© der Geschichte: Martin Wambsganß. Nicht unerlaubt
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Der Schnee, der Wurm und die Wölfe

Es schneite wieder. Vor einer halben Stunde war für ein paar kostbare Minuten der Mond durch die dicht gepackten Wolken gedrungen. Sie hatten angehalten, nachdem das Sensorium keinerlei bedrohliche Umkreisbewegung feststellen konnte und hatten sich im Mondenschein vergnügt. Kein leichtes Spiel, nicht einmal für sie, denn der Schnee lag zu beiden Seiten der Spur meterhoch, und wer sich in ihn stürzte und umherkugelte und herumtollen wollte, ging in den lockeren Massen regelrecht unter. Aber sie machten das Beste daraus und genossen das seltene Vergnügen.
Letztendlich schneite es seit Tagen, und es schneite seit Wochen. Eigentlich schneite es immer, mochte man meinen. Natürlich war zumindest letzteres eine Wahrnehmungstäuschung.
Mareike hatte eben vermutet, daß es immer zu schneien aufhörte, wenn sie schliefen. Ergo: Würden sie sich abwechseln, so daß zu jedem Zeitpunkt des Tages und der Nacht zumindest einige von ihnen in den Kojen schlummerten, würden der Mond und auch die Sonne für längere Zeit die Macht der Wolkenschicht, die die Erde überzog, besiegen.
Und endlich gäbe es wieder wahrhafte Nacht und auch Tag.
"Jemand so Abergläubisches wie du sollte zu Hause bleiben und irgendwelche Gebete murmeln," hatte Jona, die Expeditionsleiterin, dazu nur gemeint. Und mehr gab es auch nicht zu sagen. Mareike war kräftig, kompetent und soziofähig, wie sie alle. Jedes von ihnen hatten diese oder jene Macke. Nicht anders hielten sie es miteinander aus.
"Wir versetzen dich einfach in Dauertiefschlaf," meinte Erik. "Das wäre logistisch wesentlich unkomplizierter!"
Mareike zeigte ihm die Zähne.
Eine lebendige und unterhaltsame Spannung kam auf, besser als alles, was durch ein belangloses Filmchen hätte erreicht werden können, um für ein wenig Abwechslung zu sorgen.
Jona schoß durch den Kopf, wann sie wieder für die Kopulationskammer eingetragen wäre. Solche Gedanken! Sie wurde vielleicht ein wenig rot, als ihr Eriks Bild vor Augen kam, den sie noch nie um seine Gesellschaft gebeten hatte, aber im Halbdunkel des Aufenthaltsraums konnte das ohnehin niemand erkennen.
Sie hatte weiterhin Pause, die Erinnerung an das Schneebad noch spürbar auf Haut und Haaren, griff nach ihrem Becher mit Kaffee - Heiß! Welch ein Wunder dann wieder die Wärme war! -, während in der Kommandokabine, über ihr und weiter vorne, Janosch und Marga wachsam und konzentriert darüber wachten, daß sie ungestört vorankamen, auf dem langen Weg von Refugium III, einstmals Lichtenfels bei Coburg genannt, früher, vor fünfzehn Jahren noch, nach Refugium VII, einstmals Säckingen am Oberrhein, wo Hilfe gebraucht wurde. Sie hatten vor Stunden die alte A8 verlassen und krochen nun die ehemals auch autobahnähnlich ausgebaute B27 südwärts, auf den Platz namens Tübingen zu. Die Scheinwerfer waren auf minimale Leuchtkraft geschaltet, um Niemand und Nichts anzulocken, wie das Sprichwort besagte; dafür nahmen sie die geringere Geschwindigkeit in Kauf. Hatte es jemals so leise laufende Stahlketten gegeben wie die unter ihren Füßen? Oh, sie hatten sich weiterentwickelt, in den wenigen Bereichen, wo dies noch möglich war. Die Multihybrid-Motoren summten gleichmäßig. Es herrschte Friede draußen, in der Nacht.
So konnte man meinen.

Marga beobachtete die Kontrollmonitore, während Janosch am Steuerpult saß. Der Fahrtbildschirm zeigte die unregelmäßige Spur der schneebedeckten Straße. Es ging inzwischen sanft abwärts, auf das Tal des Neckars zu. Hier lebte niemand mehr, wenn die Aufzeichnungen der letzten Kundschaft vor anderthalb Jahren noch stimmten. Dörfer und Städte, auf den alten Karten verzeichnet, die sie passiert hatten, waren schneeüberwältigte fremde Umrisse während des Taggraus gewesen. Die Außenlautsprecher hatten einmal, bald hinter der Wüste von Stuttgart, das Röhren eines Elchs übertragen, aber sie hatten ihn nicht gesehen.
Für kurze Zeit ließ das Schneetreiben nach, und Janosch regelte sofort die Scheinwerfer noch weiter herunter. "Ich mag das nicht, ich mag das nicht," murmelte er.
"Was denn?" Marga drehte sich zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich es nicht mag." "Witterung?" "Vielleicht." "Tübingen?" "Bis dorthin sind es noch acht oder neun Kilometer. Das ist üblicherweise zu weit, und außerdem wissen wir noch nicht einmal, ob es wirklich stimmt..."
Sie schwiegen eine Zeitlang. Als der Schnee wieder stärker fiel, begann Marga, ihre Bildschirme in geordnetem Blickrhythmus abprüfend, leise zu singen:
"Wir haben das Gen und das Klima bekriegt.
Doch das Gen und das Klima haben gesiegt.
Oh, welch bittere Zeit! Und es schneit und es schneit!
Und das Menschsein sich unter den Wolken verbiegt!
Und im Winter der Welt das Menschsein versiegt!"
Sie hatte eine schöne Stimme, und die Melodie des Liedes schien wie der Schnee zu Boden zu gleiten.
Nach einer Weile sagte Janosch ruhig: "Es genügt, Frau! Es macht mich wirklich bitter." Sie seufzte, verstummte aber.
Unter ihren Füßen waren jetzt undeutlich Stimmen zu hören.
"Wann ist Ablösung?" fragte Janosch in versöhnlichem Ton. "Zwei Stunden." "Dann haben wir Tübingen hinter uns." "Ja." "Aber erst kommen wir hin." "Ja." "Du könntest schon mal die Waffen überprüfen." "Tempora mutantur - homines mutantur!" Marga begann Schalter umzulegen und aufflackernde Anzeigen zu verfolgen. "Wer sagt, daß dort noch Menschen leben?" Sie schüttelte den Kopf: "Du bist zu hart. Das ist Neorassismus!" "Wenn du meinst. Laß es uns diskutieren, wenn wir vorbei sind."

Als sie schon eine Zeitlang durch das Tal fuhren, gab es Voralarm. Jona warf rasche Blicke in die Runde: alle beendeten wortlos ihre verschiedenen Tätigkeiten, prüften als erstes die umgeschnallten Handwaffen. Margas Stimme kam aus dem Lautsprecher: "Keine eindeutigen Signale, aber zu viel verdeckte Bewegung für einzelne Tiere und auch nicht das Muster einer Wildschweinrotte." "Gib uns Sicht," bat Jona. Links und rechts schoben sich Klappen nach oben, während gleichzeitig das Innenlicht ausging.
Die fünfunddreißig Meter Seitenflächen des Wurms bekamen schwarzschimmernde Augen in zwei langen Ketten. Oben drehten sich die Antennenschüsseln, unruhig, unaufhörlich.
"Ok!" sagte Jona. "Ihr wißt, daß sie in Tübingen Labore hatten, wo mit Mikroorganismen experimentiert wurde, keine Gesamtorganismusmanipulation wie bei uns. Die letzte Kundschaft hat den Platz umgangen. Wir sind ein vollständig ausgerüsteter Expeditionswurm. Wir gehen dort vorbei. Irgendwelche Einwände?"
Es war ein Ritual, denn sie alle kannten die Berichte und den Wegverlauf. Sie hörte das zustimmende Gemurmel. Jemand jaulte leise. Sie mußte grinsen. "Erik, du bist ein alter Provokateur!" "Ich habe Angst. Auch wenn wir so viele sind."
Sie wandte sich von der stillen weiten Fläche des Tals vor dem Fenster ab und drehte sich zu ihrer Schaft um. Da war schon mehr als die Hälfte der Vierzig versammelt. Konnte nicht allein diese Zahl beruhigen, wie die Erfahrung der letzten Jahrzehnte lehrte?
Sie hatten bereits alle lautlos die Bordkleidung abgelegt und trugen nur die Waffengürtel. "Es ist Voralarm," sagte Jona ruhig. "Ihr übertreibt." "Witterung," sagte Erik. Er ließ seine Muskeln spielen. ‚Schöner Mann!' dachte sie. ‚Aber ist dein Gespür ebenso eindrucksvoll?'
"Es hieß," sagte Juliane, die zu den nüchternen Denkerinnen der Schaft gehörte, "daß aus Tübingen fast niemand floh, als sie sich nach der Freisetzung noch in die Wälder verzogen. Joachim Hortick vertritt die Auffassung, daß sie in Tübingen mit vermeintlichen Gegenmitteln experimentierten, die weniger den Tod als Wut und Wahnsinn brachten. Und daß sie sich hier gegenseitig abschlachteten, als das Sterben begann."
"Das wurde diskutiert," sagte Jona. "Ich weiß das auch. Aber es gibt dafür keinerlei greifbare Beweise." "Nur unsere Stimmung jetzt," knurrte Erik. "Nach menschlichem Ermessen..." Sie verstummte, als zu viele Blicke kühl wurden. ‚Alpha', dachte sie. ‚Was sind wir geworden?'
Und als sie noch dabei war, sich ebenfalls auf Hauptalarmniveau zu bringen, raste die Sirene gellend los.

Janosch hieb die Außenfluter auf maximales Niveau. Sie reichten bis zum nördlichen Talrand. Dort war die Stadt, sie hatten sie noch nicht einmal erreicht. Linker Hand erhob sich der Klotz eines ehemaligen Fabrikgebäudes, den rechteckigen schmucklosen Formen nach zu schließen. Es wirkte unversehrt. Nahe der Straße waren nur schneebedeckte Flächen zu sehen gewesen, von längsgerichteten Wellen durchzogen, ein sinnloses Muster unter der stummen weißen Decke. Aber unmittelbar vor ihnen waren von einer Brücke Netze gefallen, und dann war der Schnee auf beiden Seiten der Straße förmlich explodiert.
"Scheiße!" hatte es ihn durchfahren. "Sie haben noch Funk und Trizi. Sie haben uns ganz einfach geortet. Und bei unserem Schneckentempo und dem Schnee hatten sie alle Zeit der Welt...!"
Margas Hände irrwischten bereits hierhin und dorthin. "Freigabe!" kam Jonas Stimme irgendwoher. Marga feuerte die erste Salve.
Sie hatten schneeverkrustete Jacken an, manche offenbar primitivere Fellmäntel. Die Betäubungsnadeln hatten wenig Probleme damit. Die erste Welle der Angreifer stürzte nieder, noch ehe sie auch nur auf fünfzehn Meter an den Wurm herangekommen waren.
Aber es waren unglaublich viele. Die Längswellen, die wie alte Erdaufwerfungen gewirkt hatten, entpuppten sich als Abdeckungen von Gräben, in denen eine ganze Armee ausgeharrt hatte. Sie krochen ins Freie, sie wühlten sich aus dem Schnee heraus: schreiende, tobende Krieger, Männer und Frauen, mit Pistolen und Gewehren bewaffnet, manche auch nur mit Beilen und Äxten, ein einziger Ausbruch von Lärm und Gewalt. ‚Es ist mittelalterlich!' dachte Janosch verblüfft.
Jonas Stimme erklang wieder: "Weiterfahrt, Janosch. Die Brücke umgehen. Ich seh' diese dämlichen Netze. Aber sie könnten die Brücke sprengen." Er riß sich aus der sekundenlangen Erstarrung, während Margas Werfer auf dem Dach rotierten und jetzt in kontinuierlichem Strom ihre Nadeln verspuckten. Nicht alle trafen, dazu schoß sie zu unspezifisch, und einige der Angreifer erreichten den Wurm, als der Stahlkoloß sich wieder in Bewegung setzte, träge ein verrostetes Randstreifenblech durchbrach und dem Punkt zustrebte, wo die Brückenauffahrt endete.
Die Verlorenen fanden nichts, um sich an den glatten Außenwänden festzuklammern, doch einige gingen nicht vollständig in der Raserei des Angriffs auf, sie warfen Seile über den Körper des Fahrzeugs, während sie neben dem Wurm herstolperten, gegenüber faßten andere danach, hielten die Seile, und dann begannen die ersten hinaufzuklettern.
Sie achteten nicht auf die Fenster, hinter denen die Besatzung sich bereitmachte.

"Wir können es nicht riskieren drinzubleiben," sagte Jona. "Auch wenn wir uns damit entäußern, denn sie werden es mitkriegen - so wild sie auch sind, ihre Falle haben sie mit Überlegung angelegt. Sie pendeln in ihrem Verstand, denkt an den Fall bei der Stelle Erfurt, vor zwei Jahren. Lebensmittel wollen sie jedenfalls keine. Dann hätten sie zu verhandeln versucht. Sie sind zu viele."
"Raus!" sagte Erik. Sie sah ihn noch einmal an. ‚Schöner Mann!' dachte sie wieder. ‚Wir sind der Instinkt - und der Verstand. Wir sind die Erben beider Welten. Wir sind die Angst. Wir sind die Ruhe.'
"Wir sind der Sturm," sagte sie dann.
Alle sechs Türen öffneten sich, und sie stürzten hinaus.
Es bedurfte des Wandlers nicht (des Mondes schon gar nicht), wenn der Zorn und die Angst groß genug waren. Noch ehe die angreifende Armee sich von ihrer Verblüffung erholt und auch nur die Waffen auf die zwischen ihnen aufgetauchten Feinde gerichtet hatte, war die Umwandlung vollzogen, und sie waren über ihnen. Mit den Klauen rissen sie Kleidung und Körper auf, die Reißzähne schnappten schier gleichzeitig in verschiedene Richtungen. Sie hetzten auf allen vieren die Reihen der Angreifer entlang, verbissen sich, ließen frei, wälzten sich tobend und doch bei Verstand unter stürzenden Feinden und griffen nach ihren Nadlern, wenn sie spürten, daß Waffen außer Reißweite auf sie gerichtet wurden, um sich sofort wieder aufheulend hochzustemmen und weiterzurasen.
Mareike und drei andere Wölfe kamen durch die Dachluke und fegten die letzten Vermummten vom Dach, die dem Beschuß entgangen waren und zwischen den rotierenden Läufen mit Äxten auf das Metall einschlugen.
Das Schreien wandelte sich: Schmerz und Entsetzen nahmen überhand. Dann wurde es ruhiger.
Der Feind war ihnen mehrfach überlegen gewesen, aber auf diesen Gegenangriff nicht vorbereitet. Plötzlich brach sein Kampfeswille. Raketen stiegen auf, offenbar gab es doch eine Art Kampfzentrale; jedenfalls zerfielen von da an alle Attacken. Janosch begriff und stoppte den Wurm. Er schaltete auf Wandellicht, und warmes Feuer drang aus den Seitenflutern und badete sie, die zerzaust, blutend oder blutverschmiert, aber, wie Jona erkannte, alle lebend, herangestürmt kamen.
Sie gingen dorthin, so wie sie vorher hierhin gegangen waren. Es war nur eine Frage des Standpunktes, dachte Jona in dem Moment furchtbarer schneidender Klarheit, als sie weder die eine, noch die andere war, als ihr Körper sich entschied, wozu die Mutation sie befähigte, in diesem Augenblick äußerster Reinigung, den kein Genetiker hatte voraussehen können.
‚Bemerkenswert!' hätten sie gesagt, ihre Schöpfer. ‚Können sie das genauer beschreiben?' Aber 99 Prozent ihrer Versuche hatten sich in der Freisetzung als katastrophal erwiesen.
Draußen lagen deren Überlebende bewußtlos, in ihrem Blut.

"Tote?" fragte Jona, noch den Bordoverall zuknöpfend. "Eher nicht!" meldete Marga. "Ein paar bluten heftig, aber wenn wir abziehen, werden sie sie holen, denke ich. Sie sind jenseits der Wandellichtschranke zum Stehen gekommen. Einige reden aufeinander ein. Aber sie sind am Ende." "Gut."
Dann kam der Schock. So wie immer. Einige weinten, als sie sich erinnerten, was sie getan hatten - und wie! "Sie werden nichts als Scheiße erzählen!" knurrte jemand. "Nichts als Horrorstories - wenn sie noch erzählen können!" "Und sie bauen uns in die alten Geschichten ein - wenn sie noch lesen können!" "Warum lernen sie nichts?" "Es ist zu kalt zum Lernen. Sie haben immer Ausreden gehabt."
Es war Mareike, die schließlich die letzte Strophe des Liedes sang. Sie hielt den Ton nicht, aber das kümmerte niemand.
"Im Sturm sind der Tag und die Nacht zerronnen.
Das Gen hat die Haut und den Körper gewonnen.
Wir sind, was sie schufen! Ihr habt uns gerufen.
Und müßt nun auch sein, was ihr selbst euch getan.
Wir wandern, doch ihr tanzt im ewigen Wahn."
"Und wer sind wir?" fragte eine Frau, die am Boden kauerte. "Wir sind die Nachkommen. Wir machen es besser." "Wir sind Würmer auf dem Angesicht der Erde. Wolfswürmer." "Kleine dumme Menschenwölfe in einem Wurmschutz."
Jona fletschte die Zähne zu einem Grinsen. "Das ist doch schon mal eine wesentliche Erkenntnis, oder?" Ihre Augen waren grau und müde. Ihre Hände zitterten noch. Sie alle spiegelten sich in diesem Zittern.
"Laßt uns weiterfahren," sagte jemand. "Wenn uns der Wolf nicht holt, können wir in drei Tagen in VII sein."
"Und retten, was zu retten ist."
Janosch, von oben zuhörend, hatte darauf nur gewartet. Die Motoren sprangen an, und die Scheinwerfer glitten über den zerwühlten, rotschimmernden Schnee, hoben sich dann sanft, fast zärtlich, sodaß die Schatten näherrückten, doch im Licht lag jenseits der Brücke die alte Straße.
Der Wurm ruckte an, und sie fuhren an dem Platz Tübingen vorüber, der hinter ihnen in die Nacht zurückfiel.

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