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Die Präsenz der Verneinung

Auf dem Weg zum medizinischen Labor fühlte Frank Parker wie ein unheimlicher Schatten über der Forschungsstation schwebte, hervorgekrochen aus den geheimnisvollen Tiefen des dunklen Jupitermondes Kallisto. Die mysteriösen Todesfälle der jüngsten Zeit hatten die Gesichter der Mannschaft gezeichnet. Die mächtigen Ausgrabungsroboter standen still, alle Arbeit war eingestellt, zumindest bis Klarheit über die Todesursache zweier Geologen und eines Technikers herrschte.
Parker betrat das Labor und erlaubte sich einen verstohlenen Blick auf die Körper unter den glänzend schwarzen Plastikplanen.
Doktor Mira Doreen saß hinter dem Schreibtisch, ihr Gesicht so weiß wie ihr Kittel. Ihre Kaffeetasse ruhte unangetastet auf einem Notizgerät; der bitterschwarze Inhalt, so kalt wie die Asche ihrer achtlos heruntergebrannten Zigarette.
"Nun, Doktor? Haben Sie etwas für mich?" Parker versuchte seine Aufregung zu zügeln. Als Leiter der kleinen Station musste er auch jetzt Ruhe bewahren. Sein schwerer Verlust änderte daran nichts. "Wissen Sie, woran die Drei gestorben sind?"
Doktor Doreen schüttelte den Kopf und blickte erschöpft von der Konsole auf.
"Ich ... ich weiß nicht ...", haspelte sie dünn. Fast ängstlich schielte sie zu den verhüllten Leibern. Doch dann holte sie tief Luft und erklärte fest: "Ich sage es Ihnen direkt, Frank! Die Körper, die dort liegen, können niemals gelebt haben!"
Für einen Augenblick hätte Parker die Ärztin am liebsten angeschrien und sie daran erinnert, dass sich auch seine Frau unter den Toten befand. "Sind Sie sicher, dass Sie sich ihrer Aufgabe gewachsen fühlen?" fragte er stattdessen trocken.
"Tut mir Leid Frank, aber eine bessere Erklärung kann ich Ihnen nicht geben."
"Sie sind Ärztin! Ich will von Ihnen keine Verrücktheiten hören!"
"Was wissen Sie über Chromosomen, Frank?"
"Nicht viel! Ich bin Geologe, kein Genetiker."
"Vielleicht wissen Sie, dass Chromosomen das Erbgut enthalten."
"Worauf wollen Sie hinaus?"
Doreen errang sich Bedenkzeit, indem sie an dem kalten Kaffee nippte, dann erzählte sie: "Meine Analysen zeigen auf, dass diese Körper keine genetischen Merkmale mehr besitzten. Etwas hat sie ihrer Erbanlagen beraubt und nur eine unbekannte kristalline Substanz zurück gelassen. Sie sehen noch aus wie Menschen, aber ihr Kern basiert auf Elementen, die mir völlig unbekannt sind."
"Ausgeschlossen! So etwas ist unmöglich!"
"Das sage ich mir auch. Aber die Untersuchungen lassen keine Zweifel offen."
Parker setzte sich Doreen gegenüber und vergrub sein Gesicht in den Händen. "Aber wie? ... Was?"
"Fühlen Sie es nicht?" flüsterte Doreen besorgt. Parker sah auf.
"Etwas ist da, seit wir dieses Artefakt freigelegt haben. Alle fühlen das! Es macht mir Angst, Frank." Doktor Doreen verzerrte ihr Gesicht, als müsste sie eine aufkommende Träne unterdrücken. "Sie lauert!" hauchte sie kaum hörbar. "Diese Präsenz!"
"Doktor bitte!"
"Sie müssen es doch spüren!"
"Einbildung! Nichts weiter! Ich weigere mich, kindischen Fantasien die Schuld am Tod meiner Frau zu geben."
"Und ich sage ihnen irgendetwas ist bei uns! Wir haben es mit dem Auge frei gelegt. Verstehen Sie denn nicht?"
"Ich verstehe nur eins! Wir haben drei ungeklärte Todesfälle und sind zudem dabei, durchzudrehen. Ich habe meinen Entschluss zu lange hinausgezögert. Wir verlassen Kallisto."

Adam Eden befand sich schon auf dem Rückweg, als ihn die Nachricht von der Evakuierung erreichte, denn nach unzähligen Fotos von dem Auge hat ihn schließlich der Hunger gepackt. Zu Fuß, in dem schweren Raumanzug, würde er ungefähr zwei Stunden zur Station benötigen. Der junge Forscher sehnte sich das Mondfahrzeug herbei, doch das Gefährt war defekt und Nick der Techniker tot.
Nicht nur der Hunger nagte an ihm. Da saß noch etwas Anderes, tief in seinem Geist.
"Ist da jemand?" Adam schreckte herum.
Kalistos trostlose Rinde, gegossen aus Steinen und Eis, wirkte wie ein Spiegelbild seiner innersten Ängste. Sonst nichts; kein Zeichen weiteren Lebens, und doch glaubte er sich nicht alleine.
"Hör auf, Gespenster zu sehen. Nur du bist hier draußen! Nur du!" Doch das Gefühl, eine unerklärbare Präsenz sei gegenwärtig, ließ ihm mehr nicht los.
Noch einmal blickte er zurück auf das gähnende Kratermeer des Mondes. Ohne Gebirgszüge oder Schluchten, öde und leer.

Parker starrte auf seinen Bildschirm, als Yamagata Yamori den Kontrollraum betrat.
"Vorbereitungen abgeschlossen, Frank. Doktor Doreen lädt im Medlab noch die Krankenakten herunter, die Übrigen befinden sich an Bord der Fähre. Wir können starten, sobald Adam zurück ist." Auch Yamori sah auf den Monitor, darauf flimmerte ein schwarzes, ovales Konstrukt, dessen Enden sich leicht zuspitzten und so die Form eines halb geschlossenen Auges annahmen. Das Auge blickte Parker und Yamori beinahe zornig an, selbst auf den Aufzeichnungen wucherte in dem schwarzen Gebilde mit den türkis leuchtenden, arabisch anmutenden Schriftzeichen, etwas Bedrohliches.
"Der Tag, an dem es passierte", erkannte Yamori.
Parker nickte bekümmert. Der Tag, an dem sie es fanden, der Tag, an dem er seine Frau verlor.
"Der erste Beweis einer extraterrestrischen Existenz. Was glaubst du? Wer hat dieses Ding gebaut?"
"Vielleicht niemand! Vielleicht war es immer schon da."
"Was soll das, Frank? Natürlich hat es jemand gebaut!" Der Anflug eines freudlosen Lächelns glitt über Yamoris Lippen.
"Hier!" Parker reichte Yamori ein Dotbook, ein kleines tragbares Terminal. "Der Computer ist mit den letzten Berechnungen fertig. Sieh dir das Altersdiagramm des Auges an."
Yamori blickte darauf, sah zu Parker, blickte abermals darauf. "Unglaublich! Das Auge hat die Berechnungsskala von zehn Milliarden Jahren gesprengt."
"Und ist damit doppelt so alt, wie die Sonne. Mindestens! Also! Woher kommt es?"
"Aber das heißt doch nicht, dass es nicht erschaffen worden ist. Bestimmt hat es eine hoch entwickelte Spezies als Kunstwerk gesehen."
"Ein Kunstwerk? Wohl kaum! Ich denke, es existiert zu einem anderen Zweck."
Yamori stützte sich auf den Monitor und massierte seine Stirn. "Aber zu welchem Zweck, Frank?"

"Es kommt näher!" krächzte Adam in das Funkgerät. "Hört ihr mich nicht?"
Sinnlos! Der Kontakt war unterbrochen. Adam stolperte weiter, getrieben von einer ungewissen Bestürzung. Er hatte es schon lange unterlassen, hinter sich zu blicken. Seine Furcht, etwas Unbeschreibliches zu entdecken, hatte mit jedem Schritt zugenommen, jeder Gedanke schrie nach der omnipräsenten Existenz, die sich, trotz ihrer Allgegenwärtigkeit, unaufhaltsam zu nähern schien. Die Station lag nur noch wenige Schritte von Adam entfernt. Er legte die letzten Meter im Eilschritt zurück.

"Es verneint das Leben, Yamagata! Doktor Doreen sagte, man habe die Toten sämtlicher genetischer Eigenschaften beraubt. Wenn das zutrifft, sind sie nicht einfach gestorben. Etwas hat ihr Leben zu Nichts negiert, so als wären Sonja, Nick und Alexia nie geboren worden. Ungeborene Tote! Yamagata! Vielleicht ist nicht Tod das Gegenteil von Leben, sondern ein grauenhafter, existenzverneinender Zustand, für den wir noch keinen Namen haben."
Parkers Faust hämmerte gegen die Konsole, der dumpfe Schlag der Hilflosigkeit hallte durch den kaltmetallischen Raum.
"Ich habe nicht vor, herauszufinden, ob du recht hast, Frank. Verschwinden wir von hier. Wir können Adam unterwegs aufsammeln."
"Nein! Wir fliehen jetzt nicht kopflos in den Weltraum. Adam muss jeden Moment kommen!"

"Jetzt meldet euch schon! Ich glaube, etwas ist hinter mir her." Adam krachte ungebremst gegen das Außenschott.
"Adam?" klang Parkers Stimme in seinem Hörer.
"Gott sei Dank! Ich dachte schon, ihr seit ohne mich weg. Lass mich rein, Frank!"

"Schnell, Yamagata! Öffne das Schott!"
"Mit wem sprechen Sie da?" In diesem Augenblick betrat Doktor Doreen den Kontrollraum.
"Alles in Ordnung Doktor! Es ist Adam", meinte Yamori und griff nach dem Hebel für den Öffnungsmechanissmus.
"Adam?" Doreen stutzte kurz, bevor sie begriff. "Um Himmels willen!" Sie stürzte nach vorne und stoppte Yamoris Hand. "Nicht hereinlassen!"
"Hey! Was ist los bei euch?" fragte Adam durch den Sprecher.
"Sind Sie wahnsinnig, Doktor?" rief Parker.
"Das dürfen Sie nicht!" Doreen stemmte sich hartnäckig gegen Yamori, der suchte Parker mit fragendem Blick. "Doktor! Adam ist da draußen und scheinbar wird er verfolgt ..."
"Was für ein Adam?" schrie Doreen verzweifelt. "Es gibt keinen Adam!"
"Doktor Doreen!"
"Verstehen Sie doch, Frank! Was immer da draußen ist, es ist keiner von uns."
"Doktor Doreen!"
"Kommen Sie doch zu sich! Alle beide!"
"Verdammt! Lasst mich rein!" Die Stimme durch das Mikrofon.
"Bitte Doktor, beruhigen Sie sich", beschwor sie Yamori freundlich. "Wir alle haben eine Menge Stress hinter uns." Er versuchte sich aus Doreens angstgeeisten Griff zu lösen.
"Also gut, Frank!" keuchte sie. "Dann schildern Sie doch ein Erlebnis mit Adam. Was fällt ihnen spontan ein?"
"Sie benehmen sich lächerlich! Ich arbeite mit Adam viele Jahre zusammen. Ich ..." Parker versuchte angestrengt eine Erinnerung an Adam vor der Entdeckung des Auges in sich wach zu rufen. Doch bald wurde sein Gesicht von Verzweiflung überschattet. "Wie ist das möglich?"
"Ich weiß es nicht", weinte die Ärztin.
"Und wir haben auf Adam gewartet", kicherte Yamori. "Wir haben auf etwas gewartet, das nicht existiert!" Dann folgte irrsinniges Gelächter, fern jeder Hoffnung.
"Yamagata hat recht, Frank!" quoll eine unwirkliche Stimme aus dem Sprecher heraus. "Ich existiere nicht!
Etwas wie ich, wird auch nie existieren."
Das Wesen wusste wieder, was es war. Für kurze Zeit hatte es sich in dieser ungewohnten organischen Puppe, in dieser modellierten Falle für die fremde Spezies verloren und ein Bewusstsein, wie ihres entwickelt. Die Fremden besaßen einen überraschend starken Charakter. Eine außergewöhnliche Gattung, dachte das Wesen.
Vielleicht könnte sich ein Besuch ihrer Brutstätte lohnen. Zuvor aber wollte es endlich seinen Hunger stillen. Das Schott hielt es nun nicht mehr auf.

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