© der Geschichte: Peter Schönau. Nicht unerlaubt
vervielfältigen oder anderswo veröffentlichen. Alle Rechte
dieses Werkes liegen bei dem Autor. Diesen Disclaimer bitte
nicht entfernen


Die Nonne mit dem Engelsgesicht

Die weichen Hügel um Oviedo begannen sich grün zu färben. Es war Sonntag, und Luisa Martinez de Concepción hatte in der Kathedrale die Messe besucht und war zur Beichte gegangen. Luisa war dreiundzwanzig und hatte ein Engelsgesicht. Vor zwei Jahren hatte sie ihr Gelöbnis als Nonne abgelegt.
Seitdem hatte sie dies mehr als hundertmal bereut, was sie jedoch wohlweislich für sich behielt. Schließlich konnte sie den Orden nicht so einfach verlassen wie man ein Kleid abstreift und ein neues anzieht. Der Grund für ihre Reue war allerdings sehr weltlicher Natur. Er hieß Pablo, war genauso alt wie sie und arbeitete als Kellner in einem Hotel. Sie hatte ihn vor einem Jahr zufällig kennengelernt, im Bus - er hatte ihr seinen Platz angeboten. Seitdem hatte sie sich Pablo zwar oft nackt vorgestellt, und sie fühlte jedesmal, wie diese Aussicht sie erregte, doch zu Intimitäten, die über einen schüchternen Kuß hinausgegangen wären, war es zwischen ihnen bis jetzt nie gekommen. Aber vor kurzem hatte Pablo ihr zu verstehen gegeben, daß der Blick in den Rosengarten über den Zaun ihm nicht mehr genügte. Und sie spürte immer stärker den Druck, sich entscheiden zu müssen. Zwischen Pablo und ihrem Gelöbnis. Sie hatte ihr Gehirn auf der Suche nach einem Ausweg zermartert. Pablo verlassen, sie wußte, daß sie dazu nicht stark genug war. Den Orden verlassen, der sich ihrer wie eine zweite Familie angenommen hatte? Sie würde sich hilflos und ausgestoßen vorkommen, wie ein Vogel, der noch nicht flügge ist und aus dem Nest fällt. Doch schließlich glaubte Luisa, eine Möglichkeit gefunden zu haben, Pablo nicht zu verlassen, ohne gleichzeitig ihr Gelöbnis zu brechen.
Seitdem hatte sie ihren Seelenfrieden wiedergefunden, auch wenn ihr Plan sie zu einer Todsünde zwang, um eine andere zu verhindern. Eine Überlegung, die sie geflissentlich in ihr tiefstes Unterbewußtsein verbannte. Es war ein sonniger Sonntagvormittag, und sie mußte noch einige Vorbereitungen treffen. Am Montag begann die Karwoche, und sie hatte sich mit einigen anderen Ordensschwestern einer Reisegruppe angeschlossen, die am Dienstag zu einer Busreise nach Rom aufbrechen wollte. Und wenn sie zurückkehrte, würde es keinen Pablo mehr geben. Sie hatte ihm für die Zeit ihrer Abwesenheit eine große Portion seines Lieblingsgerichts, ein grober Bohneneintopf "con las tripas", gekocht, den sie mit Digitalis angereichert hatte, das im Kloster nach alten Rezepten gewonnen wurde. Denn Luisa Martinez de Concepción hatte zwar ein Engelsgesicht, aber die Seele einer Mörderin.

zurück