© der Geschichte: Kai Bliesener. Nicht unerlaubt
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Schreie

Ihre Schreie zerschnitten die Stille im Haus wie eine Rasierklinge. Es waren Schreie des Entsetzens, Schreie der Panik und der Angst. Es waren die Schreie eines sterbenden Kindes.

Die Augen weit aufgerissen, die zarten kindlichen Wangen von Tränen getränkt, lag sie auf ihrem Bett. Panisch schlug sie mit Armen und Beinen nach dem Monster, das auf ihr saß, versuchte es zu verscheuchen. Doch es war stärker. Ihre Arme wurden gepackt und niedergedrückt, Gewichte legten sich schwer auf ihre Beine. Noch immer wollte sie sich wehren, aber sie konnte sich nicht mehr bewegen, war dem Monster hilflos ausgeliefert. Ihre Gegenwehr erstarb, wie sie selbst zu sterben schien. Ihre Schreie wichen einem Atemlosen Schluchzen und ihr Bett wurde von Stillen Tränen getränkt. Es war nicht das erste Mal, daß das Monster gekommen war. Seit Jahren wurde sie von ihm besucht und gepeinigt. Seit Jahren kämpfte sie um ihr junges Leben, doch mit jedem Besuch des Monsters starb ein Teil von ihr.

Mit niemandem konnte sie über das Monster Reden. Niemand schien ihr zu glauben. Einem dreizehnjährigen Mädchen. Hatten die nicht alle eine prächtige Phantasie? Taten Teenager nicht alles dafür, Aufmerksamkeit zu wecken?

Aufmerksamkeit, die wollte sie schon lange nicht mehr. Lange hatte sie Ruhe und Geborgenheit gesucht. Hilfe hatte sie gewollt, damit das Monster verschwand, doch sie fand nur Ungläubigkeit und Ablehnung. Sie zog sich zurück in sich selbst, ertrug das Leid und wurde dabei langsam Stück für Stück von dem Monster aufgefressen.

Von den Erwachsenen erhielt sie keine Hilfe, nur ein mildes Lächeln. Von der Mutter gab es Ohrfeigen und den Rat, sie solle ihre Phantasie in Zaum halten. Sie war halt nur ein kleines Mädchen. Niemand bemerkte wie ihre Kindheit zerbrach, gleich einer Glasscheibe, die von einem Stein durchschlagen wurde.

Ihre dünnen Arme schmerzten, die Beine waren gefühllos. Schwer hatte sich das Monster auf sie gelegt, wirkte im Dunkel des Zimmers wie ein Leichentuch. Sie war gefangen in ihren ganz persönlichen Sarg und der Deckel schloß sich mit jedem Besuch des Monsters ein paar Zentimeter mehr.

Die Menschen wollten nicht helfen. Sie waren böse, gemein und brutal. Trotz ihrer Kindheit sah sie in den Menschen das gefährlichste aller Lebewesen. Menschen Zerstörten, töteten und taten sich gegenseitig Gewalt an, sinnlose Gewalt. Sie wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Sie zog sich zurück von den Menschen. Bald war sie alleine. Mißverstanden, mißachtet und verstoßen. Ohne Freunde, ohne Hilfe. So war alles dunkel geworden, ihre Kleidung, ihre Musik, ihre Seele.

Warm und stinkend stieg ihr der Atem des Monsters in die Nase, doch sie konnte ihm nicht entrinnen. Feuchte Wärme, glitschig und schleimig legte sich auf ihre Haut. Sie schloß die Augen, hörte den dünnen Stoff ihres Nachthemdes reisen. Wenn sie sich nicht wehrte war es bald vorbei, doch ein Teil von ihr würde auch dieses mal sterben. Der Atem des Monsters ging rasselnd, wie die Ketten eines Gefangenen auf der Flucht. Ihr kleiner, schmächtiger Körper war verschwunden unter seinem mächtigen Körper, gerade so als hätte es sie bereits verschlungen. Das Monster bewegte sich ungelenk, gab seltsame Laute von sich, schnaubte und atmete heftig, um dann seine ganze Grausamkeit und Brutalität mit einem lauten Schrei nach außen zu lassen.

Dann, nur Sekunden später verschwand es aus dem Zimmer. Genauso lautlos, ohne Worte und Geräusche, wie jedesmal und lies sie zurück mit ihrem schmerzenden Leib, ihren Tränen und ihrem Ekel. Sie öffnete langsam und vorsichtig die geschwollenen Augen, rollte sich zusammen in die Haltung eines Embryos und lies ihren Tränen freien Lauf. Sie konnte die Augen nicht mehr schließen, denn das Monster war in ihrem Kopf, eingebrannt in die Windungen ihres jungen Gehirns. Wenn sie die Augen schloß, sah sie sein Gesicht - und davor hatte sie Angst. Wenn sie die Augen schloß, sah sie ihren Vater und konnte nicht verstehen wie er ihr so etwas antun konnte.

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