© der Geschichte: Jakob Anderhandt. Nicht unerlaubt
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Wenn du gehst, dann geh auch weg

"... sich nichts sehnlicher gewünscht als dieses Kind", sagte Frau Adloff. Die Geburt war ohne Schwierigkeit verlaufen. Ihren Jungen hatte sie zweimal im Arm gehabt. Es kam der erste Spaziergang auf der Station, der Blick durch das Fensterchen auf die Neugeborenen. Ein leeres Bettchen fiel ihr auf. Wie schön, wenn er jetzt bei ihr wäre. "Uwe?" fragte sie die Schwester, um zugleich auf das Bettchen zu zeigen. Dort müßte er liegen. Aber wo war er? Das Mysterium hatte seinen Anfang.
Eine Viertelstunde später fanden sie ihn. Eine Verwechslung. Nicht zu entschuldigen. Nicht zu erklären. Aber wo die Verwechslung einmal möglich ist, da ist sie es auch zweimal. Der Säugling fühlte sich fremd an. Da, nicht da. Sie würde sich neu an ihn gewöhnen müssen.
Momente, in denen er ihr wie ein Körper vorkam, warm, voller Zutrauen, aber nicht als winziger Jemand, der seinen Namen verdiente. Wie konnte es Werner, ihr Mann, nur so leicht nehmen? "Der Junge verschwindet eben.
Daran erkennen wir ihn." - Nein, er entzieht sich. Kaum da, schon abgehauen. Nie da gewesen. Vielleicht war die Schwierigkeit bei der Geburt, daß es keine gegeben hatte. Nicht genügend Schmerz, kein Übergang. Aber den locken wir in die Welt.
Das denkt sie, bis er sich heiser schreit, alles von sich gibt, auf Durchlauf schaltet (wie Werner sagt), bis sie plötzlich starr wird über dem Gedanken, ein rohes Stück Fleisch vor sich zu haben, ganz wie sie es bei ihrem Vater erlebt hat, vor dessen Tod. Das ist er nicht, sofort vergessen, lieber die Erinnerung behalten, wie er war, die vielen Jahre. Sich daran festhalten. Daran glauben.
Bei Uwe? An ein paar Umarmungen? Es hat sich ja schon umgekehrt, binnen weniger Monate. Beim besten Willen, ein- oder zweimal war schon reiner Haß, der neutralisiert hat wie bei dem Experiment in Chemie, das sie mit zehn so faszinierte. Rote Flüssigkeit, gelbe, man schüttet sie ineinander, und heraus kommt Wasser, durchsichtig, Trinkwasser. Nicht aufgeben, das darf nicht bleiben. Rudi, ein süßes Zottelmonster muß her. Auf dem Rückweg vom Geschäft überrascht sie der Regen, sie muß an die Taufe denken, Rudi, der Bär, nimmt das Wasser wie ihr Sohn. Tropfenzotteln, Uwes Kringelsträhnen. Rudi und das Kind sind schon eines, bevor sie zu Hause anlangt.
Das hättest du wohl gern, denkt sie, setzt den Bär vor ihn hin, jetzt schneide ich diesem Tier einen Schlitz in den Rücken, hol die Füllung raus, und du kannst dich in ihm verkriechen, da und nicht da, helf' dir noch hier aufzuführen, wie ich auf dich wirke. Uwe, komm raus, sei anwesend! Zeig, daß es dich gibt! - Aber Uwe lehnt es selbst ab, sich den Ort seines Nichtseins vorgeben zu lassen. Rudi am Frühstückstisch, und Uwe beäugt die Suche der Mutter vom ersten Stock aus. Dann sitzt Rudi auf der Schaukel im Garten, es ist Sonntag, und Werner findet seinen Sohn (inzwischen anderthalb Jahre) am frühen Abend im Trockner. Soll er, denkt der Vater, in die Welt kommen jetzt halt Dinge, mit denen er das Verschwinden üben kann, so lange, bis er es satt ist! - Also ist Uwe mit seinen neuen Schuhen weg, er ist mit dem Roller weg, mit dem Rad weg. "Uwe suchen", heißt Herrn Adloffs Antwort, wenn man ihn fragt: "Was machst du abends nach Betriebsschluß?" Und nie zeigt Uwe Angst, nicht gefunden zu werden, denn er wird es ja immer. Nie kommt er von selber zurück, denn er wird ja immer geholt, gebracht. Tatsache: Herrn Adloffs Plan scheitert, ganz wie der seiner Frau. Geübt wird das Verschwinden, doch gelernt wird nicht das Loslassen, nicht die Rückkehr. Noch einmal wird Uwe zum Meister der falschen Spur. Das Rad findet sich auf dem Spielplatz, er hat sich ins Edeka einschließen lassen, wo er am nächsten Tag schlafend mit einer Packung Frosties im Arm gefunden wird. Der kleinen Silvia schenkt er seine Schuhe, schickt sie nach Hause, um sich barfuß mit einer Gruppe ins Freibad zu mischen. Uwe, das ist der unterm Ende der Rutsche, das ist der hinterm Baumstamm, der im Gebüsch, wo die Zecken sind.
Du lieber Himmel, bei Adloffs geht es längst nicht mehr um die putzige Frage der Überbehütung, auch nicht darum, wie man sich vielleicht im Ungewissen am besten einrichtet, nein, es geht um den Haushalt der Kräfte, um einen bezahlbaren Preis für das Da. Uwe - ich lerne ihn mit fünf beim Kindergeburtstag kennen; es ist genau dieses Bild, das sich mir einprägt. Wir wollen Kreiseln spielen, wir einigen uns auf sieben Drehungen linksrum, sieben rechtsrum, vor dreißig soll jeder aufhören. Uwe nickt, startet in einem Wahnsinnstempo fünfzig Drehungen gegen die Uhr, knickt ein, liegt vor mir auf der Wiese, den Blick nach oben. Ausgeflogen? Er war zu lange unter uns.
"Wenn du gehst...", sagt Frau Adloff. Wir sitzen auf dem Stationsflur. Fabrichs, die Gastgebereltern, sind mitgekommen. Auch meine Eltern sind da. Der Geburtstag ist abgebrochen. Einer der wenigen Momente in meinen Kindheitserinnerungen ist das, wo die Erwachsenen offen miteinander sprechen. Es kann keinen Hinterhalt mehr geben, denn sie wissen alle nicht weiter. Frau Adloff hat einen Artikel im Stern gelesen, über die Landjugend in der Eifel und ihre samstäglichen Rasereien. Mit starrem Gesichtsausdruck deutet sie jenen Satz an, den die Bauersfrau hinten im Interview gesagt hat: "Manchmal hoffe ich, daß er auf dem Rückweg gegen einen Baum fährt ... damit ich nachts wieder ruhig schlafen kann." Auch Frau Fabrich hat den Artikel gelesen, sie kennt die Adloffs gut. Jetzt sagt sie: "Man denkt wohl, bei Kindern würde sich die Frage nach dem Sinn nie stellen. Manchmal tut sie es doch." Mein Vater spielt Empörung, er spielt sie aber so bewußt und so deutlich, daß ihn jeder durchschaut. Wenn du gehst, dann tu es jetzt.
Aber Uwe geht natürlich nicht, er kommt auch nicht zurück, er wird geholt. "Schwach, aber stabil."
Freudentränen - kein neuer Anfang. Die Eltern nehmen weiter Distanz. Uwe, das scheint der Weg nach draußen zu sein. Wer sich in seine Nähe begibt, der kommt an die Kreuzung. Auch ich bin es, der naiv Geliermittel in dieses Rätsel mixt. In Uwes Nähe, denke ich an seinem Krankenbett, da schweigen die Vögel. Es flüchten die Tiere. Es ist still, wie vor einem Erdbeben. Liebe Kinder, seid gewarnt.
Noch während der Grundschulzeit wird er öfters von der Polizei aufgegriffen. Er erscheint nicht zum Unterricht. Herr Adloff besinnt sich eines anderen, er praktiziert nun klassische Verdrängung und legt einen Kellerraum an mit einem Vorhängeschloß, dessen Schlüssel er Tag und Nacht bei sich trägt. In diesen Raum kommt alles, was im Lauf der Zeit zum Symbol für Uwes Verschwinden geworden ist: Rudi der Bär, der Roller, das Fahrrad, die an Silvia verschenkten Schuhe, die Packung Frosties, die Unterlagen zum Stationsaufenthalt.
Immer häufiger gibt es Diskussionen mit den Herren in Grün. Uwes Geschichte ist ein schwarzes Schaf. Die Versuchung, sie auszugrenzen, ist groß, weil ihre Hauptfigur nicht plastischer, sondern undurchsichtiger wird. Uwe kommt in ein Heim für schwererziehbare Kinder. Meine Mutter sagt: "Aber samstags ist er manchmal bei seinen Eltern." Ich lese Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Die Spur verliert sich.

Mit siebzehn steht er plötzlich bei Adloffs vor der Türe, strohblond, braungebrannt und sagt was sonst als: "Ich brauche Geld." Abgehauen, bis nach Frankreich hat er es geschafft zusammen mit einem Kumpel, dort bei der Ernte geholfen, dann weiter gefahren nach Paris, ist beklaut worden, hat selber geklaut, erstklassige Klamotten stibitzt, ist mit dem Kumpel in ein Fünfsterne-Terrassenrestaurant gegangen, hat die Gänge gespachtelt und die Zeche geprellt, Streit bekommen über den Rest der Finanzen, ist ohne Fahrkarte in einen Zug gestiegen und zwei Stationen vor Köln erwischt worden. "Ich will nach Tibet, Mutter. Ich will es wirklich." Sein Kinderzimmer ist, wie es war. Aber die Einliegerwohnung, die Herr Adloff für ihn ausbauen wollte, wurde an einen Studenten vermietet. Der Schlüssel für das Kellerverlies ist inzwischen in die Dielenkommode gewandert; Frau Adloff hat ihn dort gefunden und Uwes Sachen allmählich wieder nach oben geholt.
"Zwei Wochen Aufenthalt", sagt Herr Adloff, "und keinen Pfennig."
Beim ersten Frühstück fordert Uwe sein Spielzeug. Er sagt, er will die Sachen verkaufen.
"Es sind die letzten Erinnerungen an meinen Sohn", sagt Frau Adloff.
"Es sind meine Sachen", sagt Uwe. "Ich bin der Sohn."
"Längst verjährt dein Besitz", sagt Herr Adloff.
"Dann kaufe ich Uwe die Sachen ab", schlägt Frau Adloff vor, "für die Hälfte des Preises."
"Da stimme ich nur zu, wenn das schriftlich gemacht wird."
Am Mittag kommt Frau Adloff zurück, und siehe, das Zimmer ist leer bis auf Bett, Tisch und Schrank. Uwe taucht erst gegen Abend auf. Er sagt, er hätte es sich anders überlegt, tut aber gleichzeitig, als sei nichts gewesen. Frau Adloff heult, hockt sich aufs Bett. Der Vater kommt nach Hause. Voll Wut liefert er das Stichwort.
"Wer sowas tut, der ist nicht mein Sohn!"
"Und was, wenn ich es überhaupt nie war?!"
Das Mysterium bricht auf. Uwe kennt die Geschichte aus dem Krankenhaus. Als er einmal nach dem Kindergarten bei Fabrichs war, ist eine Andeutung gefallen. Seitdem trägt er die Vermutung mit sich herum. Vor Tibet will er reinen Tisch haben. Er will den Vaterschaftstest. Herr Adloff stimmt zu. Frau Adloff fällt vom einen Entsetzen ins andere.
Bis zum Ergebnis des Tests lebt jeder im eigenen Niemandsland. Der Test fällt positiv aus; Vater und Sohn bringen das Ergebnis mit nach Hause. Erst jetzt bricht beim Vater die Kränkung auf: Was ist denn das für ein Familienverhältnis, wenn man einen Beweis dieser Größenordnung fordert, ihn offensichtlich braucht nach fast drei Jahren ohne Kontakt, um sich loszusagen? Uwe kommt sich vor wie in neuen Fesseln.
"Ich will reinen Tisch machen", wiederholt er stur. "Ich will frei sein, klar den Schlußstrich ziehen!"
"Dann wirst du jetzt damit leben müssen, daß es diesen Schlußstrich nicht gibt!" Uwe stürzt vom Mittagstisch. Eine halbe Stunde später geht der Vater nach oben. "Laß uns ein anderes Ende finden", schlägt er vor. "Unter der Voraussetzung, daß du tatsächlich eines willst. Wir haben die Möglichkeit zu einem anderen Ende. Nur Blut, Uwe, das bekommen wir beide nicht auseinander."
"Dann gibt es kein Ende!"
"Sag mir, was deine Mutter und ich dir angetan haben, daß du so sehr diese Trennung willst!"
Uwe weiß es nicht. "Vielleicht habe ich ja Probleme mit Eltern überhaupt!"
"Aber andererseits brauchst du als Autorität einen Zettel, um dich von deinen Eltern loszusagen. Das zeigt doch nur, wie wenig erwachsen du bist."
Uwe seufzt. Der Vater macht eine unschlüssige Geste. Uwe gesteht, daß er seit seiner Ankunft den Studenten im Auge hat. "Der paßt doch viel besser zu euch."
"Na und?" meint der Vater.

Am nächsten Morgen verschläft Uwe. Niemand hat ihn geweckt. Müde stolpert er ins Wohnzimmer. Herr und Frau Adloff sitzen beim Frühstück. Für Uwe ist kein Gedeck mehr aufgelegt.
"Lange geschlafen?" fragt Herr Adloff. "Einfach durch, Kaffee ist in der Maschine."
Uwe tappt in die Küche. Neben der Kaffeemaschine liegt ein Umschlag: "U. - Aufräumarbeiten - DM 500,-"
"Zähl's nach, ob's auch stimmt!"
Nebenan geht die Tür. Uwe schaut auf den Umschlag.
"Morgen, Jonas!"
"Morgen!"
"Erste Lernrunde beendet?"
"Danke. Die Theorie fluppte nur so!"
"Geh' dir 'n Kaffee holen. Der Dings hat seinen letzten Tag, ist auch in der Küche."
Jonas ist schlank. Hinter dem schwarzen Brillengestell dämmern dunkle Augen. Uwe reißt den Umschlag auf. "Du bist der Typ mit Tibet, oder?"
Fünfhundert. Uwe nickt. Herrn Adloffs Laune scheint durch nichts zu trüben. "Endlich bekommt meine Frau ihr Nähzimmer!"
Geräusch. Frau Adloff sucht ihre Sachen für den Einkauf. Uwe steckt das Geld fort, bleibt aber in der Küche. Mit seinem Kaffeepott zieht Jonas an ihm vorüber. Vom Türrahmen kommt: "Dann mal gute Reise. Schon gepackt?" Es gibt ja nicht viel.
"Geld stimmt", sagt Uwe, und ist auf dem Weg nach oben.
Mit der Tasche wieder runter. Herr Adloff sitzt noch am Frühstückstisch. Er liest Zeitung. ‚Was arbeitet der Mann?' denkt Uwe. Er bleibt stehen, halb erleichtert, halb verdutzt, daß er diesen Gedanken jetzt hat.
"Die Tür bitte kräftig zuziehn!"
Noch was?
Uwe geht nach draußen. Er zieht die Tür zu. Auf dem Plattenweg sieht er seine Mutter. Sie ist zurückgekommen. Blicklos geht sie an ihm vorbei, auf das Haus zu.

Erstveröffentlichung: Jakob Anderhandt. Weiter: Kurzgeschichten und Erzählungen. Norderstedt: BoD, 2003. ISBN 3-8311-4434-6.

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