© der Geschichte: Tim Longerich. Nicht unerlaubt
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Eine kleine Erkältung unter Freunden

Alleine und krank zuhause im Bett. Bei Jens angesteckt.
Erkältung. Die Atemwege sind dicht. Der Versuch, Luft zu holen, ist ungefähr so erfolgreich, wie der einer auf nuttig gedonnerten 13-jährigen, die versucht an den Türstehern vorbei in eine Großstadtdisco zu kommen:
gleich null, aber einer unter hundert kommt durch - und verhindert mein frühzeitiges Ableben.
Da kann man froh sein, dass Schleim lediglich die Auffassungsgabe eines Türstehers hat.

Einen blauen Müllsack hinter mir herziehend, in dem ich meine verrotzten Taschentücher sammele, provisorisch im Bademantel gewandet, taumele ich durch die Wohnung und fühle mich als wäre der Kater ein Rudeltier - und ich die Location für eine Populationsversammlung.

Der Grund warum ich meine Bakterien alleine im Bett zurückließ: Hunger.
Richtiger, ehrlicher, ungenierter Hunger, nach Tagen der krankheitsbedingten Appetitlosigkeit. Einen güldenen Buttertoast mit frischer Marmelade male ich mir aus, würziger Käse...
Keuchend den Kühlschrank erreicht und geöffnet, offenbart sich mir das endgültige Dilemma meiner Einsamkeit:
ein halber Liter Milch und eine Dose mit etwas darin, dessen Name Ihren Bildschirm zerkratzen würde.
Frustriert greife ich mit zittriger Hand nach der Milchflasche und stelle sie auf den Küchentisch. Den Tränen nahe beginne ich, mit einem ranzig schimmernden Löffel angetrocknete Cornflakes aus meiner einzigen Schüssel zu klopfen. Spätestens jetzt wird mir klar, dass, verglichen mit meinen Gliederschmerzen, eine Steinigung dem Gefühl mit Wattebäuschen beworfen zu werden gleichkommt.
Der Kraftaufwand kostet mich beinahe das Bewusstsein. Und den Löffel. Doch bevor ich den Löffel abgebe und einen Nieser später, gelingt es mir den Wasserhahn aufzudrehen und die restlichen Krümel davon zu schwemmen.

Voller erwachender Lebenslust schütte ich mir den gestoßenen Rest Cornflakes in die Schüssel, kippe die Milch - den flüssigen Rest - darüber und bewaffne mich mit einem Tablett und dem verbogenen Löffel.

Dann: der brutale Rückweg ins Bett. Wie durch einen Nebelschleier sehe ich meinen Telefontisch, nähere mich ihm in gebücktem Lauf, als hätte ich Gegenwind, das Gesicht ein schmerzverzerrte Fratze, die Hand mit dem krummen Löffel zum Schutz erhoben. Ich wundere mich, dass ich Reinhold Messner nirgends sehe.

Eine Fliege sitzt auf dem Telefon und beobachtet das Geschehen. Sie sieht einen grässlichen, schlurfenden Untoten mit blutunterlaufenen Augen aus der Küche eiern, dessen Nase sich unter Bildung blutiger Ränder an den Flügeln beginnt vom Gesicht zu trennen, der sich das letzte Essbare des Hauses unter den verwesten Nagel gerissen hat, eine biologische Waffe hinter sich her schleifend - dann verdreht sie die Augen und sackt ohnmächtig auf dem Hörer zusammen.

Im Bett angelangt wird der sorgfältig geplante und für das Wohlbefinden so wichtige Zufriedenheitsseufzer in einem trockenen Hustenanfall erstickt.
Durch die erdbebengleiche Erschütterung verteilt sich eine besonders feuchte Hälfte meiner Cornflakes zu gleichen Teilen auf mein Tablett und mein Bett.

Ein Jubel fegt durch die Reihen der Bakterien. Standing Ovations. Jahre Später wird eine Wollmaus-Statue des edlen Spenders, der den Bakterien den nächsten Schritt in der Evolution ermöglichte, diese Stelle krönen.

Die Fassung wahrend, zertrümmere ich mit der Schüssel das Tablett und anschließend mit dem Löffel die Schüssel, bevor ich diesen bis zur Unkenntlichkeit verbiege und quer durch den Raum schmeiße.
Und dann mache ich mich, Reue empfindend, daran, die Cornflakes von meiner Bettdecke zu lutschen.

Jäh halte ich inne.

Der Schmerz plötzlicher Erkenntnis lähmt mich. Und echter Schmerz ebenfalls.
Ich habe die weitläufigen Täler vergessen, die einem die Erkältung gleich einem Minenfeld über den zarten Innraum des Mundes säht, um sie bei jeder falschen Bewegung eines hereinkommenden Nahrungsfragments zu wallendem Schmerz explodieren zu lassen. In meinem unglücklichen Fall latschte ein trockener Splitter Cornflake unbedacht in solch einen Krater des Horrors.
Gemeinsam entlocken die beiden mir ein furioses Schreikonzert, eines, vor dem selbst Whitney Houston nach der dritten Nase Koks noch zusätzlich den Hut ziehen würde.

Eines wird mir spätestens jetzt klar: für die Rache an Jens werde ich mir einen ganz außergewöhnlichen Virus besorgen...

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