© der Geschichte: Manfred Korth. Nicht unerlaubt
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Der Schneck ist weg

Bis vor zwei Jahren unterrichtete ich an einem Gymnasium Biologie. Zugegeben, keine aufreibende Tätigkeit. Trotzdem sehnte ich den Ruhestand herbei.
Das Lehren an dieser elitären Schule war nicht vergleichbar mit dem Tohuwabohu auf einer Hauptschule. Mein jüngerer Bruder, ein Hauptschullehrer, kann noch heute ein Lied davon singen, wie sich die Schüler inzwischen aufführen. Nein, am Gymnasium galt stets ein einfaches Selektionsprinzip: Entweder das Kind funktioniert oder es wird mittels schlechter Noten aussortiert. Ähnlich dem Darwinismus setzte sich der Stärkere durch - und das war und ist die Lehrkraft. Unter dieser Prämisse konnte ich die dreißig Jahre meines Schuldienstes einigermaßen stressfrei abspulen. Der Silberstreifen auf dem alltäglichen Horizont hieß: Die nächsten Ferien kommen bestimmt. Hierin sah ich die Belohnung für all die Lasten, die einem die anderen aufbürden.
Meine Pensionierung genoss ich. Täglich marschierte ich mit Nietzsche, meinem Schäferhund, in aller Herrgottsfrühe zum Bahnhofskiosk und kaufte Zeitungen. Der Verkäufer, ein dunkelhäutiger Mann, runzelte jedesmal die Stirn, wenn meine Augen über das reichhaltige Angebot schweiften. Anscheinend wählten alle anderen Kunden ständig die gleiche Zeitung. Bei mir entdeckte der Mann jedoch nur eine Gesetzmäßigkeit: Ich kam zuverlässig.
Ich vermutete, der Verkäufer litt an einer Hundephobie, denn meinen Nietzsche wagte er nicht einmal anzusehen, geschweige denn anzusprechen. Ich konnte dies nachfühlen, denn bis vor zwei Jahren hätte ich mir auch nicht träumen lassen, einen Hund zu besitzen. Aber das Lehrerkollegium hatte mir zum Abschied diesen Welpen mit dem süffisanten Kommentar geschenkt: "Jetzt bist du Jenseits von Gut und Böse." Nur aus diesem Grund nannte ich den Hund Nietzsche; wenngleich es sich um eine Hündin handelte, was ich jedoch zu meiner Schande erst zu Hause bemerkte. Trotz leichtem Groll wollte ich auf keinen Fall den Namen ändern. Mir wäre auch kein anderer eingefallen.
Seit zwei Jahren verlief mein Leben strukturiert und in geordneten Bahnen. Keine Stundenpläne, keine Wandertage, kein Korrigieren und keine Vorbereitung mehr. Nein, endlich durfte ich meinen Rhythmus nach eigenem Gusto ordnen und leben. Ich stand frühzeitig auf, ging mit Nietzsche Gassi, nahm auf dem Rückweg die Zeitung mit und trank dann mit der auf dem Küchentisch ausgebreiteten Lektüre genüsslich Kaffee. Gegen Mittag schnappte ich mir wiederum die Leine und lief mit Nietzsche die Altmühl entlang. Wenn es das Wetter zuließ, verweilte ich auf dem Rückweg auf einer Parkbank und ließ meine Gedanken in diesem ruhigen Gewässer treiben. Ich wüsste keinen Ort auf der Welt, an dem ich besser abschalten oder philosophieren könnte. Ruhe und Regelmäßigkeit empfand ich als Grundlage jeglicher Zufriedenheit. Die Altmühl verstärkte und förderte bei mir diesen Zustand. Sie entpuppte sich im Lauf der Jahre als Ort der Sinnlichkeit.
In letzter Zeit störte mich jedoch ein etwa zehnjähriger Junge, der fast täglich mit Karacho über die Brücke brauste und mit seinem Fahrrad - ich glaube die Dinger heißen heute Mountain Bike - den Fußweg benutzte. Nicht die Tatsache, dass er einen Gehweg zweckentfremdete, führte bei mir zu Wallungen des Blutes, sondern seine Brutalität. Diese unbeschreibliche Grausamkeit. Zielgerichtet steuerte dieser Frechdachs die Schnecken an, um letztendlich quiekend zu frohlocken: "Der Schneck' ist weg."
Selbstverständlich verspürte ich große Lust, Nietzsche hinterher zu jagen und den Knaben zu stellen. Aber erstens hatte ich der Hündin von Anfang an unwiderruflich beigebracht, zu keiner anderen Personen hin zu gehen, was viel Geduld und die Technik der Konditionierung erforderte. Und zweitens hatte ich noch nie gerne mit Kindern diskutiert. In der Schule waren die Fronten klar und im Privatem vermied ich diese Giftzwerge. Wie oft musste ich meinem Bruder mit allen Mitteln der Überredungskunst erklären, er möge mich doch ohne seinen Anhang besuchen. Was einige Leute an den lieben Kleinen so nett finden, blieb mir in all den Jahren verborgen. Ich erlebte Kinder nur als Nervensägen, die ohne Rücksicht auf Verluste ihren Kopf durchsetzen wollten und schließlich bockten, falls ihnen das doch nicht gelang. Kleine Kinder waren und sind für mich ein Buch mit sieben Siegeln, welches ich niemals öffnen wollte.
Im letzten Monat begegnete mir dieser Schneckenkiller dreimal. Seine Augen funkelten, wenn er seinen breiten Vorderreifen über ein Tier rollen ließ. Er genoss es, die Schnecken über den Haufen zu fahren. Und das Knacken ihre Häuser schien Musik in seinen Ohren zu sein. Noch auf dem Nachhauseweg schnaufte ich schwer und in meinem Kopf purzelten folgende Worte: zerstückeln, zerteppern, zerquetschen, zertreten, zerstören, zerschlagen, zertrampeln. Ja, der Bösewicht regte mich maßlos auf.
Weiß dieser Junge überhaupt, dass es etwa 95.000 Arten gibt, die sowohl auf dem Land als auch im Wasser leben, dass viele Schnecken Zwitter sind und am Kopf 2 oder 4 Fühler haben, worauf ihre Augen sitzen? Oder war ihm das alles egal? Wieso konnte er diese armen Tiere mir nichts, dir nichts töten? Viele solcher Fragen schossen mir durch den Kopf. In Gedanken sah ich, wie ich ihm einen Stock in die Speichen des Rades schob und er folglich kopfüber auf den Gehweg flog.
Um seinem Treiben Einhalt zu gebieten, beschloss ich, ihn bei unserer nächsten Begegnung zur Rede zu stellen. Dies wiederum vermieste mir meinen Spaziergang, da ich mir ständig überlegte, was und wie ich es ihm sagen sollte. Schon morgens beim Gang zum Kiosk hemmte mich die Vorstellung, ich könnte ihn heute treffen. Ich ertappte mich sogar dabei, einen anderen Weg einzuschlagen, um dieser Unannehmlichkeit aus dem Weg zu gehen. Was würde ich tun, wenn er mich blöd angrinst und meint: "Opa, halt mal die Luft an." Sollte ich ihn beim Kragen packen? Sollte ich ihn ohrfeigen? - Kurz und gut: Ich fühlte mich als Pensionär ohne die Institution Schule ziemlich machtlos.
Dann passierte es. Er raste auf der anderen Uferseite auf die Brücke zu. Mein Herz pochte und ich entschied mich spontan, ihn diesmal doch nicht anzusprechen. Sollten sich doch seine Eltern um die Erziehung kümmern. Warum sollte ich mich echauffieren? - Ich fühlte mich dank meiner Entscheidung sogleich besser.
In diesem Augenblick verfing sich das Pedal im Brückengeländer, er verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Kopf auf das Eisen. Er stürzte mitsamt dem Fahrrad, an das er sich klammerte, kopfüber ins Wasser.
Nietzsche spitzte die Ohren und warf mir einen fragenden Blick zu. Dies alles ereignete sich in Windeseile. An der Stelle, wo er ins Wasser geplatscht war, bildeten sich Blasen und Kreise. Ich erhob mich von der Bank und starrte auf die Wellen unter der Brücke. Aber er tauchte nicht auf. Zuerst verharrte ich regungslos, dann klappte ich mein Buch zu, legte Nietzsche die Leine an und ging unverrichteter Dinge von dannen.
Zwei Tage später grinste das Bild eines vermissten Zehnjährigen aus allen Zeitungen. Mich hingegen beschäftigte die Frage, was wohl die Wasserschnecken zu dieser Jahreszeit in der Altmühl fressen würden.

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