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Mit Vivaldi in der U-Bahn

6 Uhr 19, hatte grade die Nachtschicht hinter mich gebracht, saß in der U-Bahn-Station "Münchner Freiheit" und steckte mir eine Marlboro-Light an. Einige der Leute, die am Gleis hoch und runter krebsten, warfen mir dämliche Blicke zu, wegen des Rauchverbots. Aber damit hatte ich gerechnet und es ging mir links am Arsch vorbei.
Einige blieben neben der Sitzbank gegenüber stehen und schüttelten voller Unverständnis ihre deformierten Köpfe, mit ihren leeren und nichtssagenden Augen.
Ein Girl hatte es sich dort bequem gemacht, alle Viere von sich gestreckt, und war am Pennen. Schulterlange, brünette Haare, Anfang 20, an die 55 Kilo, schwarze Lackhose, Schuhe mit Schlangenmuster und beigefarbenem Lackmantel. Sehr gepflegt, `ne richtige Augenweide, wie sie da auf dieser Sitzbank lag, als wär' sie Modell für'n großes Magazin. Ihre Handtasche hatte sie unter den Arsch geklemmt, aus Angst man könnte sie ihr klauen. Aus ihrem rechten Mundwinkel floss ein dünner Speichelfaden auf den Boden und manchmal bewegte sie sich ein wenig. Streckte ein Bein aus, zog das andere wieder an und so weiter.
Als der Zug einfuhr, starrten einige der Männer und Frauen auf sie, gingen auf sie zu, wendeten sich auf dem letzten Meter aber wieder ab. Als hätte die Kleine `ne ansteckende Krankheit oder so was. Ich tippte ihr an die linke Schulter und sie rappelte sich langsam hoch. Ihr Speichelfaden zog sich dabei über ihre schwarze Hose.
"Da ... danke", gähnte sie und ein Schwall übelsten Mundgeruchs kam mir entgegen.
"Weiß nicht, wie lange ich da schon geschlafen hab. Von diesen Leuten weckt dich ja eh keiner auf. Denken doch gleich, bist `ne Nutte oder so was, oder `ne Drogensüchtige."
"Und WAS bist du nun?" fragte ich sie, als wir ins Abteil stiegen.
"Wie seh' ich denn aus?"
"Wie eine, die lebt!"
Sie lachte laut.
"Kennst du Vivaldi?" unterbrach ich ihr Lachen.
Sie stockte und rollte die Augen zur Decke des Zuges.
"Wer is'n das? Sollte ich den kennen?"
"Die Musik! Die klassische Musik, die sie neuerdings in fast allen Untergrundstation spielen. Wegen diesem Vivaldi bist wohl eingepennt. Riechst nämlich nicht nach Alk."
"Oh ... mit Klassik hab ich's nich so. Aber gut, dann eben dieser Arsch von Vawildi. Kenn' ich aber trotzdem nich."

Einige Stationen später stieg ich aus und hatte noch fünf Haltestellen mit dem Bus vor mir.
Zu Hause zog ich mich bis auf die Unterhose aus, setze mich aufs Sofa, knackte eine Dose Löwen-bräubier, stülpte mir die Kopfhörer über und genoss Vivaldis Nocturne Op. 9 "Murinures de la Seine". Dachte an das Girl, ihren Speichelfaden und grinste, während die Sonne aufging und mir dämlich ins Gesicht schien.

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