© der Geschichte: Jakob Anderhandt. Nicht unerlaubt
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Das Abschieds-Fragment

Wehe, du willst eine Bahnhofszene? - Der Schalterbeamte kommt mit einem knatschorangen Ordner zurück.
"Entschuldigung, das ist nicht auf EDV, wird zu selten verlangt."
"Verstehe ich."
"Aber hier ist es. Auf gutem, altem Papier. Begrüßung, Abschied, Wiedersehen nach ein paar Tagen, Wiedersehen nach längerer Zeit."
"Ist Beratung mit im Angebot?"
"Sie können mehrfach wählen. Wir haben attraktive Kombi-Preise."
"Ach, nein... helfen Sie mir bei der Entscheidung."
"Tut mir leid, im Einzelfall dürfen wir keine Empfehlung aussprechen. Das würde unsere Verantwortlichkeit überschreiten."
"Na, kommen Sie, einfach und unverbindlich! Denken Sie an die Zukunft ihres Unternehmens... oder an sonst irgendwas!"
"Dauert's noch lange?" brüllt einer von hinten.
"Schalter sieben öffnet in zwei Minuten", ruft der Beamte zurück. Die Schlange beginnt sich aufzulösen.
"Entscheiden Sie blind", schlage ich vor.
"Da ginge ich auf Abschied", grinst der Beamte.
"Sie haben Intuition!"
"Dann nehmen wir das..."
"Kann ich mit Kreditkarte zahlen?"
"Selbstverständlich. Aber die Entscheidung... behalten Sie für sich."
"Natürlich."
"Zu den Formalitäten: Name? Alter?"
Ich nenne, er notiert.
"Abschiedsgrund?"
"'Denn meine Fragen sind nicht ihre Fragen.'"
"Das ist zu poetisch. Formulieren Sie es neutraler."
"Aber es ist klar, um was es geht. Formulieren Sie es!"
"'Weltanschauliche Differenzen'. Da gibt es sogar ein Kästchen für."
"Also, ich bin eher ein romantischer Typ..."
"Typ kommt später. Soll ich das ‚weltanschaulich' ankreuzen?"
"Tun Sie es."
"Wünschen Sie ein Wiedersehen?"
"Offenlassen."
Er nickt. "Mache ich auch immer. Sie bekommen dann Gratispost mit Vorschlägen, wie es weitergeht. Jetzt die Zusatzleistungen: Sind Sie im Besitz eines Taschentuches, oder soll es von uns gestellt werden?" ...
Rückblickend kann ich das Organisationstalent der Bahn nur loben. Ich weiß um die vielen Verspätungen, ich weiß auch um mangelnde Sicherheit. Aber sie, sie hatte kaffeebraune Augen, pechschwarze Haare und konnte ihren Kopf in einem geradezu entzückenden Schwung von mir abwenden. Geschmackvoll gekleidet, halbhohe Schuhe, ein heller, leichter Wintermantel. Bis knapp an die Schulter reichte sie mir; äußerlich bildeten wir ein wundervolles Paar.
Nur unser Inneres, die weltanschaulichen Differenzen, wie der Beamte gemeint hatte... - Den Bahnsteig gingen wir entlang, es war Samstag, und es herrschte reger Reiseverkehr. Meinen Koffer hatte ich bereits aufgegeben.
"Was hast du vor in Nürnberg", fragte sie, "ich meine, abends, so alleine?"
"Es wird sich schon etwas ergeben." Wir kamen an einem Spiegel vorüber.
"Halt", meinte ich.
Nebeneinander stellten wir uns auf. Ich legte meinen Arm um sie. Schließlich hatte ich teuer bezahlt. Sie ließ ihren Kopf an meine Schulter sinken. Ein perfektes Paar. Schade, daß ich sie ausnützen, betrügen und zuletzt grundlos verlassen würde. Eine Haarsträhne wehte empor und strich mir über den Nacken.

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