© der Geschichte: Timo Lüdtke. Nicht unerlaubt
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Durst

Der moderige Geruch feuchter Rinde, die überall neben den Bäumen lag, raubte mir den Atem. Aber ich musste weiterlaufen. Ich wusste nicht wie nah sie schon an mich herangekommen sein könnten. Wirklich sicher, dass sie mich überhaupt verfolgten, war ich mir aber immer noch nicht. Die Möglichkeit bestand. Immer weiterlaufen.
Ich hatte großen Durst. Aber seit die Nachrichten im Jahre 2011 aufdeckten, dass unser recyceltes Wasser seit Jahren für alle möglichen Krankheiten verantwortlich ist, ist gesundes Wasser nicht nur knapp, sondern selten geworden. Das ist jetzt 2 Jahre her. Nur die Reichen, die Mitarbeiter und das Weltparlament selbst hatten noch brauchbare Wasserleitungen in ihren Häusern, oder konnten es sich leisten, Trinkwasser zu bestellen. Gesundes Wasser war nur aus großer Tiefe und mit speziellen Maschinen zu fördern. Wasser wurde sehr teuer.
Nie war etwas so wertvoll wie Wasser. Tiefer im Wald lebten die Wassermänner. Das waren Diebe, wie ich. Sie zapften die Pipelines der Industriekönige an und gaben den Durstenden für Dienstleistungen Wasser. Zu ihnen musste ich es schaffen. Man sagte, sie lebten so gut versteckt und so autark, dass es Niemanden möglich sein wird sie zu finden, geschweige denn sie zu zerschlagen. Das Weltparlament sagte, es betrachte die Taten der Wassermänner als Mundraub und da diese, wie man sagt, Gewalt verabscheuten, ahndeten sie sie nicht wirklich. Ich rannte und im meinem Kopf lief alles noch einmal ab wie ein Film.

Im Jahre 2009, dass war viel früher als ich damals angenommen hätte, haben die Hauptaktionäre der 5 größten Firmen der Erde, der Bevölkerung der Erde klar gemacht, welche Macht sie ihnen gegeben hat. Durch den hirnlosen Konsum unnatürlichster Produkte verkauften sich die Bürger der Welt billiger, als ich es mir in meinen schlimmsten Befürchtungen ausmalen konnte. Und da die Politiker sich abhängig von der Industrie gemacht haben und die zuständigen Behörden die Beweggründe der ersten großen Fusionen nicht erkannt haben, gab es niemanden, der dem einen Riegel vorschieben konnte. In den Augen der Aktionäre und vor dem Gesetz war das alles legitim. Bis zum 11.9.2009.
Unser Land wand sich als letztes Europas von den Amerikanern ab. Wir Europäer besonnen uns, seid dem Anfang des neuen Jahrtausend, wieder auf unsere Wurzeln. Kunst und Kultur. Wir schworen bald dem Konsum ab. Wir legten unsere Masken ab. Werte, wie Ehre und Liebe hatten Hochkonjunktur. Alle Länder, außer Amerika und seine Verbündeten, die weiter an den technologischen Fortschritt und die Konsumpolitik glaubten, setzen das Wohl der Menschheit an erste Stelle. Kriege entstanden gegen Länder, die menschenunwürdig handelten. Der Zeitgeist erkannte die Kraft des Denkens. Wir respektierten einander.
Die Gier nach technologischem Fortschritt und das andressierte Konsumverhalten des größten Teils der Menschheit forderten letztendlich ihren Tribut. Wie ein Lauffeuer schien allen klar zu werden in welche Leere wir uns dadurch brachten. Es begann, wie gesagt, am 11.9.2009, von da an betrachtete man die Welt nicht mehr in Länder aufgeteilt. Die 5 Industriekönige teilten die Erde unter sich neu auf. Das konnten sie tun, niemand konnte etwas dagegen machen. Denn sie hatten die Kontrolle über das Wasser, den Strom und die Computer, sowie über die Verteilung der Arbeitsplätze und die Lebensmittelproduktion. Sie entmachten die Militärs, indem sie sie günstig mit Hightechwaffen ausrüsteten. Waffen, in ihrer Effektivität nie da gewesener Art. Die alte Munition verschossen die Regierungen in Kriegen, die im Grunde nur entstanden um mehr Geld zu machen. Die Industriekönige haben sich zur Produktion dieser neuen Waffensysteme so gut wie alle konventionellen Waffen, die nicht verbraucht waren, geben lassen. Insbesondere Schusswaffen. Alles unter dem Mantel der Abrüstung. Am 11.9.2009 verkündeten sie, dass die Computerchips in den neuen Waffensystemen heute ihren Geist aufgeben. Das könnte die Welt symbolisch sehen. Keine Flugzeuge, Panzer, Schiffe. Nur noch wenige Waffen der alten Art. Eine Sekunde Später fand jeder, der vor einem Bildschirm saß, folgenden Text vor:

Wir verkünden der Menschheit, dass sie ab heute, dem 11.9.2009, frei ist.
Wir erklären alle Politiker für überflüssig und setzten sie hiermit ab.
Jeder der bis heute Politiker war, kann sich in einem unserer Büros melden um ein neues, nützliches Aufgabengebiet zu erhalten. Alle Löhne unserer Mitarbeiter, von Beamten, Firmenvorständen, Personen des öffentlichen Lebens und so weiter, werden neu gestaltet. Das heißt gesenkt. Wir selber richten unsere Löhne, unserer Hab nach dem Durchschnittsverdienst der Weltbevölkerung. Wir orientieren uns in unserer Philosophie an den sich überschneidenden Ideologien aller Religionen und Glaubensrichtungen.
Unsere Intention ist es JEDEM Menschen ein gesundes Leben zu ermöglichen und wir setzten uns primär dafür ein, jedem zu ermöglichen zu sich selbst zu finden. Gewalt wird extrem stark bestraft. Unsere Firmeneigenen Sicherheitsdienste ersetzen die jetzige Polizei. Gehen sie weiterhin ihrer Arbeit nach. Sie erhalten weiter ihren Lohn. Die Wohnung in der sie zur Miete wohnen gehört ihnen. Zahlen sie jedoch bis auf weiteres 10 Monate ihre Miete. Daraus resultierende Enteignete melden sich bitte zur Vergütung in einem unserer Büros.
Nahrungsmittel werden teurer. Denn jedes Produkt, das am 9.11.2010 noch zu haben sein wird, wird größtmöglich gesundheitsfördernd sein und maximale Umweltfreundlichkeit besitzen. Es warten hunderte, konsequenter Projekte zur Gesundung der Welt. Jeder der aufgrund der neuen Ziele keine Arbeit mehr haben wird erhält eine Aufgabe seiner Intention und Möglichkeiten entsprechend. Produktionen von nicht gesundheits- oder umweltkonformen Produkten werden umgestellt und umstrukturiert.
Der Fortschritt der Welt wird ab heute mit einem, der Erde und dem Leben würdigen Maß gemessen.
Das Weltparlament wird aus den bekanntesten Philosophen, Gelehrten aller Wissenschaften und geistlichen Oberhäuptern gebildet. Denn auch unsere neue Weltordnung kommt leider nicht ohne Menschen aus, die von "oben" Richtungen angeben.
Das erste, was ich dachte als ich das las war, dass es dafür vielleicht etwas zu spät sei. Als ich meinen Leuten davon erzählte, erfuhr ich, dass alle dachten es wäre ein Computervirus. Ein schlechter Witz. Aber es folgte eine vierwöchige, stromlose Zeit. Es gab nicht viele, die noch lachten. Viele starben. Allen war klar, dass es ernst wurde. Als der Strom wieder da war, war folgendes auf den Bildschirmen zu lesen:

Ihnen wird klar sein, warum diese Wochen und diese Verluste sein mussten.
Es werden keine Steuern mehr bezahlt. Alle Schulden werden erstattet.
Diebstahl und Korruption sind nach Gewalttaten die höchst zu bestrafende Handlungen.
JEDER wird nach seinen Anlagen und Einsatzwillen zur Genesung der Welt eingesetzt und bezahlt.
Luxus wird geprüft. Niemand hat das Recht auf wertvolle Dinge, deren Produktion in irgendeiner Form mit der Ausbeutung irgendeiner Lebensform zusammen hängt.
Hörte sich schön an. Die Wahrheit ist, dass die Arbeitslosenquote weltweit auf 79% stieg. Terror und Gewalt herrschten. Normale Supermärkte, wie ich sie noch kannte wurden geplündert und schlossen.
Hochsicherheitskaufhäuser bildeten sich auf dem Land. Die Gegenden der Büros der neuen Weltregierung waren weiträumig von deren Gegnern umlagert. Niemand konnte in so ein Büro um sich einer Aufgabe zuteilen zu lassen. Den Industriekönigen kam es sicher entgegen, dass sich das Volk selbst fernhielt. Aber die Gewalt zog Elend und Krankheit mit sich. Nur die Mitarbeiter der Firmen und das Weltparlament hatten Geld um die Produkte der 5 Industriekönige in den Hochsicherheitskaufhäusern erweben. Das waren 18% der Menschheit.
Die Industriekönige erklärten, dass sie Aufgrund ihrer ehrlichen Intention nicht mit einer derartigen Eskalation der Gewalt gerechnet hätten. Sie waren nicht darauf vorbereitet. Ihre Gegner sollten die Waffen ruhen lassen. Eine Organisation und Einteilung der Menschen, ihren Wünschen entsprechend, sei nur durch Kontakt möglich.
Die Industriekönige wollten auf Gewalt verzichten. Es hatte sich also nichts geändert. Bei dem Versuch der legitimen, menschlichen Neuverteilung gab es zu viele die sich entmündigt und beraubt fühlten. Sie ertrugen es nicht, keine Wahl zu haben. Es gab nach wie vor arm und reich. Gewalt, Angst und Korruption. Und es war schlimmer als je zuvor.

Meine Gedanken spornten mich an. Ich rannte immer tiefer in den Wald. Es konnte nicht mehr weit sein. Erschöpft und voller Wut fiel ich wie in Zeitlupe über einen kleinen Felsen. Ich dachte beim hinfallen daran, wie ich als Kind durch diesen Wald lief. Im Kopf die verrücktesten Ideen und Träume. Solche Träume, wie sie Kinder haben, die sich keine Sorgen machen müssen. Es wurde schwer vor den Kindern zu verbergen, wie schlecht es um die Menschheit stand. In dem Moment, als mir ein so selten gewordenes Kinderlachen vor dem geistigen Auge erschien, schlug ich mit dem Gebiss auf dem kleinen Felsen auf, über den ich eben stolperte.

Als ich wieder zu mir kam, war mir sofort klar, dass mich die Wassermänner gefunden haben mussten. Es war dunkel und ich lag auf einer Pritsche unter einem Dach aus Ästen und Blättern. Mir war sehr warm. Mein Kiefer war geschwollen, aber man schien mich zu verarzten. Sprechen war mir nicht möglich und ich bemerkte zwei Schläuche, die in meinem Arm steckten. Ich wurde also behandelt. Jemand kam auf mich zu und kümmerte sich um mich. Kinder spielten wohl irgendwo, ich hörte sie lachen. Dann verlor ich wieder das Bewusstsein.
Als ich die Augen wieder öffnen konnte schneite es. Ich lag in einem Bett und blickte durch ein Fenster.
Mich ließ die Frage nicht los, wie lange ich hier sein könnte. Und wo. Ich hatte großen Durst.
Der Versuch zu sprechen war mühsam und sofort machten sich Zweifel in mir breit, dass mich überhaupt jemand verstehen könnte. Ich fühlte mich jedoch sicher. Später hörte ich dann, wie man über mich sprach. Bald darauf kam jemand zu mir und hielt mir ein Glas Wasser an den Mund. Ich war wie starr. Nur den Kopf konnte ich etwas bewegen. Vorsichtig hielt ich meine Oberlippe an die Wasseroberfläche. Als ich fühlte, dass Zähne in meinem Mund fehlten, schloss ich die Augen. Im selben Augenblick wurde mir bewusst, dass ich nie die Personen sah, die sich um mich kümmerten. Ich schenkte meine Aufmerksamkeit nur dem, was ich haben wollte, oder glaubte zu brauchen.
Wenn diese Leute die Wassermänner waren, musste ich ihnen sagen, dass die Pipelines, die sie anzapften, von den Industriekönigen entdeckt worden sind. Anscheinend werden sie bald Roboter durch die Rohre schicken. Wenn so ein Roboter eine "illegale Abzweigung" findet, vergiftet er diese Abzweigung kurzer Hand. Hunderte von Litern Wasser jeden Tag. Bis schließlich alle, die von dieser Quelle lebten sterben werden. Diese Maßnahme wurde in einer demokratischen Abstimmung, an der 96% der Aktionäre, Angestellten und Parlamentarier teilnahmen mit einer Mehrheit von 83% beschlossen. Der tägliche Verlust von 3,8% des Wassers, durch Diebe und Attentate führte zu einer Erhöhung des Wasserpreises um 6,1%. Die Mehrerhöhung resultierte aus Forschungskosten, die bei der Suche nach der Quelle des Verlustes entstanden sind.
Doch wo war ich hier? Ich konnte immer noch nicht sprechen. Mein Körper schien gelähmt. So lag ich also mit geschlossenen Augen da, die Oberlippe in diesem Glas Wasser und dem Gefühl seid Monaten nichts getrunken zu haben. Ich öffnete meine Augen und nahm meine befeuchtete Lippe wieder aus dem Glas, ohne etwas zu trinken. Doch ich fühlte mich schwach, alles war ungenau und schwammig. Eigentlich hätte ich etwas trinken müssen. Die Frau, die ich mir gegenüber erblickte schien in meinem Alter zu sein. Sie trug einfache Kleidung, Mode der alten Zeit, als es so etwas wie Mode noch gab. Sie sagte immer wieder, dass ich es gut machen würde und das viel Wasser in dem Becher wäre. Selbst wenn ich es könnte, ich weiß nicht ob ich ihr sagen würde was die Industriekönige mit dem Wasser vorhaben. Vielleicht ist das hier eine Falle, dachte ich plötzlich, aus keinen besonderen Grund, doch mir viel wieder ein, wie ich unter einem Dach aus Ästen lag, als ich das erste Mal zu mir kam. Das kann der Ort gewesen sein, an dem die Wassermänner lebten. Jetzt lag ich jedoch in diesem Zimmer und fühlte mich schwächer denn je. Wie viel Zeit war vergangen?
Sie lächelte mich an und ich empfand nichts als Mistrauen. Obwohl man sich offensichtlich um mich kümmerte, erfüllte mich alles in diesem Raum mit Skepsis. Die Wärme dieser führsorglichen Frau, das Wasser und sogar der Blick aus dem Fenster auf den Schnee erweckte weitere Skepsis in mir. Als ich erneut das Bewusstsein verlor, sah ich grade noch, wie die Frau das Wasser aus meinem Becher in einen größeren Kanister füllte. Das nächste, woran ich mich erinnern kann ist ein Gespräch, von dem ich hoffe, dass ich es nur geträumt habe.
Meine Augen ließen sich nicht öffnen, aber in den Stimmen, die ich hörte, erkannte ich etwas Vertrautes, was ich mir jedoch nicht erklären konnte. Man sprach davon, dass diese Wassermänner alle Tod seien, qualvoll hingerichtet. Ihr Wasser soll vergiftet worden sein. Die einzige Strafe, die angemessen schien, so sagten die Stimmen. Ich verstand nichts. Was sollten diese Robin Hoods, die mir so geholfen haben, denn schon getan haben?
…das sind im Schnitt 35 bis 45 Liter reines, gesundes Wasser, pro Mensch, hörte ich sie sagen. Sie haben 8 Liter aus mir herausgeholt. Diese Frau hatte mich bei Bewusstsein gehalten und mich mit einem Lächeln im Gesicht dehydriert. Ich bin vor denen die es gut meinten weggelaufen, direkt in die Arme derer, die ihresgleichen umbringen. Ein Mensch bedeutete für sie nicht mehr, als Wasser für einen Monat. Das alles ist jetzt etwa ein Jahr her.Es waren nicht alle Wassermänner tot. Eine Gruppe von Ihnen hat mich befreit. Man hat mich wieder halbwegs aufgepäppelt. Die Pipelines sind inzwischen leider sicher. Bevor wir an einer Stelle durch den Panzer sind, wartet innen schon ein Roboter um unsere "Abzweigung" zu vergiften. Die Wassermänner sind offiziell tot und damit die Gerüchte um Wasser, dass aus Menschen gewonnen wird. Und nur wenige, wie ich wissen, dass es in Wirklichkeit die Industriekönige waren, und sind, die Wasser aus den Leuten zapfen. Die Wassermänner sind aber offiziell tot. Trotzdem tauchen hier und da immer mal ein paar Liter auf die sich viele Durstende teilen. Jeder ahnt, dass es ein Menschenleben gekosten haben muss, aber alle sind dankbar, wenn sie auch nur einen kleinen Schluck bekommen. Ich musste bei meiner Suche lernen, dass ich nur in mir selbst finden kann, was ich da draußen suche.
(doch interessiert es jemanden was das bedeutet?)

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