© der Geschichte: Josef Bühler. Nicht unerlaubt
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Die Suche nach mir selbst

Ich war 29 Jahre alt, als ich meinte, mich selbst finden zu müssen. Ich gab meinen Job auf, verkaufte meinen Wagen, meine Stereoanlage und meine Plattensammlung und flog nach Thailand. Meine Wohnung war mir zu klein geworden, meine Freunde zu anständig, meine Freundinnen zu prüde, mein Gehalt zu klein und das Leben zu öde.
Ich wollte in Thailand die Lehren der östlichen Religionen in mich fliessen lassen. Da ich aber nur eines lausigen Englischen und keiner asiatischer Sprache mächtig war, gab ich die Sache auf. Für eine lange Zeit liess ich danach nur noch Alkohol in mich und Geld in Bordelle fliessen. Danach reiste ich nach Australien, weil man Australien schliesslich gesehen haben muss. Ich hatte lange fettige Haare und liess mich an viel besuchten Stränden braun brennen. Ein besoffener Eingeborener tätowierte mir heiliges Zeug auf den Oberarm und schenkte mir den Zahn eines Viehs, von dem ich vorher noch nie etwas gehört hatte. Ich war so herrlich frei und konnte tun und lassen was ich wollte. Ich liess eigentlich nichts und tat alles was Gott und die Welt verboten hatten. In einem Kaff auf Neuseeland hatte ich erstmals Sex mit einem Mann. Nicht dass ich es genossen hätte, aber es war eine coole Erfahrung. In Rio zog ich durch alle Hafenkneipen. In Argentinien lebte ich neun Monate bei einem Nazi. In Frisco spritzte ich zum ersten Mal Heroin, in New York warfen sie mich zum ersten Mal in den Knast.
Mit einem Seelenverkäufer unter lybischer Flagge, liess ich mich nach Kapstadt verschiffen. Dort arbeitet ich in einer Diamantenmiene irgendwo im Dschungel. Danach suchte ich mein Glück als Goldgräber im Kongo. An der Elfenbeinküste heuerte ich als Hilfskraft auf einem Frachtschiff an. Auf der Fahrt über den Atlantik sank die Kiste und wir ruderten in den Rettungsbooten um unser Leben. Wir strandeten an einer Insel, die auf keiner Karte eingezeichnet sein kann. Drei Tage später landete ein Hubschrauber und nahm die Seeleute auf.
Ich blieb.
Auf der Insel lebten siebenundsechzig Menschen. Es gab eine Kirche, ein Schulhaus, einen Laden und eine Dorfhalle. Sie nannten mich Fred, weil ich ihnen gesagt hatte, dies wäre mein Name. Sie gaben mir das Haus der alten Frau McBoon, die vor drei Monaten gestorben war. Die Zimmer waren möbliert, im Regal standen Bücher, sogar Toilettenpapier war noch da. Nach zwei Monaten luden sie mich zum ersten Mal in die Dorfhalle zur Versammlung ein. "And you, Fred, how can you help us?" Hatten sie Fred gesagt? Hatten sie mich gemeint? "Well..." begann ich in meinem erbärmlichen Englisch. Ich weiss heute nicht mehr, was ich gesagt habe, aber es klang wohl so, als hätte ich eine furchtbar wichtige Ausbildung und könnte aufgrund meiner fehlenden Englisch-Kenntnisse bloss nicht ausdrücken, was es denn war. Somit war die Sache vom Tisch. Dachte ich. Am nächsten Morgen klopfte der Inselverwalter von Queens Gnaden an meine Tür. Ich stand im Morgenmantel mit einer Tasse Kaffee in der Hand vor ihm - um 14.30 Uhr. Er blickte anscheinend erschrocken um sich und schob mich eilig ins Haus. Er wolle mit mir über die Versammlung sprechen. Und das taten wir dann auch...er sprach Deutsch; mit Berliner Akzent. Ob ich denn eine Ausbildung hätte? Ich konnte mich kaum mehr daran erinnern. "Ich habe in einer Fabrik gearbeitet..." "Und was haben sie hergestellt?" "Transistoren für Computeranlagen..." antwortete ich. "Haben sie besondere Fähigkeiten?" Ich begann nachzudenken. Natürlich hatte ich besondere Fähigkeiten. Ich konnte Nadeleinstiche so therapieren, dass man sie schon nach fünf Stunden nicht mehr erkennen konnte. Ich konnte in schier jeder Sprache der Welt "wieviel kostet eine Nacht" sagen. Ich kannte die geheimen Angriffspläne Nazi-Deutschlands auf Persien. Und ich wusste, wie tief man einen zerfetzten Sprenggehilfen im Dschungelboden vergraben musste, damit er in der Regenzeit nicht herausgespült wurde. "Nein", antwortet ich. Der Earl sah mich schweigend an und schien nachzudenken. Er rückte auf einmal näher zu mir, hüstelte leicht und fragte leise: "Sind sie gesund?" "Gesund, wie meinen Sie das?" "Naja, gesund, kräftig..." "Kräftig?" "Mein Gott; sind sie potent?" "Nein, Geld hab ich keines" "Ich spreche nicht von Geld. Sind sie zeugungsfähig?" "Was sollte ich bezeugen, ich hab doch nichts gesehen." "Wollen Sie sich über mich lächerlich machen?" Ich sah ihn fragend an. "Können sie Kinder machen?" fragte er entnervt. "Ich denke schon", antworte ich. Er kam mir noch näher und sprach noch leiser. "Wir haben hier nicht viel Besuch und unsere Mädchen sind oft schon die Cousinen oder Schwestern ihrer Männer oder die Frauen ihrer Väter." Ich begann zu verstehen.
Wir einigten uns darauf, dass in der nächsten Woche ein Mädchen zu mir kommen sollte.

Ich konnte mich nicht mehr an einen Tag erinnern, an dem ich über mein Leben nachgedacht hatte. Ich sass auf dem Hügel über dem Dorf und sah aufs Meer hinaus. Ich sass stundenlang da und sah den Wellen zu, wie sie sich auf die Felsen stürzten. Immer und immer wieder. In mir gab es keine Wellen mehr. Ich erinnerte mich nicht mehr an kleine Freuden, nicht mehr an das kleine Glück - das grosse hatte ich sowieso nirgends gefunden. Meine Gefühle mussten irgendwo auf der Welt verstreut sein: einige auf dem Laken von Bob, einige bei Alfred und seinen eisernen Kreuzen, einige an den Nadeln der Heroinspritzen, einige in den schäbigen Zimmern der Hafennutten von Rio, einige bei Moro und Niruk, die ich verscharrt hatte...
Ich hatte nicht mehr die Kraft, sie suchen zu gehen. Für mich waren sie verloren.

Sie brachten das Mädchen an einem Samstag zu mir. Sie war noch keine 18. Vater und Mutter bedankten sich bei mir und verabschiedeten sich. "Wir holen sie dann morgen wieder ab, wenn das ihnen recht ist." Der Vater drehte sich noch einmal um: "Wenn sie eventuell mehrmals... das würde die Chancen bestimmt erhöhen." Er zwinkerte mir lächelnd zu.
"Natürlich, wie Sie meinen."
Ich schloss die Tür. Das Mädchen stand noch immer so da, wie seine Eltern es hingestellt hatten. "Unbewegt, wie unberührt", fuhr es mir duch den Kopf. Ich schmunzelte.
Am nächsten Morgen holte man sie ab. Ich hatte Ihr noch Kaffee machen wollen, doch sie mochte nicht. Zwei Monate später wurde ich wieder zur Versammlung in die Dorfhalle eingeladen. Dort traf ich den Vater des Mädchens. Er schüttelte mir die eine Hand und drückte danach einen Sack geröstete Kaffeebohnen in die andere. "Ihre Blutung ist seit mehr als einem Monat überfällig. Es hat geklappt. Vielen Dank, Fred. Das hier ist für Ihre Bemühungen. Meine Frau und ich sind Ihnen wirklich sehr dankbar."
Am darauffolgenden Morgen brachte man ein Mädchen zu mir. Sie war schon etwas älter, vielleicht zwanzig. Man habe gehört, dass.., man wäre dankbar, wenn..., man würde sich erkenntlich zeigen.. "Vielen Dank, wir holen sie dann morgen ab."

Fünf Kilo Fleisch, drei Pfund Butter, zwei Paar Jeans, drei hässliche selbstgestrickte Pullover, zwei Kisten Havannas, vier Flaschen Selbstgebrannten, einen Sack Zucker und zwei Säcke Teigmischung bekam ich an der nächsten Versammlung. Ich hasse Butter.

Zwei Tage später, es war ein regnerischer Herbstabend, klopfte jemand an meine Tür. Draussen in der windigen Kälte standen ein Mann und zwei Frauen.
Sie wollten sie am nächsten Morgen abholen und dankten vielmals.

Sie war älter als all die anderen; eine junge Frau. Wir standen uns lange schweigend gegenüber.
"Sind Sie ein guter Mensch?"
Ich schwieg.
"Was bedeutet Ihr Schweigen, Mister Fred?"
"Mein Schweigen, Fräulein, mein Schweigen bedeutet, dass ich in meinem Leben keinen guten Menschen gesehen habe und deshalb weiss, dass auch ich keiner bin."
Sie schwieg.
"Wollen Sie ein Kind, Fräulein?"
"Ich möchte kein Kind von Ihnen."
"Dann lass uns schlafen gehen", sagte ich schmunzelnd.
Am nächsten Morgen schien die Sonne. Der Himmel war blau, wolkenlos. Ich hatte Melanie zu einem ‚Frühstück auf dem Hügel' eingeladen. Nachdem wir schweigend gegessen hatten, sassen wir nahe nebeneinander und sahen auf das Meer hinaus.
"Du bist ein guter Mensch", sagte sie.
"Ich habe AIDS", sagte ich.

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