© der Geschichte: Ewgenij Sokolovski. Nicht unerlaubt
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Ich sag's Dir, Junge

Ich sag's dir Junge, lass den Scheiß lieber sein. Wofür willst du dich jetzt weiterbilden? Was soll es bringen? Ich kenn's doch, war mal selber auf so 'ner Schule. Ist doch alles Müll, was ihr da die ganze Zeit macht. Früher dacht' ich's auch anders. War genauso jung und blöde wie du jetzt. Und dann? Dann musste ich irgendein krummes Zeug lernen, wo man überhaupt nicht weiß, wofür es gut sein soll. Zum Beispiel Mathe. Ich hab in meinem ganzen Leben nur das Plus, Minus, Mal und Teilen gebraucht. Das kannst du aber schon - hast schon in der Grundschule gekonnt. Wofür soll denn der ganze andere Schrott gut sein? Mann, ich weiß noch, wie wir da irgendwelche Wurzeln, Potenzen und Logarithmen gemacht haben - was immer das auch sein mag. Ich hab noch nie in meinem Leben so was gebraucht. Jetzt ist ja, Gott sei Dank, auch alles weg. Und ich hab mich schon immer wieder gefragt, wieso diese Arschlöcher uns mit so einem blöden und nichtsnutzigen Zeug vollgestopft haben. Ist ja Unsinn. Hätten die uns doch lieber beigebracht, wie man vernünftig sein Auto repariert. Als es nämlich kaputt war, konnte ich mit der gesamten Schulkacke nix anfangen und musste es bei einem Techniker abgeben. Oder wie man ein Haus baut, oder wie man sich im Walde orientiert, wenn man sich verlaufen hat. Ach, es gäbe da Tausende von Sachen, die man den Kindern in der Schule hätte beibringen können. Und die ihnen für das später Leben wirklich was nützen würden. Aber nein, anstatt dessen wurde es uns beigebracht, wie man irgendwelche blöden Funktionen ableitet. Ich weiß wirklich nicht, mit welchem Körperteil die Herren vom Bildungsministerium gedacht haben. Das es aber nicht der Kopf war, steht eindeutig fest.

Und die anderen Fächer… Wenn schon etwas total für den Arsch ist, dann ist es der Deutschunterricht. OK, ist ja klar, du musst irgendwie lesen und schreiben können. Ich kann auch einigermaßen nachvollziehen, dass man es nach gewissen Regeln der Rechtschreibung tun sollte. Aber wofür lernt man denn den ganzen Rest? Ich meine, das gesamte Rechtschreibzeug macht man doch ausschließlich in den ersten Schuljahren und später kommt man nie darauf zurück. Sollte man aber, meiner Erfahrung nach.

Stattdessen wird dir die ganze Zeit irgendein Schrott beigebracht in Form von Textlesen, Interpretieren, Aufsatzschreiben und das übrige Bla Bla Bla. Wofür das alles? Ich hab in meinem gesamten Leben nach dem Abitur nicht einmal einen einzigen Text interpretieren müssen. Und von Aufsätzen kann ja überhaupt keine Rede sein. Und vor allem, was für Romane haben uns die Lehrer da aufgetischt! Die Meinung ist heute sehr verbreitet, der ganze Kack nütze dir was fürs Leben. Alles Müll. Früher habe ich auch so gedacht. Was soll's, ich war auch mal jung und unerfahren - wie du jetzt. Deshalb erzähle ich dir gerade das alles. Damit du nicht wie ich früher auf deine Lehrer und Eltern hörst und Jahre deines Lebens mit dem unsinnigsten Zeug der Welt vergeudest. Zum Beispiel, was haben wir da so gemacht… Nehmen wir doch mal den guten alten Goethe. "Die Leiden des jungen Werthers". Dir sagt der Name noch nichts, Junge, und das ist auch gut so. Erklär dir gleich warum. Worum geht es in dem Roman? Ein junger Bursche namens Werther macht Urlaub auf dem Lande und verknallt sich da in irgendein Mädel. Ist ja völlig OK. Das Mädel steht aber nicht auf ihn, und lässt ihn abblitzen. Passiert leider auch nicht selten. Was macht jetzt ein vernünftiger Mensch in einer solchen Situation? Richtig, er sucht sich eine Neue. Es gibt ja reichlich Mädels auf der Welt. Und selbst in so einem kleinen Kaff gäbe es bestimmt noch ein paar Frauen, die williger wären. Mann, du wirst mir gar nicht glauben, wie oft ich schon Mal einen Korb gekriegt hab - na und, ist ja nicht das Ende der Welt. Was macht aber der Blödmann Werther? Anstatt sich eine neue Braut zu suchen, läuft er wie ein kleines Hündchen der alten hinterher, blitzt immer wieder mal ab und heult sich ins Fäustchen bzw. in die Briefe an seinen Kumpel, aus denen sich der ganze Roman zusammensetzt. Und das noch nicht genug. Der gute Werther wird immer besser. Am Ende des Romans mutiert er sogar zu einer Art Schuh- oder Fußfetischist. Ja ja, solche Leute gab es wohl schon damals, sie sind keine "Erfindung" unserer modernen und aufgeklärten Gesellschaft. Der Typ beginnt den Fußspuren seiner Angebeteten nachzujagen und sich daran sowie an irgendwelchen Klamotten von ihr aufzugeilen. Anstatt sich eine vernünftige Tusse zu suchen. Na ja, jeder hat halt seine Ticks und Eigenarten, aber man muss sie wirklich nicht unbedingt der breiten Öffentlichkeit an die Nase binden. Zum Schluss konnte sich der gute Werther nix Besseres einfallen lassen als sich selbst in seinem Haus aus einem Gewehr abzuknallen.

Und was sollen jetzt unsere Schüler aus dieser blöden Geschichte lernen? Dass man einem Fräulein ewig hinterher laufen soll, obwohl es gar nicht auf dich steht (hätten die Mädels wohl gerne, eh)? Dass man sich monatelang an irgendwelchen Vorstellungen und Visionen festhalten soll, die niemals wahr werden können? Ich sag dir, Junge, hätte der Werther sich öfter mal einen runtergeholt, hätte er sich bestimmt nicht erschossen. Wäre zwar nicht die optimale Lösung, aber auf jeden Fall viel besser als der Selbstmord. Der Hormonüberschuss - der war an allem schuld. Ist ja klar, ein junger Mann in einem kleinen Dorf, ohne jegliche Betätigung. Ein hübsches Mädel von nebenan, da beginnen schon die Klöten verrückte Dinge zu spielen. Den Typen hätte ich mal gesehen, wenn er mal zwölf Stunden am Tag schuften müsste. Da wäre ja für Liebe keine Zeit mehr geblieben. Da hätte er nur daran gedacht, wie man sicher von der Arbeit nach Hause kommt und ins Bett fällt. Aber nein, die Herren von der feinen Gesellschaft ziehen es vor, nichts zu tun und sich mit den verrücktesten Hirngespinsten zu befassen, anstatt in den nächstgelegenen Puff zu gehen und sich den Hormonspiegel senken zu lassen - ich sag dir aus Erfahrung, so was bewirkt Wunder bei Liebeskummer. Da ist es ja klar, dass bei denen nix Gutes rauskommen kann. Aber schließlich ist es ihre Sache. Wenn sie dazu Bock haben, sich nach jedem Korb zu erschießen, dann können die es meinetwegen gerne tun. Aber bleibt mit diesem Zeug doch unter euch! Warum muss man denn unbedingt mit so einem Gedankenmüll die jungen Köpfe bearbeiten? Damit die Schüler sich auch jeden Tag abknallen? Oder wofür soll es noch gut sein? Wir haben doch schon sowieso eine ziemlich hohe Selbstmordrate bei den Jugendlichen. Und wieso? Ich sag dir wieso. Weil die Kinder zu viel von solchen Romanen lesen. Und dann wird irgendein sechzehnjähriges Mädchen von ihrem Freund verlassen und weiß nicht mehr weiter. Und was lehrt sie unsere tolle Literatur? Ja genau. In dem einen Roman nimmt die Hauptgestalt einen Dolch und ersticht ihre Widersacherin. Das ist aber zu brutal für unser Mädchen, das sich noch in so einem zarten Alter befindet und in einer anständigen Familie aufgewachsen ist. In dem anderen Roman ersticht die Hauptgestalt sich selbst. Ist ja noch viel romantischer und schöner. Mit SEINEM Namen auf den Lippen sterben - was für ein schönes und verträumtes Bild. Da möchte ich fast kotzen. Ich weiß nicht, wofür das ganze gut sein soll, aber wenn die Herren vom Bildungsministerium es so meinen…

Aber du hast doch bestimmt schon gehört, dass die Selbstmordrate bei dem "gebildeten" Volk deutlich höher als bei dem "ungebildeten" liegt. Jetzt kennst du auch den Grund dafür…
Die Literatur, die man euch da in der Schule auftischt, ist insgesamt ziemlich komisch. Ich hab mich schon in deinem Alter gefragt, wofür wir denn im zwanzigsten Jahrhundert - dem Jahrhundert von technischer, geistiger und sexueller Revolution - uns irgendwelche Romane aus dem Mittelalter reinziehen sollen. Die bringen einem doch nur Mist bei. Sie bringen dir bei, wie man sich vor zwei Hundert Jahren benommen hat. Du lebst aber nicht vor zwei Hundert Jahren sondern jetzt! Also sollen die Kinder auch gefälligst was Vernünftiges lesen. Und am Besten etwas, was lebensnah ist. Es gibt schließlich auch heute genug Müll auf dem Büchermarkt. Zum Beispiel die ganzen Liebesschnulzen. Da liest du dir den ganzen Kopf damit voll. Verliebst dich dann in irgendeine blöde Schlampe und beginnst damit, ihr Blumen zu schenken, sie zu umwerben, Komplimente zu machen, sie auf den Händen zu tragen und ihr Poeme zu widmen. Genau so, wie es in diesen rosa Büchern so ausführlich beschrieben und hochgepriesen wird. Und was dann? Ich sag dir, was dann kommt. Dann erfährst du, dass deine Angebetete mit einem anderen Typ vögelt, weil er ein dickeres Auto hat! Ja, so wird es kommen. Und du stehst dann da wie blöd und fragst dich, was du denn, um Gottes willen, falsch gemacht hast. Es hat doch bei all diesen Frauen in den Büchern wunderbar geklappt! Ja, mein Junge, deshalb sage ich dir, nicht jedes Buch bringt dich auch wirklich weiter in diesem Scheißleben. Und am wenigsten tun das die Bücher, die dir deine Lehrer und Eltern empfehlen. Kannst mir ruhig glauben, ich war ja früher auch so jung und grün wie du, hab denen alles abgekauft. Und nur viel später hab ich doch rausgekriegt, was unser Leben so an sich hat. Deshalb will ich ja auch nicht, dass du dieselben Fehler wie ich machst und so viel Scheiße baust.
Lies lieber Krimis oder so. Da wird dir schon viel eher was beigebracht, wie es in diesem Leben läuft.
Ober, noch Mal zwei Bier, bitte. Ich zahle.

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