie irgendwie traurig klang. "Du hast recht, du kannst unmöglich für den Rest deines Lebens in meinem Zimmer bleiben. Irgendwann mußt du den Schritt ins wirkliche Leben wagen. Die Polizei sucht dich bestimmt nicht mehr so intensiv wie vor einer Woche noch. Die Stadt ist groß. Du kannst in der Masse untertauchen. Such dir einen Job irgendwo und verdiene deinen Lebensunterhalt.".
Martin sah ziemlich niedergeschlagen aus. "Ich habe keinen Paß, bin allein und ohne Wohnung. Wie sollte ich Arbeit finden? Ich gehöre einfach nicht in deine Welt, glaube ich.. Es würde nicht mehr lange gut gehen, wenn ich noch länger hier in der Wohnung bei dir bleibe. Abgesehen davon, daß du mich ernähren mußt, ist es schließlich dein Zimmer. Und irgendwann willst Du doch gewiß mal einen Freund oder eine Freundin mit nach Hause bringen. Ich bin förmlich in dein Leben gefallen und möchte es nicht zerstören, Susanna."
"Martin", sprach Susanna sanft. "So war das von mir nicht gemeint. Du hast mir die bisher interessantesten Tage meines Lebens gegeben. Ich..." Susanna schwieg kurz. Es machte sie traurig, Martin so zu sehen. "Ich mag dich doch sehr und wir finden gewiß einen Weg, wie du ins Leben finden kannst.
Ich brauche bloß ab und zu auch Zeit allein für mich, ich muß mich auf die Prüfung auch vorbereiten. Aber du kannst dich immer auf mich verlassen. Was ich meine ist, daß du tagsüber ruhig aus der Wohnung gehen kannst. Du mußt halt nur aufpassen, daß dich keiner von meiner Familie sieht. Und wir könnten auch mal abends gemeinsam weggehen, ins Kino, oder ein wenig spazieren, oder aber du gehst alleine mal nach draußen und schaust dich um, es gibt so vieles zu entdecken. Ich glaube nicht daran, daß du jemandem auffällst oder dich die Polizei dann findet. Ich bin jeden Tag unterwegs und treffe nie einen Polizisten, die werden doch gewiß auch schon wieder andere Dinge zu tun haben.".
Martin dachte kurz nach. "Wenn du es wirklich willst, Susanna... wenn... ich könnte doch jeden Morgen zusammen mit dir die Wohnung verlassen, du nimmst einfach den Spiegel vom Supermarkt, in dem ich mich verstecke und trägst mich mit ihm nach draußen. Wenn du dann wiederkommst, klingele ich an die Tür oder du trägst mich mit hinein. Ich kann auch gerne mal ganz alleine nach draußen gehen, um dir ein wenig Ruhe zu geben."
Susanna lächelte. Ihr wurde wieder bewußt, welche absurde Situation sie hier eigentlich hatte. Sie diskutierte hier in aller Seelenruhe Dinge, von denen sie vor einer Woche nicht einmal etwas geahnt hatte. "So machen wir es", meinte sie. "So wird es gehen!"

So wäre es gegangen. In einem hatte Susanna Unrecht gehabt: die Polizei und vor allem der BND suchten immer noch nach dem Spiegelmenschen. Ein BND Mann hatte sich nun schon ein dutzend Mal die Protokolle der Polizisten durchgelesen. Keiner hatte den Spiegelmenschen aus dem Supermarkt kommen sehen. Trotzdem glaubte er, etwas übersehen zu haben. Er blätterte erneut durch die Protokolle und fand eine Stelle, wo der Polizist, der den Personaleingang bewacht hatte, seine Aussage machte: Eine Kassiererin, Susanna Riemann, trug einen Frisierspiegel unter ihrem Arm. Sonst ist mir nichts aufgefallen...
Frisierspiegel? Spiegel... Spiegel! Der BND Agent lachte laut auf. Endlich hatte er die Lösung!

Es war Nacht und Stille herrschte in der Wohnung.
Martin lag auf dem Fußboden mit Susannas zweitem Kissen unter seinem Kopf und erhob sich geräuschlos. Er trat aus dem Spiegel vor Susannas Bett. Er schaute eigentlich jede Nacht Susanna beim schlafen zu. Irgend etwas in Martin schämte sich dafür, die Gefühle waren irgendwie verschwommen und unklar, aber nachts, da konnte er Susanna betrachten ohne zu fürchten, bemerkt zu werden. Er konnte sich jedes kleine Detail ihres Gesichts einprägen, den Schwung ihrer Augenbrauen, ihre Lippen, den Schimmer des Mondlichtes auf ihren Haaren, das leichte Heben und Senken ihres Brustkorbes unter der Bettdecke. Susanna sah so friedlich und schön aus. Martin wünschte sich, ihr einmal mit seinen Händen zart über das Gesicht und durch die Haare zu fahren. Er atmete tief ein und aus.
Er würde sie morgen verlassen. Martin wußte nicht wieso, aber er fühlte sich unwohl, nicht wegen Susanna, nein, er würde sie furchtbar vermissen. Doch ein Gefühl in ihm verhieß Unheil für Susanna, wenn er nicht bald gehen würde. Insgeheim glaubte Martin nicht daran, daß seine Verfolgung aufgehört hatte.
"Du schaust mich jede Nacht an, oder?"
Martin erschrak furchtbar, als er aus seinen Gedanken gerissen wurde. "Wie... was?" stammelte er verlegen.
Doch Susanna klang nicht etwas böse oder verärgert. "Ich habe einen recht leichten Schlaf, weißt Du, und ich habe gemerkt, wie du mich anschaust..."
"Ich... habe nachgedacht, mehr nicht, ich wollte dich nicht stören, Susanna, es tut mir leid, wenn du aufgewacht bist", versuchte Martin die Sache zu erklären.
Susanna schlug ihr Bett auf und setzte sich auf die Bettkante. Martin versuchte nicht auf ihr Nachtkleid zu starren, er kam sich wie ein dummer Junge vor.
"Komm...", sprach Susanna leise.
"Wie...?" fragte Martin.
"Die Schlafcouch ist breit genug für uns beide, vielleicht kannst du besser schlafen, wenn du nicht mehr auf dem Boden liegen mußt." Susanna wunderte sich selbst, warum sie so etwas sagte. Warum ging ihr Puls ein wenig schneller als nötig?
Als Martin zögerlich zu ihr ins Bett kam schlug sie die Decke um sich und ihn und wünschte ihm eine gute Nacht.
Wie zwei Geschwister kuschelten sich Susanna und Martin aneinander und bevor Martin tatsächlich trotz seiner Aufregung einschlief, faßte er den Entschluß, morgen zu gehen. Es war besser so für Susanna.

Es geschah am nächsten Morgen. Susanna war ohne viel Worte zu machen gerade aus dem Bett gestiegen, als es an der Haustür klingelte.
Die Mutter öffnete die Tür und drei uniformierte Polizisten sowie ein zivil gekleideter Mann standen vor der Tür.
"Frau Riemann?", fragte der Mann in Zivil.
Die Mutter nickte.
"Wir haben den dringenden Verdacht, daß ihre Tochter in eine Straftat verwickelt war. Hier ist der Durchsuchungsbefehl. Wir möchten das Zimmer ihrer Tochter durchsuchen." Der Mann hielt Frau Riemann den Durchsuchungsbefehl hin.
Die Polizisten warteten nicht lange und drangen in den Flur ein. "Susanna!" schrie die Mutter. Susanna, die sich gerade ein paar Sachen übergezogen hatte, stürzte aus dem Zimmer und sah, was los war. "Was wollen die hier?", fragte sie bestürzt, obwohl sie es selber genau wußte.
"Du sollst ein Verbrechen begangen haben!", meinte die Mutter aufgebracht. "Ich? Die spinnen wohl!", erwiderte Susanna voller Panik.
Doch die Polizisten kümmerten sich nicht darum, sondern machten sich daran, die Wohnung zu durchsuchen. "Hier ist ihr Zimmer!", erklang es plötzlich. Der zivil gekleidete Mann trat in Susannas Zimmer ein. Er schaute um sich und erblickte den Spiegel. Er trat näher und blickte hinein.
Martin wußte, was los war. Er hatte schon bei den ersten Geräuschen sich schnell etwas angezogen und war in den Spiegel hineingesprungen. Das war vielleicht ein Fehler gewesen, denn nun stand dieser Kerl vor dem Spiegel und machte ein leichtes Entkommen unmöglich. Martin machte sich große Vorwürfe, nicht bereits gestern nacht gegangen zu sein. Nun war das eingetreten, was er niemals gewollt hatte - Susanna in Gefahr zu bringen.
Es mußte doch eine Lösung geben! Er trat an das Spiegelbild des BND Agenten heran und schlug ihn in die Magengrube. Der BND Mann krümmte sich. Er sah in den Spiegel und sah Martin, wie er sein Spiegelbild schlug. Er fühlte jeden Schlag, den sein Spiegelbild erhielt.
"Schnell!", keuchte der BND Agent den Polizisten zu, die verwundert registrierten, wie sich der BND Mann scheinbar grundlos krümmte, "Nehmt den Spiegel, hebt ihn hoch gegen die Decke!". Zwei Polizisten traten mit verwirrten Mienen an den Spiegel heran und hoben ihn hoch, bis er mit der reflektierenden Oberfläche nach oben zeigte.
"Raus hier, schnell!" befahl der BND Agent.
Susanna war in ihr Zimmer gestürzt und sah das Unglück. "Nein!", schrie sie, "Das ist mein Spiegel!"
"Den Spiegel kannst du gerne wiederhaben, wenn wir seinen Inhalt haben!", erwiderte der BND Mann bissig und verließ die Wohnung. Im Hausflur drehte er sich nochmal um und wandte sich an Susannas Mutter: "Machen sie sich keine Sorgen. Ihre Tochter hatte keine Ahnung, daß sie in ein Verbrechen verwickelt war. Dieser Spiegel hier wurde ihr von jemandem aufgeschwatzt.
Dabei ist er das Privateigentum einer reichen Kaufmannsfamilie."
"Aber... aber... das ist unser alter Spiegel...", erwiderte Susannas Mutter leise. Doch der BND Mann lächelte nur entwaffnend und ging die Treppen hinunter. Die Polizisten, die den Spiegel trugen, folgten ihm.
Susanna stürzte in ihr Zimmer, zog sich rasch ein paar Schuhe an und eilte dann hinterher. Als sie schließlich auf der Straße war, sah sie auf dem Bürgersteig die Polizisten, die den Spiegel trugen.

Martin umgriff die Kante des Spiegels und zog sich nach oben. Schließlich lugte sein Kopf aus dem Spiegelrahmen empor. Er sah Susanna, die auf die Polizisten zugestürzt kam. Martin drehte seinen Kopf herum. Er mußte erreichen, daß der Spiegel senkrecht stand.
"He, du dumme Nuß! Laß mich runter!" rief er dem Polizisten zu, der den Spiegel trug. Dieser erschrak so sehr, daß er den Spiegel tatsächlich abstellte. "Nein!" schrie der BND Agent.
Martin, der ziemlich herumgewirbelt wurde, kam mühsam auf die Beine. Im Spiegelland sah er die Pfützen auf dem Bürgersteig. Es hatte die Nacht über geregnet. Ihm kam eine Idee... er sah Susanna, die nun schon fast die Polizisten erreicht hatte. "Bleib stehen!", rief er ihr zu.
Susanna hielt inne und blickte in den Spiegel.
"Ich werde in dieser Welt nie Ruhe haben!" rief Martin ihr zu. "Ich habe mich entschieden. Ich gehöre nicht in eure Welt. Susanna, zerstöre den Spiegel schnell!".
"Aber du?" erwiderte Susanna, "Ich kann nicht! Wirst du nicht verschwinden, wenn ich den Spiegel zerstöre?".
Doch Martin schüttelte seinen Kopf. "Ich will es so. Bitte Susanna. Zerstöre den Spiegel."
Das ganze Gespräch war natürlich sehr hastig verlaufen. Die Polizisten, die selbstverständlich nicht vom BND in die Geheimnisse des Spiegelmenschen eingeweiht worden waren, hatten das alles mit Erstaunen verfolgt. "Blödmänner!" hebt den Spiegel hoch! Schnell, bevor er aus dem Spiegel flieht!" brüllte der BND Mann.
Susanna sah einen losen Kieselstein, der recht groß war und auf dem Bürgersteig lag. Sie hob ihn auf und setzte mit Tränen in den Augen zum Wurf an. Sie wollte und konnte ihn nicht töten. Aber was sollte sie tun?
"Was machst du da?" rief der BND Mann, entsetzt. "Das machst du doch nicht etwa? Du würdest ihn töten, wenn du den Spiegel zerstörst!".
Inzwischen hatten sich mehrere Passanten eingefunden, die die seltsame Szene beobachteten. Susanna zögerte kurz. Sie würde ihn töten...
Martin sah die Zweifel in Susannas Gesicht. "Susanna, bitte, tue es. Vertraue mir. Bitte. Ich liebe Dich", hörte sie ihn leise in ihr Ohr flüstern.
Susanna blickte in den Spiegel... mit Tränen in den Augen, die ihr die Sicht verschleierten dachte sie an Martins letzten Satz. Und Susanna warf den Stein. Der BND Mann versuchte vor den Spiegel zu springen, doch zu spät. Der Stein zerschmetterte den Spiegel. Er zerbrach in kleine Scherben, die aus dem Rahmen fielen und auf den Bürgersteig klirrten.
"Was hast du gemacht!", brüllte der BND Mann entsetzt. Er ist weg. Tot."
Susanna schwieg und hob eine der Scherben des Spiegels auf. Nichts. Nichts... Die Passanten schüttelten den Kopf und zogen weiter. Der BND-Mann wies die Polizisten an, zu ihrem Revier zurückzukehren. Sie wußten schon beinahe zu viel. Aber es würde ihnen ohnehin niemand glauben.
Der Agent wandte sich an Susanna. "Ich hoffe, du wirst das alles bald vergessen. Es wäre besser für dich. Meine Behörde hat ansonsten genug Mittel und Wege, dich zum schweigen zu bringen..." Der BND Mann schaute Susanna zornig an, wußte aber, daß er hier und jetzt nichts unternehmen konnte. Er schüttelte seinen Kopf und ging fort.

Susanna hielt schweigend die Spiegelscherbe in der Hand und hatte die Drohung des BND-Mannes nur am Rande gehört. Martin war tot. Tot. Sie hatte ihn umgebracht. Sie... Susanna fing an zu weinen. Warum nur? Warum ausgerechnet sie?

Martin blickte um sich. Hier war es ziemlich feucht. Er schaute durch die Pfütze. Es war keiner mehr da. Martin stieß seinen Arm durch die Pfütze hindurch und umklammerte die Platte des Bürgersteigs. Mühsam zog er sich durch die Pfütze hindurch, bis er keuchend auf dem Bürgersteig lag.
Er stand schnell auf und blickte sich um. Außer Susanna, die etwa zehn Meter entfernt auf dem Bürgersteig stand, sah er nur Passanten, die nicht auf ihn achteten. Man hatte ihn nicht bemerkt...
Martin schlich sich an Susanna heran. Als er hinter ihrem Rücken stand, legte er zärtlich seine Hände auf ihre Schultern.
Susanna schrie laut auf und drehte sich um. "Du...?" stotterte sie verängstigt, "Wie... wie.. wieso... ich habe doch den Spiegel...?"
Martin lächelte. "Als der Polizist den Spiegel aufrecht hingestellt hatte, sah ich den Bürgersteig. Ich sah auch ein paar Pfützen. Als ich in eine Pfütze blickte, sah ich, wie sich der Himmel darin spiegelte.
Mir kam eine Idee. Wenn ich in der Spiegelwelt in einen Spiegel, oder wie hier in eine reflektierende Oberfläche, eintreten würde, würde ich dann nicht auch in der realen Welt in diesen Spiegel eintreten? Es war ein Wagnis, aber ich mußte es versuchen. Die anderen sollten glauben, daß ich tot bin. Deswegen solltest du den Spiegel zerstören. Während du mit dem BND Agenten gesprochen hast, bin ich in die Pfütze hineingesprungen.
Ich spürte ein leichtes Zittern, als der Spiegel zerstört wurde, aber ich lebte noch. Als ich der Meinung war, daß die Luft rein ist, bin ich aus der Pfütze gestiegen. Nur daß die Pfütze diesmal in deiner Welt war. Die Pfütze im Spiegel gab es ja nicht mehr. Hier bin ich nun. Naß aber ich lebe."
Martin war verdammt naß. Er sah aus wie ein begossener Pudel.
Susanna lächelte zauberhaft. Sie konnte das Glück gar nicht fassen. "Du hast sie reingelegt!" Martin lächelte und nickte.
"Du hast sie an der Nase herumge...", Susanna prustete los. Sie fing an zu lachen und konnte sich nicht mehr halten.
Auch Martin fand plötzlich alles verdammt komisch. Er stimmte in Susannas Lachen ein und nahm sie einfach in seine Arme. Diesmal dachte er nicht sonderlich nach. Er schmiegte Susanna einfach nur fest an sich und strich ihr mit seinen Händen durch die Haare.
Die Passanten, die an den beiden vorbeigingen, drehten sich zwar kurz um, gingen dann aber weiter. Und keiner der Passanten interessierte sich sonderlich dafür, als Susanna leise "Ich liebe dich auch" flüsterte.

Kein Ende

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