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Der Treasurer

Der gelbe Post-It-Aufkleber, den ich von der Hundert-Dollarnote abgezogen hatte, die ich in Charles' Bankdepot gefunden hatte, klebte auf der Innenseite des Einbands meines privaten Notizbuches. Ich wählte die Telefonnummer, die darauf stand. Am anderen Ende der Leitung meldete sich die sanfte Stimme einer Sekretärin: "US Treasury Department - Sekretariat Mr. Oberhoff."
Ich gab mir alle Mühe, meinen blasiertesten Oxfordakzent hervorzukehren, als ich sie bat, mich mit Peter Oberhoff zu verbinden.
"Und wen darf ich, bitte, melden?"
Ich hatte für derartige Fälle den Namen eines freien Mitarbeiters der Financial Times bereit.
"Ich werde sehen, was ich tun kann, Sir", hauchte sie in den Hörer. Dann hörte ich ein Knacken und als nächstes die Stimme von Peter Oberhoff. "Meine Sekretärin hat mir gesagt, Sie sind von der Financial Times, Tom. Was kann ich für Sie tun? Sie wollen doch nicht etwa ein Interview? Da müßte ich Sie leider enttäuschen. Für Public Relations ist der Minister zuständig."
"Aber nicht für das Interview, das ich mit Ihnen führen möchte, Sir. Es geht dabei eher um private Dinge."
Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich weitersprach.
"Um gemeinsame Freunde, die heute tot sind, und um einen Mann, der gestern in Boston in seinem Wagen verkohlt ist. Ich glaube deshalb, daß wir uns unterhalten sollten, Sir."
Die Stille dauerte einige Sekunden. Und die Stimme, die über den Draht zurückkam, hatte nichts mehr von der geschäftsmäßigen Freundlichkeit, mit der Peter Oberhoff mich begrüßt hatte. Ich überlegte, ob sein Anschluß angezapft war. Wahrscheinlich dachte er über das gleiche Problem nach. "Sie haben recht Tom, wir sollten uns zum Dinner treffen."
"Eine gute Idee," erwiderte ich. Er klang wie ein Violoncello, auf dem die Baßsaite gerissen ist, flach, ohne jedes Timbre, beinahe tonlos, wenn dies zu sagen nicht ein Widerspruch in sich gewesen wäre, denn es kamen zusammenhängende Worte über die Leitung.
"Was halten Sie von morgen Abend?" Darauf war ich vorbereitet. "Einverstanden. Sagen wir um acht Uhr in "Anthony's Pier Vier"
Es war Anfang April, nicht gerade touristische Hochsaison, das Wetter war unfreundlich, naßkalt, ich konnte davon ausgehen, daß morgen in "Anthony's Pier Vier" nicht viel los sein würde. Ich hatte das Gefühl, daß er einen Augenblick zögerte. Aber dann hatte er sich anscheinend entschieden.
"Gut, Tom, abgemacht, morgen Abend um acht. Wir werden uns viel zu erzählen haben. Ich freue mich schon."
"Ich auch, Sir," sagte ich und legte auf.

In dieser Nacht schlief ich schlecht. Es fiel mir schwer, meine Gedanken zu ordnen. Ich wußte, was ich wollte, aber ich war kein Kamikazeterrorist, der sich die Sprengladung um den Bauch band, um sich dann mit seinem Opfer zusammen in die Luft zu sprengen. Als der Morgen anbrach, stand ich auf und sah aus dem Fenster, ein bleigrauer Himmel hing drohend über der Skyline von Boston und es regnete. Am frühen Nachmittag fuhr ich über die Atlantic Avenue zur Northern Avenue, einige hundert Meter vor Pier vier stoppte ich den Wagen auf einem Parkplatz. Ich stieg aus, zog meinen Hut etwas in die Stirn, schlug den Kragen meines Mantels hoch und setzte meine dunkel getönte Brille auf. Weit und breit war kein anderer Wagen zu sehen. Der böige Wind trieb heftige Regenschauer vor sich her. Nach einigen Minuten war ich durchnaß. Trotzdem hoffte ich, daß das Wetter so bleiben würde. Das Gelände hatte den Vorteil, daß es übersichtlich war wie ein leergegessener Teller. Auf der anderen Seite glaubte ich nicht, daß das Risiko groß war, heute abend in eine Falle zu tappen. Peter Oberhoff würde andere Mittel und Wege wissen als einen plumpen Überfall in der Nähe von "Anthony's Pier 4", um einen unliebsamen Zeugen zu beseitigen. Es würde sein Bestreben sein, unser Treffen so unauffällig wie möglich zu gestalten.
Als ich zwanzig Minuten vor acht das Restaurant betrat und der Ober mich zu einem Tisch brachte, der uns vor etwaigen neugierigen Blicken abschirmen sollte, war mir auf meinem Weg hierher nichts besonderes aufgefallen. Peter Oberhoff näherte sich zehn Minuten später dem Tisch, ich erkannte ihn zwar sofort aufgrund des Fotos, das ich mir vorher besorgt hatte, aber es war nur ein Porträtfoto gewesen, und als er auf mich zukam, wirkte er nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Sein massiger Kopf saß auf einem vergleichsweise kleinen Torso. Er mochte etwas über einen Meter siebzig groß sein. Trotzdem vermittelte er nicht, wie viele relativ klein gewachsene Menschen, den Eindruck kompakter Gedrungenheit. Er war schlank, wenn er auch nicht eigentlich hager wirkte, so doch asketisch. Im auffallenden Gegensatz dazu stand sein Kopf, dessen gerundete, leicht rötlich schimmernde Backen und der volle, ein wenig vorgestülpte Mund etwas Epikuräerhaftes hatten. Sein dunkelblauer Anzug war sicher nicht von der Stange gekauft worden, genausowenig wie sein Hundert-Dollar-Hemd und die Krawatte, die ebenfalls aus einer teuren Designerschmiede stammte. Ich machte eine einladende Handbewegung, blieb aber sitzen. Er sagte: "Hallo, Tom." Dann fügte er lächelnd hinzu: "Wenn ich auch nicht annehme, daß das Ihr richtiger Name ist."
Ich antworte mit einem etwas steifen "Guten Abend, Sir."
Peter Oberhoff setzte sich. Bis der Ober kam und unsere Bestellung aufnahm, sagte keiner ein Wort. Er faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. Mir schoß der Vergleich mit Edgar Hoover durch den Kopf, der bei den Diensten unter dem Spitznamen "Buddah" geführt wurde.
"Ich gehe davon aus, Tom, daß keiner von uns beiden irgendwelche Mikros spazierenführt."
Ich nickte als Antwort.
"Gut, abgesehen davon werde ich mich, sobald ich diesen Raum verlassen habe, an nichts mehr von dem erinnern, was heute abend gesagt wurde."
Er zögerte einen Augenblick.
"Sollte mich jemand mit meinen angeblichen Äußerungen konfrontieren, ist alles die Ausgeburt einer blühenden Fantasie."
Als ich nichts entgegnete, sagte er: "Sie haben am Telefon seltsame Andeutungen gemacht, Tom. Ich glaube nicht, daß sie mich etwas angehen, aber ich bin trotzdem gekommen und höre Ihnen gerne zu."
Ich räusperte mich.
"Ein Freund von mir wurde letztes Jahr im Dezember in Zürich auf offener Straße erschossen - ich war dabei, und bevor die Polizei am Tatort eintraf, gelang es mir, sein privates Notizbuch an mich zu bringen. Von diesem Notizbuch führte der Weg zu einem Schließfach bei einer Bank in Boston. Dort fand ich unter anderem eine Telefonnummer und eine Hundertdollarnote."
Die Gabel, mit der Peter Oberhoff seinen Shrimp Amanda bearbeitete, ein Shrimp gefüllt mit einer Mischung aus Krabbenfleisch, Käse und Gewürzen, übergossen mit Weißwein, blieb einen winzigen Augenblick in der Luft hängen.
"Ich fragte mich, warum ein Mann wie Charles Lundgren, der täglich mit Millionen jonglierte, im Schließfach einer Bank eine Hundertdollarnote aufbewahrte. Es stellte sich bald heraus, daß diese Banknote einige Merkwürdigkeiten aufwies. Für mich war naheliegend, daß zwischen der Hundertdollarnote und dem Mord an meinem Freund ein Zusammenhang bestand. Dann wurde, ebenfalls im Dezember, in Basel der Comics-Autor und Cartoonist Günther Schneider ermordet, ein guter Freund von Charles Lundgren. Schließlich kam vor einigen Wochen der römische Finanzier Mario Cerrutti ums Leben. Auch er gehörte zum engeren Bekanntenkreis von Charles Lundgren. Ein Unfall auf der Autobahn zwischen Rom und Florenz." Ich lächelte nachsichtig. "Der Hergang konnte nicht genau geklärt werden. Der Verursacher des Unfalls wurde nie gefunden. Für die Polizei war die Sache erledigt, wenn die Gerüchte auch von einem bezahlten Mord sprachen. Aber es fehlten die harten Beweise, und die Italiener waren froh, den Aktendeckel über dieser Affäre schließen zu können."
Peter Oberhoff hatte mir bisher zugehört, ohne mich zu unterbrechen. Der Ober kam und brachte für mich ein Schwertfischsteak und für ihn ein Sirloin-Steak mit Krabben.
"Selbst wenn Ihre Vermutungen sich erhärten ließen, Tom, und daran zweifle ich, dann sind Sie mir bisher die Erklärung schuldig geblieben, was ich mit all diesen Ereignissen zu tun habe."
Mein Schwertfischsteak war außen rußschwarz und scharf gewürzt. Ich trank einen großen Schluck Wasser, bevor ich weiterredete.
"Natürlich hatte ich eine Theorie, was hinter dem falschen "echten" Hundertdollarschein und den Morden steckte. Schließlich bin ich Wirtschaftsjournalist. Die US-Regierung ist praktisch zahlungsunfähig. Die Schuld ungehemmter Ausgabenpolitik und der seit Jahren grassierenden deflationären Depression. Und da ist die Federal Reserve Bank, die zu einer Politik des knappen Geldes verpflichtet ist. Ein Thema, wozu es im Schatzministerium und im Weißen Haus jedoch unterschiedliche Auffassungen gibt. Natürlich würde die Regierung mit einer offenen Politik der unkontrollierten Geldmengenvermehrung ihren letzten Kredit verspielen. Und deshalb hat sie nach einem Ausweg gesucht: ein zweiter Geldkreislauf neben dem offiziellen. Allerdings war es für mich lange ein Rätsel, wie der so geschaffene zweite Geldkreislauf in nennenswerte Liquidität für die Regierung umgesetzt wird. Durch Zufall erfuhr ich von Ihren häufigen Reisen nach Allentown, und ich fragte mich, was ein hoher Beamter des US-Schatzministeriums so oft in Allentown zu tun hat. Deshalb bin ich Ihnen auf einem Ihrer Ausflüge gefolgt. Nachdem ich Ihr Ziel kannte, habe ich mich einige Wochen später selbst auf diesem brachliegenden ehemaligen Fabrikgelände umgesehen. Was ich entdeckt habe, brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen."
Der Mann, der mir gegenüber saß, blickte mich nicht an, sondern beschäftigte sich aufmerksam mit seinem Steak.
Er sah nicht aus wie ein Mörder, eher wie der Financial VP eines großen Unternehmens, der gerade festgestellt hat, daß die letzte Bilanz das Rekordergebnis des Jahres davor nicht erreicht hat.
"Und was machen wir mit diesem Geld nach Ihrer Meinung, Tom?"
"Ja", und ich lächelte etwas müde, weil ich mich dem Ende meines Vortrags näherte, "das Missing Link. Ein Artikel im "Wallstreet Journal" hat mich darauf gebracht. Ein Bericht über die große Nachfrage nach US-Schatzbriefen. In den letzten vier Monaten sind bei der Federal Reserve Bank mehr Kaufaufträge für Schatzbriefe eingegangen als im gesamten vergangenen Jahr. Die Auftraggeber waren überwiegend kleinere und mittlere Geschäftsbanken aus Europa, Lateinamerika und Asien. Über die eigentlichen Auftraggeber ist nichts bekannt. Die Banken sprechen von einem breit gestreuten Anlegerspektrum. Meine Theorie über den Kreislauf des billigen Geldes, das in Allentown aus den Druckpressen kommt, ist folgende: Von Allentown nehmen die Blüten den Weg zu Kontaktleuten in der jeweiligen amerikanischen Botschaft, wahrscheinlich übernimmt sie der zuständige CIA-Resident, der vom Schatzministerium zur strikten Geheimhaltung verpflichtet wird, und deponiert sie auf Sonderkonten. Diese dienen dann dazu, von der Federal Reserve im großen Stil Schatzbriefe zu kaufen, die auf den eingerichteten Sonderkonten geparkt werden. Die Erlöse aus dem Kauf fließen in die US-Staatskasse und schaffen die dringend benötigte Liquidität."
Der Rest meines Schwertfischsteaks war über meinen Worten kalt geworden, und ich ließ ihn auf dem Teller liegen. Peter Oberhoff klatschte gedämpft und langsam in die Hände. Aber sein Gesicht klatschte nicht mit. Er sah mich kalt und mit einer gewissen Arroganz an. Und mit unvermittelter Schärfe sagte er: "Niemand wird Ihnen dieses Märchen abnehmen, Tom. Haben sie schon einen Käufer für Ihre Story?"
Lauernd blickte er zu mir hinüber. Ich schüttelte den Kopf.
"Sehen Sie, und ich nehme an, Sie haben versucht, einen Käufer zu finden."
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
"Sie werden sich fragen, ob ich noch ruhig schlafen kann, an welchem gut geschützten Ort ich mein Gewissen verstecke und ob ich etwas so Altmodisches wie Reue empfinde. Vielleicht auch nur Mitleid mit den Opfern."
Er sah mir in die Augen, und seine Augen waren leer.
"Es gibt Gold und Rubine im Überfluß, aber Lippen, die die Wahrheit sprechen, sind ein seltenes Juwel, so oder so ähnlich heißt es in den 'Sprüchen'. Warum soll ich Ihnen etwas vormachen? Nein, ich muß Sie enttäuschen, Tom, all das empfinde ich nicht."
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Und ich hatte das Gefühl, daß der Mann, der mir gegenübersaß, keine aufgesetzte Rolle spielte, daß er tatsächlich sagte, was er dachte und was er glaubte. Trotzdem konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, ihm mit einem Zitat zu antworten: "Nahrung, die durch Betrug auf den Tisch kommt, schmeckt süß, aber zurück bleibt ein Mund voll Erde; frei nach einem der 'Sprüche' Salomons." Peter Oberhoff zog seine Mundwinkel herablassend nach unten. Er schien auf jemanden gestoßen zu sein, dem die "stony facts of life" noch nicht geläufig waren, das beschränkte Vokabular der Starken, das nur zwei Worte kennt: Sieg und Niederlage.
"Wir befinden uns in der schwersten Depression nach dem schwarzen Freitag im Herbst Neunzehnhundertneunundzwanzig. Sie ist aufgrund der ungünstigeren Ausgangslage heute noch viel schlimmer als damals. Das internationale Finanzsystem steht vor dem Zusammenbruch. Und Sie haben recht, die US-Regierung ist Pleite. Wir haben mehr als zwanzig Jahre über unsere Verhältnisse gelebt, aus einem Gläubigerland ist ein Schuldnerland geworden, wenn auch die anderen großen Gläubigernationen, wie zum Beispiel Japan, das gleiche Schicksal getroffen hat. Die Zeiten, als die Welt noch in Ordnung war und der Reiche über den Armen herrschte und der Nehmer dem Geber untertan war, ebenfalls eine Anleihe bei den 'Sprüchen', sind vorbei. Doch diese Depression wird vorübergehen, die alten Zeiten werden wiederkommen." "Und bis es soweit ist," unterbrach ich ihn, "sind alle schmutzigen Tricks erlaubt, Mord inbegriffen."
Vielleicht hatte er die Verachtung in meiner Stimme erkannt, seine Gesichtszüge entgleisten für einen Moment, sein Oberkiefer senkte sich mit dem Geräusch eines Mahlsteins auf den Unterkiefer, und die dunklen Adern an seinen Schläfen sprangen hervor. Als er antwortete, war seine Stimme etwas lauter als vorher und hatte den Klang eines Skalpells. "Einige Aasgeier wurden liquidiert. Wir haben einige Würmer zertreten, die uns erpressen wollten. Schakale, Schmarotzer, Blutsauger, von denen diese Gesellschaft zu befreien eher als eine gute Tat bezeichnet zu werden verdient."
"Sicher," sagte ich, "unbedeutende Bauern in einem Schachspiel, dessen Regeln Sie bestimmen. Ich weiß, Sie kennen nur den großen Plan. Da kommt es natürlich auf den Tod einiger weniger nicht an. Und welches Schicksal haben Sie mir zugedacht? Ein kleiner Unfall, nicht über jeden Zweifel erhaben, aber letztendlich wird der Spruch des Coroners mangels Beweisen lauten: Tod durch Unfall, nicht wahr?"
Ein müdes Lächeln zog über sein Gesicht: "Selbst ein Narr gilt als weise, wenn er den Mund nicht auftut und als intelligent, wenn er seine Zunge im Zaum hält."
"Eine ehrlich Antwort ist wie ein Kuß auf die Lippen."
Peter Oberhoffs blasse Finger spielten mit seinem Weinglas.
"Wenn Sie noch lange auf diesem Planeten wandeln wollen, Tom, sollten Sie Ihr Wissen und die Spekulationen, die Sie damit verbinden, in eine Schublade Ihres Gehirns verbannen, die mit sieben Schlössern verschlossen ist."
Und nach kurzem Zögern setzte er hinzu: "Sonst könnte Ihnen tatsächlich etwas zustoßen."
Er sah auf seine Armbanduhr. Ich schwieg.
"Tom, es ist spät geworden, morgen liegt ein anstrengender Tag vor mir. Lassen Sie mir das bescheidene Vergnügen, die Kosten des heutigen Abends zu übernehmen."
Er winkte den Ober herbei. Als er die Rechnung brachte, öffnete Peter Oberhoff seine Brieftasche, aus den Augenwinkeln sah ich, daß sie mit Kreditkarten gespickt war. Aber er nahm drei Fünfzigdollarscheine heraus und legte sie neben die Rechnung auf den Teller. Wir verließen das Restaurant zusammen. Zu dem Regen hatte sich Nebel gesellt, der vom Wasser kam. Im Licht einer Bogenlampe sah ich undeutlich meinen Wagen, direkt daneben war der Wagen von Peter Oberhoff geparkt. Zwischen uns und dem Parkplatz lagen ungefähr fünfzig Meter, und rechts von uns war das Hafenbecken. Wir gingen schweigend nebeneinander. Ich wußte, daß auf diesen fünfzig Metern meine letzte Chance lag. Mein Puls schlug schneller. Ich ließ mich etwas hinter Peter Oberhoff zurückfallen und wechselte auf seine linke Seite. Als er seine kurzen Schritte beschleunigte, wartete ich nicht länger. Mit einem kurzen Anlauf rammte ich ihn von links in die Seite und drängte ihn über den Rand der Spundwand, hinter der das Hafenbecken wie ein großes schwarzes Loch klaffte. Der Stoß kam zu überraschend für ihn, er verlor das Gleichgewicht, und wie eine dieser Engelputten mit den seitwärts ausgestreckten Armen fiel er in das Hafenbecken. Mit wild rudernden Armbewegungen versuchte er, sich der Spundwand wieder zu nähern. Er schluckte Wasser, spuckte es prustend aus und schrie mit halb erstickter Stimme zu mir hinüber: "Sie sind verrückt, Tom. Sie sind ein gottverdammter Narr. Helfen Sie mir hier raus!" Mit einer Hand hatte er die Spundwand erreicht. Ich sah auf ihn hinunter. Ich dachte an die Toten, an Charles, und daß ich der nächste sein würde.
"Nicht einmal Ihre Mutter würde Ihnen helfen, wüßte sie über Sie, was ich über Sie weiß, Peter!" rief ich ihm zu. Ich registrierte, daß ich ihn zum ersten Mal bei seinem Vornamen genannt hatte - erst im Angesicht seines nahen Todes war ich dazu fähig gewesen. Jedes Mitleid in mir war tot. Ich hob meinen rechten Fuß und preßte den Schuh auf die Hand des Mannes, der in dem schmutzigen Hafenwasser um sein Leben kämpfte. Er schrie vor Schmerzen und ließ die Spundwand los. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren, aber es konnten erst wenige Minuten vergangen sein. Peter Oberhoff hatte den Kampf noch nicht aufgegeben. Wieder machte er einen Versuch, sich an der rettenden Spundwand hochzuziehen. Ich drehte den Schuh auf seiner linken Hand und schrie zu ihm hinunter: "Glauben Sie an die Hölle, Peter? Nein? Das sollten Sie aber, Sie werden sie bald kennenlernen!"
Seine linke Hand wurde schlaff und fiel ins Wasser. Aber noch hatten ihn seine Kräfte nicht verlassen. Er schwamm an der Spundwand entlang und versuchte einige Meter links von mir erneut, sich an den Holzbohlen hochzuziehen. Ich lief an die Stelle und schrie: "Das ist für Charles!" und drückte meinen linken Schuh gegen seine rechte Schulter, die aus dem Wasser ragte. Er brachte nur noch ein schwaches Röcheln hervor, als mein Schuh mit voller Wucht sein Schulterblatt traf. Er streckte noch einmal beide Arme hilflos aus dem Wasser, dann verschwand sein Körper unter der Wasseroberfläche, und für einige Sekunden markierte noch ein schwacher Wirbel die Stelle, an der das schwarz glänzende Brackwasser des Hafens ihn verschluckt hatte. Mein Brustkorb hob und senkte sich in kurzen Abständen, wie nach einer großen Anstrengung. Ich wischte mir die nassen Haare aus dem Gesicht und sah mich um. Ich war allein. Nachdem ich mehrmals tief durchgeatmet hatte, um mich zu beruhigen, ging ich zu meinem Wagen. Als ich den Zündschlüssel im Schloß umdrehte, sah ich Charles Gesicht vor mir und sagte zu ihm: "Ich habe getan, was getan werden mußte, Charles." Charles nickte: "Vielen Dank, alter Junge, ich bin zufrieden mit dir, sehr zufrieden."

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