© der Geschichte: Nina Munk. Nicht unerlaubt
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Bewegte Bilder

Sie blinzelte. Es blendete sie, dieses gleißende Licht, das ihren Augen weh tat. Die Quelle war schwer auszumachen, sie schien von überall und nirgends zu kommen. Sie versuchte den Kopf zu drehen, doch das Licht verfolgte sie wie ein anhänglicher Liebhaber. Einmal noch kniff sie die Augen zusammen, dann war es vorbei. Durch winzige rote Lichtpünktchen hindurch konnte sie gerade noch erkennen, wie das kleine Mädchen in dem weißen Kommunionskleid den goldenen Handspiegel zuklappte und kichernd davonlief. Eine Weile sah sie den blonden Zöpfen nach, die schon bald hinter einer kleinen Baumgruppe verschwanden und mußte selbst schmunzeln. Etwas hatte sie vor diesem kleinen Streich noch beunruhigt, ein Gedanke, der an ihrem Bewußtsein nagte, etwas, an das sie sich erinnern mußte wie an einen unangenehmen Zahnarztbesuch, doch nun war alles wie weggeblasen, von einer unsichtbaren Tafel gelöscht, und dafür war sie dankbar.

Das geräumige Kaffeehaus an der Uferpromenade war im pompösen Stil des Rokoko erbaut: Farbenfroh und überladen mit kleinen, dicken Engeln, die an beiden Enden des Treppenaufgangs den Besucher mit goldenen Trompeten begrüßten. Die Terrasse, die einen grandiosen Blick auf das glitzernde Meer versprach, war zum Bersten voll.
Frauen mit Sonnenschirmen und langen, weißen Kleidern, meistens in Begleitung von streng dreinblickenden, etwas steifen Herren, Kinder, die Fangen oder Seilhüpfen spielten, ältere Damen, die beim Teetrinken den kleinen Finger zierlich abspreizten und pensionierte Ehepaare, die in wortloser Übereinstimmung Apfelkuchen aßen; sie alle waren zu der sicheren Überzeugung gelangt, daß man diesen wundervollen Tag hier, und nur hier verbringen sollte.
Und trotzdem war es eigenartig still. Es war, als ob die warmen Sonnenstrahlen dieses herrlichen Frühlingstages die Menschen dazu anhielten, sich weitgehend mit gedämpfter Stimme zu unterhalten wie in einer Bibliothek, in der die Ruhe nur durch quietschende Schuhe und verhaltenes Hüsteln unterbrochen wird. `Es ist einer dieser seltenen Tage ´, dachte sie, das Gesicht wohlig in die Sonne streckend, `an denen man ohne besonderen Grund einfach nur zufrieden ist, an denen es ausreicht, daß die Luft klar, das Gras grün, das Meer blau und die Sonne warm ist. ´

Ihr Blick fiel auf den großen Holztisch vor ihr, eigentlich viel zu riesig für eine Person. Ein blütenweißes Tischtuch versuchte die Unebenheiten des klobigen Tisches auszugleichen, als müßte man einen Schandfleck kaschieren. Er paßte nicht zum Stil des übrigen Kaffeehauses, schien eher aus dem Mittelalter zu kommen, aber er war gerade groß genug um die Speisen zu tragen, die auf ihm aufgetürmt waren. Semmeln, Marmelade auf kleinen Silbertabletten, süßer Honig in Schälchen, saftiger Schinken, Speck und anderes, köstlich aussehendes Fleisch, ja sogar ein ganzes Schwein, das aussah, als ob es sich gerade auf dem großen Silbertablett niedergelassen hätte, um genüßlich den roten Apfel zu essen, der in seinem Maul steckte; auch Käsesorten aller Art und ein paar Flaschen Wein. Mit Erstaunen nahm sie diese unfaßbare Menge an Essen zur Kenntnis und wunderte sich darüber, wann sie das alles bestellt haben mochte. Besser war noch die Frage, ob sie dieses unmöglich zu bewältigende Buffet überhaupt bestellt hatte, denn eigentlich hatte sie gar keinen Hunger. Der überfüllte Tisch sah aus wie in diesem Märchen, das sie als Kind immer so geliebt hatte, wie hieß es noch gleich, das Märchen mit diesem Zaubertisch... Manchmal fallen einem die einfachsten Dinge nicht mehr ein, meistens in Situationen, in denen man sie am dringendsten braucht, wie in Quizshows oder angeregten Diskussionen, die man mit einem bestechenden Argument gewinnen will, doch das bestechende Argument hat anscheinend keine Lust das bequeme Unterbewußtsein zu verlassen, und nachher ärgert man sich darüber, daß man sich daran nicht erinnern konnte, weil es doch so auf der Hand lag, es lag doch so auf der Hand,...

`Noch einen Kaffee, Miss ?´
Jäh wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Ein schwarzer Schatten senkte sich auf sie herab, bedeckte die Sonne, überdeckte die Wärme. Sie schauderte, als etwas Silbernes vor ihren Augen blitzte und die Geräusche der schwatzenden, lachenden und feiernden Menschen aus ihrem Bewußtsein vertilgte. Und mitten in diese Taubheit hinein war ein ferner Ton zu hören, den sie zuerst nicht definieren konnte. Es war, als ob man nach einem lauten Konzert nach Hause kommt und in der plötzlichen Stille nur das hohe Piepsen des vibrierenden Trommelfells wahrnimmt. Doch ehe sie das Geräusch orten konnte, schwoll es zu einem Plätschern an und verstummte.
`Alles in Ordnung, Miss ?´ Der Kellner in dem enganliegenden schwarzen Frack hatte aufgehört, Kaffee nachzuschenken und sah sie nun besorgt an, eine Augenbraue fragend in die Höhe gezogen.
`Ja, ja...es geht schon wieder, danke.´ Und wie zum Beweis nahm sie mit zitternden Händen einen kräftigen Schluck aus ihrer zierlichen Porzellantasse. Der Kellner war nicht überzeugt, aber er zog sich schulterzuckend zurück.
`Wahrscheinlich bloß die Hitze ´, murmelte sie leise nach einer Erklärung suchend. Ja, das muß es gewesen sein. Sie ist einfach zu lange schon in der prallen Sonne gesessen, da kam das schon mal vor. Ein kleiner Ausflug zu dem schattigen Wäldchen, in dem das kleine Mädchen vorher verschwunden war, würde ihr gut tun.

Der Geruch frischer Nadelbäume stieg ihr in die Nase, als sie den Wald betrat. Die Bäume standen dicht beieinander, doch die unteren Äste waren abgestorben und bildeten einen weichen Teppich auf dem mit Moos bedeckten Boden, so daß zwischen den Bäumen genug Platz blieb, um hindurchzugehen. Nach dem gleißenden Sonnenschein auf der Terrasse mußte sie sich erst noch an die Düsternis des Waldes gewöhnen, der in seinen Wipfeln ein lückenloses Dach bildete, das nur vereinzelt tanzendes Licht hereinließ. Sie lauschte. Auch hier war es sehr still. Aber im Gegensatz zu der gedämpften Unterhaltung draußen herrschte hier absolute Ruhe. Es war wie unter einer sauber versiegelten Glasglocke, ein in sich geschlossenes Universum, das keine lauten Eindringlinge hineinließ. Allein der Klang von knackenden Zweigen verfolgte sie, als sie tiefer in den Wald geriet.
Sie wußte nicht, wie lange sie schon gegangen war, als sie plötzlich stirnrunzelnd innehielt. Sie war ganz in Gedanken versunken gewesen, vollkommen in einer anderen Welt wie ein Langstreckenläufer, der nach einer Weile seinen Körper nicht mehr spürt, doch irgend etwas hat sie wieder zurückgeholt, zurückgerissen wie ein Pferd, das man an den Zügeln reißt, damit es nicht ausbricht. Sie wollte schon weitergehen, den letzten Gedanken wieder aufnehmen (was auch immer dieser gewesen sein mochte ), doch dann fiel ihr wieder ein, warum sie stehen geblieben war, was plötzlich anders war.
Von der Terrasse aus sah das Wäldchen eher wie eine kleine Baumgruppe aus, ganz deutlich hatte sie dahinter das Meer sehen können. Warum war sie nicht schon längst am Strand ? Sie sah sich um. War sie im Kreis gelaufen ? Wie kann man sich hier bloß verirren ? Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts als meterhohe Bäume erkennen. Sie hatte keine Angst, noch nicht, aber sie spürte eine eigentümliche Unruhe, die sie ein paar Schritte vor gehen ließ, dann ein paar Schritte zurück, dann wieder ein paar Schritte vor. Nichts. Kein Strand, keine Terrasse, kein Mensch.
`Das ist es, was alle meinen mit : Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen´, dachte sie kurz und lachte laut auf. `Da bekommt dieser abgedroschene Spruch endlich neue Bedeutung´. Und gleich darauf : `Jetzt reiß dich mal zusammen.´ Sie wollte schon weitergehen, als etwas Weißes gerade außerhalb ihres Blickfeldes zwischen zwei dicken Fichten aufblitzte und verschwand.
`He, warte auf mich !´. Sie setzte sich in Bewegung. `Das Kind weiß sicher wie man hier herauskommt ´, dachte sie und kam sich schon lächerlich vor. Die Kleine hielt sie sicher für total verrückt. Was sollte sie sagen ? `Entschuldige bitte, aber ich hab mich in einem Wald verlaufen , der nicht größer ist als ein Schrebergarten.´ Ja, das hörte sich gut an.
Sie sah das Mädchen in dem weißen Kommunionskleid jetzt direkt vor sich, keine 10 Meter entfernt, sie stand mit dem Rücken zu ihr, ihre Arme hingen herab, der Kopf war zur Seite geneigt als würde sie etwas lauschen, das ihre volle Konzentration erforderte. `Entschuldige, Kleine, ich weiß, das hört sich jetzt blöd an, aber...´

Sie fiel. Es war, als hätte sich plötzlich ein tiefes Loch aufgetan und wie in Zeitlupe fiel sie ins bodenlose Nichts. Es fühlte sich an wie in einem dieser Alpträume, aus dem man erwacht und glaubt, gerade erst ins Bett gefallen zu sein. `Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen´, dachte sie noch zusammenhanglos, dann dachte sie nichts mehr. Sie fiel und schwebte gleichzeitig, der absolute freie Fall. Schwarze Nacht umgab sie, sie schnürte ihr klaustrophobisch die Kehle zu, packte sie von allen Seiten wie knochige Klauen und dennoch: Sie war nicht allein. Sie wußte das mit absoluter Sicherheit, so wie man plötzlich weiß, daß der Schatten an der Wand, der aussieht wie ein irrer Axtmörder, wirklich ein irrer Axtmörder ist, weil man die Präsenz eines anderen Menschen spürt. Etwas kam aus der Dunkelheit, etwas Gewaltiges, etwas, das sie nicht sehen konnte, nicht sehen wollte. Die Schwärze um sie herum veränderte sich, wurde heller, grau und kalt. Sie wollte schreien, wollte sich aus diesem grauen Nichts befreien, dieser unfruchtbaren Zwischenwelt, aber sie klebte an irgend etwas fest wie eine Fliege im Spinnennetz. Irgendwo in ihrem Bauch begann es zu kribbeln, als wäre er eingeschlafen, was natürlich lächerlich ist, konnte ein Bauch überhaupt einschlafen ? Und doch war das Gefühl da, zuerst bloß ein Kribbeln, doch dann vermischte es sich mit etwas anderem, und dann schrie sie tatsächlich, als sie merkte, wie sich ein Schneesturm in ihrem Inneren ausbreitete. Die grauenhafte Kälte kroch ihren Rücken hinauf bis in den Kopf, wo sie sich festfraß und ihr Gehirn vereiste. Sie hatte den Mund immer noch weit offen, doch anstatt ihrer schmerzerfüllten Schreie kamen dichte Schneeflocken heraus, die vor ihr im Nichts tanzten.
Schnell wollte sie den Mund zumachen, doch mit Entsetzen mußte sie feststellen, daß eine dünne Eisschicht zwischen ihren Lippen hing wie ein winziger Eislaufplatz. Spitze Eiszapfen bohrten sich in ihre Eingeweide, sie stoben durch ihre Adern, nahmen ihre Nieren, ihre Lungen und schließlich ihr Herz in kalten Besitz. Sie fühlte wie sich ihr Körper mit einer dünnen, gefrorenen Schicht überzog und wußte, bei der geringsten Bewegung würde sie in tausend Splitter zerfallen. Abermals setzte dieser hohe Ton ein, nur diesmal um das hundertfache verstärkt, er kreischte in jeder einzelnen Zelle dicht unter ihrer Haut, die sich zusammenzog und schließlich mit einem Geräusch wie aufplatzende Nähte riß. Dünne, blutige Rinnsale bahnten sich den Weg über den vereisten Körper, Rinnsale, die zu Sturzbächen anzuschwellen drohten, als sich die Haut weiter abschälte und schon vibrierende Muskelstränge freilegte.

`Noch einen Kaffee, Miss ?´
Keuchend sprang sie auf. Ihr Stuhl krachte zu Boden, blieb zwei Meter hinter ihr schlitternd liegen. Als das blütenweiße Tischtuch verrutschte, fand das Porzellangeschirr keinen Halt mehr und zerschellte klirrend. Der Kellner starrte sie an. Die ältere Frau wollte gerade aus ihrer Tasse trinken, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung, den kleinen Finger immer noch abgespreizt. Die Unterhaltung der anderen Gäste verstummte, alle Augen waren jetzt auf den merkwürdigen Zwischenfall gerichtet.
Hektisch schob sie ihre Ärmel hoch und untersuchte ihre Arme. Keine Spur von Blut oder aufgeplatzter Haut, sie waren so wie sie sein sollten, leicht braungebrannt und mit feinen, blonden Härchen überzogen, die jetzt durch eine Gänsehaut elektrisch vom Körper abstanden. Sie ließ die Arme wieder sinken, zitterte am ganzen Körper.
Starr vor Angst beobachtete sie wie sich der Kaffee auf dem Boden ausbreitete und einen Zipfel des Tischtuchs tränkte, sie starrte auf diesen Fleck, als ob er der einzige Beweis für eine normale, ganz und gar nicht gefrorene Welt darstellte. Dann nahm sie endlich den befrackten Kellner wahr, der sie pikiert ansah, als hätte sie sich nackt ausgezogen und auf dem Tisch getanzt. Sie versuchte zu sprechen, eine Entschuldigung vorzubringen, aber ihr Hals war immer noch wie taub, und nur ein krächzender Laut entkam ihrer Kehle. Sie mußte weg.

Sie konnte sich nicht erinnern, am Weg zum Strand flache Steine gesammelt zu haben, doch die Exemplare in ihrer Hand bewiesen das Gegenteil. Sie warf sie achtlos ins Meer; konzentrische Kreise bildeten sich an der glatten Oberfläche.
Sie hatte noch nie so einen schlimmen Alptraum gehabt, und es mußte ein Alptraum gewesen sein, was wäre sonst die Alternative? Wahnsinn ?
`Das ist doch lächerlich´, dachte sie nicht zum ersten Mal und wußte schon, daß es das nicht war. Dabei hatte der Tag so gut begonnen. Das idyllische Kaffeehaus, die warme Sonne, die lachenden Menschen... es war perfekt gewesen. Und dann mußte sie eingeschlafen sein, eingelullt von der gedämpften Szenerie... Sie schauderte, als sie an die eisige Kälte zurückdachte und schlang die Arme um ihren Körper. Mit ihrer inneren Zufriedenheit war es jetzt vorbei. Sie haßte plötzlich die gedämpfte, glückliche Stimmung an diesem Ort, mit all seinen schönen, glücklichen Menschen, wie sie mit ihren hübschen Kleidern und den bunten Sonnenschirmen stolz durch den Tag flanierten, als ob es nichts wichtigeres auf der Welt gäbe, als sich köstlich zu amüsieren. Noch vor einer halben Stunde war sie so gewesen wie diese Leute, die sich Walrössern gleich in der Sonne aalten, an nichts denkend, seichte, unbedeutende Gespräche führend, ewig lächelnd. Und auf einmal - ein kleiner Fehler -, stand sie außerhalb dieses illustren Kreises, für verrückt erklärt und peinlichst ignoriert, als ob sie ansteckend wäre. Sie war nun unsichtbar, ein Geist, vielleicht auch eine Gefahr für diese Idylle.
Sie grub die Hände tief in den steinigen Boden, feine Kieseln durch ihre Finger pflügend. Was zum Teufel war passiert? Warum fühlte sie sich auf einmal so müde, so... alt?
Als ihre Finger im Boden auf das weiche, biegsame Material stießen, konnte sie im ersten Moment keinen Zusammenhang herstellen zwischen den rauhen Steinen unter der Erde und dieser glatten Oberfläche. Sie grub es aus, halb aus Neugier, halb um sich abzulenken. Als sie es schließlich in der Hand hielt, starrte sie lange darauf, mit gerunzelter Stirn. Es kam ihr vertraut vor und doch wußte sie nichts damit anzufangen. Es war lang und dünn, durchsichtig und mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt, die nun tröpfchenweise auf ihre Hand fiel und darin verschwand. Sie sah genauer hin, aber der erste Eindruck täuschte nicht. Die Tropfen verdampften nicht, prallten nicht ab oder rannen ihren Arm hinunter, sie zogen sofort ein als würde ihre Haut aus trockener Erde bestehen, begierig auf jeden Schluck Wasser. Etwas stimmte nicht, stimmte ganz und gar nicht. Sie versuchte das Ding in ihrer Hand in plötzlicher Panik fortzuschleudern, doch es klebte fest, verschmolz fast mit ihrer Haut wie eine fette Raupe auf einem Blatt. Verzweifelt zerrte sie daran, zerrte an diesem seltsamen Gegenstand, von dem sie nicht wußte, was es war, aber es lag ihr auf der Zunge, sie konnte fühlen wie sich der Name in ihr hochquälte, eine Erinnerung, die sich aufdrängte, die sich nicht mehr verscheuchen ließ. Dann hielt sie abrupt inne. Ein Tropfschlauch ? Was...

`Miss Stone ? Können sie mich hören ?´
Noch einmal sah sie auf das silbrig glitzernde Meer hinaus, hörte den Wind in den Bäumen, fühlte die Wärme auf ihrer Haut, Dann erstarrte das Bild. Es war, als ob sich die Wellen des Meeres plötzlich entschlossen hätten, nicht mehr ans Ufer zu spülen, sie verharrten still mitten in der Bewegung wie festgefroren. Dort, wo sie an den Strand trafen, bildeten die Wellen etwas, das aussah wie eine lange Reihe gegelter Haartollen, für die Ewigkeit an den Kopf geklebt. Ein Fisch wollte gerade nach einer leckeren Fliege schnappen, jetzt hing er in der Luft mit geöffneten Maul, als würde er an einem unsichtbaren Angelhaken hängen. In wilder Panik sah sie sich um. `Alle starren mich an´, dachte sie im ersten Moment, doch das stimmte nicht. Eine Frau in einem langen, barocken Kleid (wer trägt denn sowas noch ?) hatte gerade die Augen mit einer Hand abgeschirmt und herübergesehen, als die Starre auch sie befiel. Sie sah aus wie eine Wachsfigur bei Madame Tussaud, die Hand über den Augen wie ein Schiffskapitän, der nach langer Zeit auf See endlich Land sieht. Aber sie sah nicht sie an, bemerkte sie jetzt, wahrscheinlich eher den Fisch. Ein Mädchen weiter hinten auf der Wiese machte sich gerade zum Sprung bereit, jetzt war sie festgefroren in einer geduckten, konzentrierten Haltung, die kleinen Hände zu Fäusten geballt, das Springseil neben ihr hing an seinem höchsten Punkt in der Luft wie ein Torbogen aus einer Kinderzeichnung. Der befrackte Kellner hatte Tee nachgeschenkt, die Hand hinter dem Rücken verschränkt, die Augenbraue für immer sardonisch hochgezogen, als wäre er überrascht von der Flüssigkeit, die nun über der Tasse schwebte wie ein Scherzartikel aus Plastik.
Und plötzlich ergab alles einen Sinn. Das Kaffeehaus, der Kellner, die Kinder, die Spaziergänger...warum war sie nicht gleich darauf gekommen ? Es war, als ob sich eine ganze Reihe von Dominosteinen in ihrem Inneren in Bewegung setzen würden, ein kleiner Stein, nein, ein kleines Bild des Anstoßes und alle anderen Erinnerungen folgten wie Lemminge. Wie hatte sie das Bild bloß vergessen können ? Doch jetzt, wo alles so klar und deutlich vor ihr lag, verspürte sie keine Erleichterung darüber, daß sie nicht verrückt war, nur Traurigkeit und Wut und ein großes Gefühl des Verlustes. Sie wollte nicht mehr zurück. Jemand wollte sie mit aller Kraft zurückholen, wollte diese Perfektion zerstören, diese Idylle, und wenn sie ihm begegnete, würde sie ihm dafür die Augen auskratzen.
Das Bild zerfloß. Erst dachte sie, sie würde weinen, aber dann sah sie, wie der blaue Himmel über ihr plötzlich an Farbe verlor, als ob er am Horizont ausrinnen würde. Er wurde blasser, von dunkelblau zu hellblau, dann wässriggrau. Die Frau mit der Hand über den Augen verschwamm in einer kaum zu beschreibenden Weise, sie wurde breiter, verlor an Schärfe, ihr Kleid vermengte sich mit dem Gras unter ihr, bildete ein weiß-grünes Gemisch, das sich ebenfalls langsam im Grau auflöste. Das Seil der Kinder war schon fast nicht mehr zu sehen, es tropfte irgendwie nach unten, als würde die Erdanziehung am Ende doch noch mit Gewalt ihr Recht einfordern. Die Konturen um sie herum bekamen etwas Abstraktes, als hätte sich ein Künstler mitten im Bild plötzlich entschieden, eine andere Kunstrichtung einzuschlagen, vom Realismus zur modernen Kunst. Das kleine Wäldchen ging in einem einzigen grünen Farbklecks unter wie Bleiguß zu Sylvester, von Rokoko konnte bei dem Kaffeehaus kaum mehr die Rede sein; ein grauer, unförmiger Klumpen hatte seine Stelle eingenommen, ein Klumpen, der sich immer weiter veränderte, an den Enden auszufasern schien und in den Augen schmerzte, wenn man zu lange hinsah. Unter ihren bloßen Füßen ( und ohne besondere Verwunderung nahm sie zur Kenntnis, daß ihre Füße bloß waren) verwandelten sich die kleinen Kieselsteine in feinen, grauen Sand, dann in etwas Hartes, das sich anfühlte wie Glas.
Es gab hier nichts mehr für sie zu tun, das wußte sie. Also setzte sie sich und wartete auf das Unvermeidliche.

`Miss Stone ? Können Sie mich hören ?´
Unter ihren geschlossenen Lidern flossen jetzt tatsächlich Tränen. Sie wollte die Augen nicht aufmachen. Jetzt, wo sie zurück war, begann die Erinnerung an die Schönheit des Todes schon zu verblassen, und doch war da immer noch diese leise Stimme in ihr, die darauf beharrte wie glücklich sie dort gewesen war, wie zufrieden. Wenn sie jetzt die Augen aufmachte, würden die Schmerzen wiederkommen, die bohrenden Schmerzen, die sie einst von innen her aufzufressen drohten. Sie konnte sich an die Todesangst erinnern, damals, kurz bevor die Schmerzen wirklich schlimm wurden, kurz bevor sie sich tatsächlich gewünscht hatte, tot zu sein. Todesangst davor, daß nachher wirklich nichts ist, daß sie, vergessen von einer Welt, die sich auch ohne sie weiter drehte, nur noch als Wurmfutter diente. Asche zu Asche, Staub zu Staub, was aus der Erde kommt, geht in die Erde zurück. Was für ein schrecklicher Gedanke. Sie wollte dem Tod ein Schnippchen schlagen, ihn überlisten, es war einfach so unfair, daß sie sterben mußte, es war...inakzeptabel. Also begab sie sich in die Hände der Wissenschaft, in der festen Überzeugung, daß man eines Tages etwas finden würde, was sie heilte, in der festen Überzeugung, daß sie zurückkommen wollte. Nichts ahnend, daß der grinsende Sensenmann die ganze Zeit über wahrscheinlich kopfschüttelnd daneben gestanden hatte, buchte sie sich ihre eigene Fahrkarte zurück ins Diesseits, einen metallisch glänzenden Behälter in einem unterirdischen Labor.
Kryochirurgie. Das Zauberwort für Todgeweihte, der Hoffnungsschimmer für Krebspatienten. Bei -190 Grad würde sie für die Nachwelt erhalten bleiben wie eine ägyptische Königin, einen Kälteregulator als Grabbeigabe. Und dann, wenn man etwas gegen den Krebs gefunden hatte (in höchstens 10 Jahren, wie man ihr versicherte) würde sie wie der berühmte Gott aus der Maschine steigen, etwas hinten nach vielleicht, was Zeitgeschichte betraf, aber am Leben. Aber sie hatte den Tod nicht hereinlegen können, der Tod hatte sie überlistet. Wohl wissend, wie schrecklich er in jeder Epoche unserer Zeit dargestellt wurde, wie grausam er jahrhundertelang Eltern ihrer Kinder, Frauen ihrer Männer und Söhne ihrer Mütter beraubte, ohne auf das flehende Klagen zu hören, hatte er doch die ganze Zeit der Angst einen Trumpf im Ärmel gehabt wie ein gewiefter Pokerspieler.
Sie erinnerte sich daran, wie sie in ihrem Krankenhausbett lag, bis oben hin voll mit Morphium, und dieses Bild anstarrte, das vor ihr an der ansonsten weißen, kalten Wand hing. Es stellte eine Landschaft dar wie jedes Drei-Groschen-Bild in einem billigen Hotelzimmer. Und doch, es war anders, es war mehr eine Momentaufnahme einer längst vergangenen Zeit, und in diesem letzten Abschnitt ihres Lebens liebte sie dieses Bild, sie sehnte sich danach, genau dort zu sein, mit diesen Menschen in diesem Kaffeehaus auf der Uferpromenade, mit Aussicht auf das glitzernde Meer.

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