© der Geschichte: Annika Senger. Nicht unerlaubt
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Fleisch-Marketing

"Un' wie alt biste?" fragt er sie.
"Neunzehn. Fast zwanzig..."
"Na, vom Aldor könnd' das ja gerade noch so klabbe. Willste 'n Bier odor Wassor?"
"Wasser wäre nicht schlecht", antwortet sie.
"Weißte, Mädel", grunzt der bierbäuchige Typ im schwarzen Muscle-Shirt, "ich will ja nit sage, du wärst dick odor häßlich odor so, abbor für die Branche müßten schon noch 'n baar Kilo runnor. So is' es halt. Endwedor man is' dürr wie 'n Hering, odor die Köze is' so schwer, daß ma' se selbst kaum noch schlebben kann. Middelmäßig wie du vorkauft sich halt nit uff 'm Markt."
"So, so, Johnny."
Nervös läßt sie ihren Blick kreisen. An den Wänden hängen glänzende Fotos lüstern lächelnder Mädchen, ausschließlich blonde und brünette mit rosa Lippenstift auf niedlichen Schmollmündern, vernachlässigt bekleidet vor farbenprächtigen Landschaftstapeten für Schlafzimmer posierend.
"So is' es halt. Abor plärr' erst ma' den Song, Mädel. Dann sehe ma' immor noch weidor."
Das harmonische Zischen seiner Bierdose stimmt das schwungvolle Schunkel-Playback an. Am Computer zusammengebastelte Plastiktöne strömen aus einem Kopfhörer in ihre Ohren. "Er war 16 und sie 45", haucht sie ins Mikro, "die schwebten gemeinsam bis zum Himmel. Die Sonne ging auf, und dann war er kein Kind mehr, sondern ein Mann und sie seine Lehrerin für Biologie... Es lebe die Liebe, heiße Gefühle. Du kannst dich nicht wehren. Nein, du kannst ihr nicht widerstehn. Es lebe die Liebe, denn sie ist wunderschön."
Johnnys schwarzer Kater schleicht um ihre strammen Bauernbeine. Der Förderer junger Nachwuchstalente weiblichen Geschlechts sitzt am Mischpult, Knöpfe und Hebel bedienend, Bier schluckend. Schaum klebt in seinem über die Oberlippe hängenden Bart. Fettige graue Zottelhaarsträhnen ragen ihm in sein fahles Gesicht. Eine der Wände ist mit Postern geschmückt, Selbstportraits für Werbezwecke, mit E-Gitarre in Jimi-Hendrix-Pose, am Keyboard seine flotten Pianistenfinger in die Tasten werfend. Mit Slogans wie "Johnny Joy im Festzelt am Messeplatz, 31. Juli 1990 ab 19 Uhr" und "The Schützengarde proudly presents Johnny Joy and Band, 3. August 1992 ab 20 Uhr at the Entenanger" erzählen sie ein Stück Musikgeschichte.
"Na ja Mädel, gewöhn' dir bidde in Zukunft däs glassische Dremolo ab. Ich weiß ja, deine Gesangslehrorin fährt voll uff so'n Zeugs ab, abor uff'm Markt gommt das ganz schlecht. Neulich war so'n Mädel hier, süse 17, die stand ja richtig uff deutsche Schlagor. Bei der kam der Groove todal mit Herzblut. Man glaubt der bei dem Song au' richtig, wasse rüborbringe will."
"Hm, eigentlich singe ich ja viel lieber englische Songs..."
"Englisch verstehe die Leude au' nit, gell? Na, ich hab' da was für dich, Mädel. Für das Deil wird gerade 'noch ne knaggige Indorpretin gesucht. Mit Ganzkörperfodo, versteht sich. 'S kleine Mädel von neulich mußt' ich ja per Scannor 'ne blonde Mähne verpassen und 'nen endsprechenden Körbor dranmondieren, weil die nur 'n Baßbild dahadde. Dor Produzent steht halt uff Äusorlichkeiden. Wie de singt zählt da erst an zweidor Stelle. Da ka' ma' halt nit viel mache."
Der Kater springt schnurrend auf ihren gepolsterten Schoß und läßt sich von ihren Wurstfingern kraulen. Verspielt drückt er ein Stupsküßchen auf ihre für die Musikbranche tödliche Kartoffelnase.
"Hör dir das Deil einfach ma' an, Mädel. Un' dann gannste ja immor noch sage, ob de Bock druff hast."
Eine dünne weibliche Stimme, durch gewaltigen Hall gestützt wie ein Celluliteschenkel im Gummistrumpf, stöhnt brünstig aus den Boxen: "Kick me, baby. Baby, kick me again. My loneliness must come to an end..."
"Interessanter Text", meint sie trocken. "Ein bißchen Englisch versteh' ich noch. Aber gerade mal so, unter uns gesagt."
"Ach, was kümmort de Leude denn dor Text! Wichtig is' erst mal das Fodo. Am besten im Minirock. Das muß priggeln, Mädel! Un' noch was: Nimm deine Brille vonnor Nase. Brille gommt scho' mal ganz schlecht uff'm Markt."
"So, so. Brille ab, Wasserstoffperoxid für Blondierung und Minirock. Soll ich mir vielleicht auch die Brust vergrößern lassen?"
"Hey, hey, willste mich verarsche, Mädel?"
"Nein, nein", beteuert sie, "wie könnte ich das wagen! Hätte ja zumindest sein können. Als Fleisch-Marketing-Strategie vielleicht."
Der Kater auf ihrem Schoß schnappt nach ihrem für dieses und jenes zu kurz gewachsenen Daumen. "Abbor wenn de mich scho' mal so fragst, Mädel. Bei dem Produzenten is' alles drinne."
"Na gut, Johnny, das sind alles sehr aufschlußreiche Informationen. Ich muß jetzt aber leider, leider gehen."
"Dann gib ma bidde bis zum Wochenende Bescheid wegen dem Gick-Me-Deil."
"Sicher, Johnny. Sicher..."
Nüchternen Blickes schlendert sie aus Johnny Joys kleinstädtischer Provinzlegendenschmiede. Ihre Lunge frißt den frischen Luftstrom, der ihr vor der Haustür ins Gesicht bläst. An der Straßenbahnhaltestelle denkt sie laut: "Also, der Kater war ja echt zum Verlieben süß."

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