© der Geschichte: Nina Hernitschek. Nicht unerlaubt
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Reinkarnation

Es war jedesmal ein Wagnis. Ein Experiment auf dem schmalen Grat zwischen Tabu und Toleranz, zwischen ethischen Bedenken und Visionen, gemacht für die Zukunft.
Und da war ganz sicher auch die Faszination des beinahe Unmöglichen.
Am Anfang waren es Affen gewesen, deren Köpfe man transplantiert hatte - oder besser gesagt, deren Körper, denn das Bewusstsein blieb. Die nicht zu vermeidende Durchtrennung des Rückenmarks hatte sie allesamt zu Gefangenen eines unbeweglichen Körpers gemacht.
Aber das war alles längst Vergangenheit. Die Transplantation von Körpern war Vergangenheit, die Affen waren Vergangenheit. Nun waren es Menschen, deren Persönlichkeit und Erinnerung, deren ganzes Selbst, auf den neuen Körper übertragen werden konnte.
Hätte eine Regierung dies geduldet? Hätte eine Nation, eine Welt, dies geduldet? Nun, wenn man nichts davon weiß, so kann man auch nichts dagegen unternehmen. DLC, Donovan Life Centre, ging aus DMC, dem Donovan Medical Centre, hervor, einem der weltweit größten medizinischen Forschungsinstitute. Kliniken, in denen jede nur erdenkliche Krankheit mit fast hundertprozentigem Erfolg behandelt werden konnte, Universitäten, an denen man nur mittels Stipendium studieren durfte und deren Absolventen garantiert wurde, eine Anstellung bei DMC zu erhalten. Das wusste jeder.
DMC hatte für einige Zeit offiziell an Verfahren geforscht, Gehirne von einem Individuum auf das andere zu übertragen. Gehirne von Tieren. Dann wurden die Experimente, so schien es, urplötzlich eingestellt.
Gregory Donovan, der Leiter des DMC, verschwand einige Wochen darauf spurlos. Selbstmord in einer unzugänglichen Gegend, munkelte man.
Doch Donovan lebte. Er gründete das Donovan Life Centre.

Beinahe zwanzig Jahre später saß Gregory Donovan an seinem Schreibtisch und blätterte in den Akten seiner letzten Patienten.
Andrew W. Banu. 25 Jahre. Angehender Architekt. Nach Autounfall vom Hals abwärts gelähmt.
Bewusstseins-Implantation in Körper eines Ermordeten. Neue Identität:
Simon Sanders. Führt Studium an anderer Universität erfolgreich fort.
Manuel Right. 45 Jahre. Arbeitsloser Mechaniker. Leidet an Erbkrankheiten. Bewusstseins-Implantation in Körper eines durch Attentat Ermordeten. Neue Identität:
Samuel Randow. Findet nach kurzer Zeit neue Arbeitsstelle.
Shiva Shaki. 21 Jahre. Kam ohne Arme und Beine zur Welt. Bewusstseins-Implantation in Körper einer Selbstmörderin. Neue Identität: Carol Winter. Vielversprechender Beginn einer Modelkarriere.
Auch solch makabre Fälle gab es. Vom Pflegefall zur Schönheitskönigin. Von der Selbstmörderin zum neuen Körper der Schönheitskönigin. Lebend und behindert plus tot und schön ist gleich Traumfrau.

In jedem Fall aber wurde für den Patienten eine neue Identität geschaffen. Neuer Name, neue Papiere, neue Vergangenheit - das alte Ich wurde ausgelöscht und in höchster Perfektion durch ein neues ersetzt. Schließlich durfte niemand auch nur ahnen, dass das hier exisitierte.
Gregory Donovan legte Wert darauf, dass der neue Körper dem ehemaligen möglichst ähnlich sein sollte, damit das Bewusstsein mit dem neuen Körper besser zurechtkam - natürlich ohne jenes Makel, das den Eingriff erforderlich gemacht hatte. Aber wenn die Patienten genug Geld bezahlten, dann wurde sogar das unwichtig. Was hatte schon die schwarzhaarige Shiva Shaki indischer Abstammung mit Carol Winter gemeinsam, der Frau mit blonder Wuschelmähne und leuchtend blauen Augen?
Für all dies sorgte nicht nur Gregory Donovan allein. Es war ein Netzwerk von Beziehungen, von Verstrickungen, die zum Teil in ein juristisches Niemandsland mündeten.
Bestimmt war nicht alles verboten, aber erlaubt, das war es auch nicht.

Er blickte auf. Hendrik Carter, sein engster Mitarbeiter, legte einen neuen Stapel Papiere auf den Schreibtisch. "Gregory, wir sind wirklich gut", meinte er, "Schon wieder so viele Anmeldungen."
Gregory Donovan nickte nur. Es sollte ihm recht sein. Er und Hendrik Carter verdienen das Geld, und die anderen haben die Arbeit damit. Eine seltsame Aufteilung.
Hendrik ging wieder und ließ ihn allein. Nur die Überwachungskamera, die er hatte installieren lassen, gab ihm das unbestimmte Gefühl, nicht wirklich allein zu sein.

Kurze Zeit darauf kam Hendrik wieder in Gregory Donovans Arbeitszimmer. Ohne ein Wort zu sagen, setzte er sich auf den Stuhl gegenüber seines Vorgesetzten.

Hendrik zog ein schmales Kärtchen aus der Tasche. NEWTEC stand in schmalen, geraden Lettern darauf. "Ich nehme an, Gregory", sagte er mit einem merkwürdigen Blick in den Augen, "Ich nehme an, Sie wissen nicht, was NEWTEC ist. Nun, Ihre Verfahren sind nicht einzigartig. Da drauße" - er deutete nach oben - "Da draußen ist das schon längst legal. Niemand stört sich daran. NEWTEC war schneller. NEWTEC war mein Retter."
Hendrik stand auf und hielt ihm das Kärtchen direkt vor die Augen. "Ich bin Simon Cray. Erinnern Sie sich? Der Mann, der für all Ihre grausigen Experimente herhalten musste und dessen Körper, dessen Leiche, in einer Nacht verschwand. NEWTEC konnte den letzten Funken meines Lebens retten. Mein Körper ist nun ein anderer, aber ich habe nicht vergessen. Alles hat sich unwiderruflich in meine Gedanken eingebrannt."
Hendriks Worte hämmerten in seinem Kopf. Und als er das Kärtchen von seinen Augen wegnahm, war plötzlich der ganze Raum voller Sicherheitsbeamter. Sie sahen alle gleich aus.

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