© der Geschichte: Thorsten Küper. Nicht unerlaubt
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Mouth wide open

Oder:

Küper ins Maul geschaut

Böswillige Gemüter behaupten ja, ich würde ein wenig zu oft aus der offenen Hose plaudern, also tue ich heute demonstrativ mal das Gegenteil und plaudere aus dem offenen Mund. Doch ich beginne anders.........

Als mein Gesicht explodierte, hatte ich einen wirklich miesen Tag.

Eigentlich hatte es abends begonnen, im Kino, im Durchzug, dieser leise, langsam energischer werdende Schmerz mit dem mich ein sterbender Nerv auf ein Problem im Wurzelkanal hinweisen wollte. Vielleicht hatte ich einfach zu laut gelacht und somit ein bisschen zuviel Wind zwischen meine Kiefer gelassen. Ich beruhigte mich damit, dass der Schmerz sich bis zum nächsten Tag schon legen würde. Das weiß ich aus Erfahrung, bin ich doch ein Experte im Ignorieren überflüssiger Zahnschmerzen.

Tatsächlich behielt ich recht. Tags darauf erwachte ich entspannt, erfrischt und schmerzfrei - wäre da nicht diese seltsame Empfindung gewesen, so als bewahrte ich eines meiner Kissen im Mund auf. Ein Blick in den Badezimmerspiegel offenbarte dann das Ausmaß der Tragödie: Über Nacht hatte sich mein Gesicht in einen Ballon verwandelt. Irgendwie sah ich aus, als hätte ich mich auf eine Prügelei mit beiden Klitschkos eingelassen und den kürzeren gezogen. Oder lassen Sie es mich so sagen: Es ist ein kein gutes Zeichen, wenn Sie ohne Spiegel Ihre eigene Wange sehen können.

Es hatte mich also endlich ereilt. Das böse Schicksal, ein Zahnarztbesuch drohte. DER JÜNGSTE TAG.

Na ja, werden Sie sagen, das kommt vor, das ist kein Drama.........
Für einen Zahnarzt - Phobiker ist es das aber schon. Menschen haben die unterschiedlichsten Alpträume, die einen träumen von Feuer, andere von Wasser und wieder welche von großen Höhen. Ich träume von Zahnärzten.
Warum traf es gerade mich? Was hatte ich falsch gemacht? Lag es an der Tiefkühlpizza?

Oder waren es die Kartoffelchips, oder doch nur der Durchzug? Und überhaupt: Wie kann ein Zahn schmerzen, von dem doch nur noch die Wurzel existiert nachdem die alte Füllung über die Jahre zerfallen war wie ein morscher Holzkahn.
Dabei war ich doch gerade erst.........ja, wann eigentlich das letzte Mal beim Zahnarzt gewesen?

Vor der Zwischenprüfung? Nein, nein, da nicht.....

Ja, nach dem Abitur, das war......ach nein,

Ja, kurz vor dem Führerschein.........ohh, nein, da war das mit dem eingewachsenen Nagel.........

Ja, genau kurz nach der mittleren Reife.........ach nein, da war die Mandelentzündung mit 41 Grad Fieber.........

Und dann fiel es mir ein. Mein letzter Zahnarztbesuch hatte stattgefunden anlässlich der feierlichen Herausnahme meiner herausnehmbaren Zahnspange.........................................

Oh!! Das war doch gerade erst 15 Jahre her.

Ja, ich war ein bisschen konsterniert, als mir dies bewusst wurde. Und wie konsterniert würde erst mein Zahnarzt sein, wenn er bei grellem Licht betrachtet feststellen würde, dass sich mein Gebiss in etwas verwandelt hatte, dass große Ähnlichkeit mit einer verkleinerten Version der alten Maya-Stadt Chitchen Itza hatte: Zerbröckelt, überwuchert und etwas unvollständig.

Na ja, ich will ehrlich sein: Eigentlich war ich mir der Missstände - Dentisten bevorzugen, glaube ich, den Ausdruck Fehlstände -in meiner Mundhöhle durchaus bewusst. Allein das Grauen vor "dem Stuhl" hinderten mich an einer Intervention. Aber nun war es soweit.

Eine Freundin, der ich am Abend begegnete deutete fassungslos auf den Globus an der Stelle, wo früher einmal mein Gesicht gewesen war. Sie fragte auf die unnachahmliche Art, wie nur Frauen es tun konnten: "Was hast Du denn da?"

"Tschahn ischt entschündet."

Sie fand das wohl sehr lustig und gab zurück: "Und ich dachte schon es wäre wegen einer Frau!"

"Ha ha ha........Aua"

Ich? Ein eingeschlagenes Gesicht wegen einer Frau? Für einen alten Dauersingle wie mich wäre das wohl schon der Gipfel des Hohns gewesen. Aber das Schicksal ist ja bekanntlich sehr kreativ beim Drehbuchschreiben.

Ich verbrachte eine schlaflose Nacht vor meinem montäglichen Termin, schaute schlechte Krimis über wahnsinnig gewordene Schönheitschirurgen und Viehverstümmelungen und fand mich am morgen mit zitternden Händen am Lenkrad auf dem Weg zu einem Zahnarzt der mir nur namentlich bekannt war - mein alter Herr Doktor praktizierte nämlich seit zehn Jahren nicht mehr. Aber dem hatte ich auch nie verziehen. Lebhaft entsinne ich mich an jenen Moment, als er die Spange herausnahm, die zwei Jahre lang nächtens vermeintlich korrigierend auf mein damals noch gesundes Gebiss gepresst hatte. Er hatte mir zugezwinkert und gesagt: "Jetzt werden Dich die Mädchen nicht mehr in Ruhe lassen."
Der Bastard hatte gelogen.

Die Parkplatzsuche war schlimm. Das Warten im Wartezimmer war schlimmer. Zu oft in den letzten Jahren hatte ich mir diesen Moment vorgestellte. Der Stuhl, das grelle Licht, der Arzt hinter seiner Maske und ich, reduziert auf einen offenen Mund und weiße Knöchel, die sich an die Armlehnen klammerten. Er würde abrutschen mit seinem Bohrer, der sich durch meinen Gaumen in mein Stammhirn bohren würde........

Was für eine Schweinerei!

Ich dachte über Ausreden nach, Antworten auf seine ausgerufene Frage, die etwa so lauten würde: "Oh je, was ist denn in ihrem Mund passiert? Wie kann man sich so verrotten lassen?"

"Ähh........ich war fünfzehn Jahre auf einer einsamen Insel ohne zahnärztliche Versorgung."

Oder:

"Ich wurde von außerirdischen grauenhaften medizinischen Experimenten unterzogen und wat seitdem unfähig zum Zahnarzt........."

Oder:

"Ich werde von der Zahnforschung bezahlt, die wollen wissen, was passiert, wenn man 45 Jahre lang nicht zum Zahnarzt............"

Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Der Doktor stellte sich als durchaus verständnisvoll heraus, nachdem ich ihn darauf hingewiesen hatte, dass ich Phobiker bin. Das käme vor, erklärte er und das sei alles nicht so tragisch und ich solle mich entspannen, er würde erst einmal nur schauen.

Worte wie Balsam für meine geschundene Seele und so ließ ich mich ein auf diesen Augenblick der Intimität zwischen Arzt und Patient. Fast völlig entspannt, es war ein Wunder.

"Den Mund schön weit auf und jetzt sagen sie mal Parodontose........ha ha ha, ein alter Zahnarztscherz." Wie gut, er hatte Humor, wie er da so in mich hineinschaute.

Na ja, dachte ich. Im Gegensatz zum Urologen kann man dem hier bei der Untersuchung wenigstens ins Gesicht sehen.

Er begann den Befund aufzunehmen, den er einem reizenden, etwas stillen blonden Mädchen diktierte.

Es waren jene kryptischen Buchstabenkombinationen gepaart mit zwei Adjektiven, die Zahnärzte besonders gern zu verwenden schienen. Kariös und zerstört. Ersteres traf auf fast alle meine Zähne, letzteres nur auf vier zu.

Als ich den Mund wieder schließen durfte, schüttelte er schmunzelnd den Kopf. "Alles nicht so schlimm, abgesehen davon, dass ihr Gebiss weniger ein Fall für einen Dentisten, als für einen Paläontologen wäre."

"Wie?"

"Na ja, ich fürchte, wir brauchen mehr Zement dafür, als es in allen Baumärkten der Stadt zusammen gibt."

So ganz wusste ich nicht, wie ich das deuten sollte. "Ich......"

"Kennen Sie den Film "Der Marathonmann"?"

Ich wurde wohl blass.

"Ich mache doch nur Spaß. Wissen Sie, Ich habe ein paar Seminare über Angstpatienten besucht und dort lehrte man uns, Lachen sei das beste Mittel gegen die Furcht....."

"Oh.......ja, ich verstehe."

"Sehen Sie, ich mache mir eigentlich gar keine Sorgen, es ist nur so........"
Er wiegte den Kopf hin und her und seine Miene verriet, dass es wohl doch ein Problem geben würde. "Na ja, ich fürchte Ihre Versicherung wird nicht zahlen, wo sie doch so lange nicht in Behandlung waren. Also etwas verantwortungslos war das schon.........."

"Und wie viel.........." Ich wagte nicht die Frage auszusprechen, ahnte ich doch, dass ich damit das Unheil auf mich herabstürzen lassen würde.

"Na ja........", er rieb ich das Kinn. "Die Füllungen sind nicht das Problem, aber die Brücken. De Kronen. Vielleicht ein Implantat........sagen wir 23000 DM."

Irgendwie sah er plötzlich sehr fröhlich aus. Das ergab ja auch einen Sinn, schließlich würde ich auf diese Weise seiner Geliebten einen Kleinwagen finanzieren.

"Sind Sie liquide?"

Ungeachtet der Tatsache, dass ich den Mund hätte schließen dürfen, entzog sich meine Kiefermuskulatur gerade meiner Kontrolle. Ich glotzte ihn an, machte "ahhhhhhhhh" und ein Speichelfaden tropfte in einem Anfall früher Senilität auf die Serviette mit dem Blümchenmuster, die man mir umgehängt hatte.

"Oh, wohl nicht", beantwortete er sich die Frage selbst. "Ist aber alles kein Problem. Sehen Sie es, gibt da die Möglichkeit einer "In-Zahlung-Nahme."

"Wie?"

"Na, das kennen Sie doch von ihrem Autohändler. Sie bringen Ihren alten hin und kriegen dafür einen Neuen. Na ja, nicht so ganz......", er lächelte mich herzlich an. "Beim Autohändler werden Sie über den Tisch gezogen. Hier kriegen Sie wirklich was dafür."

Langsam fing ich mich wieder. "Wofür?"

"Sie scheinen mir sehr verantwortungsvoll zu sein, einer, der sich um andere kümmert und eingreift."

"Also ich......"

"Welche Blutgruppe haben Sie?"

"Keine Ahnung, aber was hat........."

"Jemand braucht gerade Ihre Hilfe."

Langsam dämmerte es mir. "Soll ich Blut spenden?"

Er winkte ab. "Na, dafür könnte ich ihnen gerade mal den Zahnstein entfernen." "Worüber reden wir hier eigentlich?"

Er zwinkerte der kleinen Blonden zu. "Ruf schon mal an."

Sie verschwand ausgelassen kichernd.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, beugte er sich zu mir herüber. "Sehen Sie, es gibt Teile, die in unserem Körper in doppelter Ausfertigung vorliegen. Sie kommen mit einem aus, haben aber zwei. Sie würden nichts vermissen. Keine Defizite, nur Gewinne, ein ästhetisch schönes Gebiss , keine Schmerzen mehr..........."

"Moment mal, was wollen Sie eigentlich von mir?"

Er schlug die Hände auf die Knie. "Na, eine ihrer Nieren. Rechts oder Links, welche ist ihnen unsympathischer?"

"Was???????"

"Kein Problem, Nina ruft gerade einen befreundeten Anästhesisten, wir machen das gleich hier."

"Bitte? Sie sind doch nicht mal Chirurg."

Plötzlich hielt er eine Spritze in der Hand, die andere hob er mit mahnendem Zeigefinger hoch, wobei er mich warnend anfunkelte. "Also auf dieses Vorurteil reagiere ich immer allergisch. Wir Zahnärzte sind auch Ärzte. Und Nieren......", das Lachen kehrte zurück, aber auf eine veränderte Art und Weise. Verzerrt, zu breit. Ein manisches Grinsen. "Nieren habe ich schon im ersten Semester entfernt." Er war über mir, sein Grinsen, seine Zahnkronen.
"Studentenjob bei einer Rupferkolonne. War ne schöne Zeit in Venlo. Wir haben die Leute im Parkhaus geschnappt, wenn sie in ihren Wagen steigen wollten. Bisschen Chloroform, ab in den VW-Bus, schnipp schnapp und in fünf Minuten ist die Niere raus."
Die Spritze war vor meinem Gesicht, als er flüsterte: "Ja, ja, die Leute sagen immer, das mit dem Nierenklau in Venlo wäre eine Urban Legend, aber die Urban Legend ist, dass das eine Urban Legend ist..........."

Ich versucht mich aufzurichten, aber er drückte ich nieder. Er war unglaublich kräftig. Sagte man nicht, Irre wären wahnsinnig stark?

Es war schlimmer gekommen, als ich es in meinen schlimmsten Alpträumen erwartet hatte. Viel schlimmer. Aber bevor ich wirklich in Panik geraten konnte, spürte ich die Spritze in meinem Arm und hörte seine Stimme. "Wirklich, wir müssen Ihre Zähne behandeln......." er lachte, und wie er lachte. "Schlechte Zähne können Ihre Nieren schädigen, wussten sie das?"

"Oh mein........." Und dann schwanden mir die Sinne.

***

Ich erwachte schweißgebadet. Aber nicht auf der Liege, nicht aus der Narkose. Mein Laken hatte sich in eine Pfütze aus Angstschweiß verwandet. Mein Bett war unbewohnbar geworden.

Es war ein Alptraum gewesen, ein Produkt meines Unterbewusstseins, erschaffen aus meinen Ängsten. Was für eine Erleichterung - doch nur für einige gnädige Augenblicke, denn dann begriff ich, was für ein Tag es war. Heute würde ich mich meiner schlimmsten Angst stellen müssen.

Meinem Trauma, meinem Waterloo, meinem Gang nach Canossa.

Oh wie sehr, mein Weg zu Zahnarzt dem in meinem Alptraum glich. Und dann die Parkplatzsuche und dann, ja dann das schlimmste: Das Warten im Wartezimmer. Eine Verkettung von DejaVus, als sähe ich mir den Thriller der letzten Nacht noch einmal von vorn an. Dreidimensional, mit Dolby Surround für den Bohrer.

Doch in der Sekunde, in der ich aufgerufen wurde, trennten sich Traum und Wirklichkeit. Alles war anders. Der Zahnarzt war jünger als erwartet, in meinem Alter und er stellte sich auf meine Panik ein. Ließ sich Zeit, nahm den Befund auf, erklärte ihn mir und versicherte mir, alles sei gar nicht so schlimm und mit der Versicherung würde es wohl keine Probleme geben . Ja er benutzte nicht einmal einen Bohrer oder eine Spritze. Lediglich eine Salbe trug er auf und schlug vor, da die Entzündung zurückgegangen sei, könnten wir uns einige Tage Zeit lassen und dann ganz langsam mit der Behandlung beginnen............

Was für eine Erleichterung.

Freudig strahlend, wie der kleine Junge aus der Werbung - Mama, er hat gar nicht verstümmelt - ließ ich mir einen Termin geben, öffnete die Tür, trat hinaus ins Licht.

Nur etwas war vielleicht ein wenig seltsam. Bevor ich durch die Tür in eine schmerzfreie Freiheit zurückkehrte, trat der Doktor noch einmal an meine Seite. "Ach ja., etwas noch. Da sie in den letzten Jahren einige unbehandelte Zahnentzündungen hatten, wäre es ratsam, wenn Sie sich vorsichtshalber untersuchen lassen würden.....", er klopfte mir beruhigend auf die Schulter. "Kein Grund zur Sorge. Ist nur Routine, aber........wussten Sie, dass schlechte Zähne Ihre Nieren schädigen können? Ich meine, wäre doch schade drum, oder?"

ENDE


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