© der Geschichte: Kai Bliesener. Nicht unerlaubt
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Ein neues Jahr

Wieder ist ein Jahr vorbei. Wieder war das Leben nur gelogen. Wieder bedeutete es nur Einsamkeit. Heute beginnt ein neues Jahr, eine neue Lüge. Happy new year!

Das ganze letzte Jahr hatte ich gehofft, du würdest kommen um mich zu retten, aber das Jahr ist vorbei und ich bin alleine mit mir selbst. Was war es doch für eine Zeitverschwendung, dieses letzte Jahr. Ich war gerade dabei gewesen, mir die Gedanken an dich und unsere erste Beziehung aus dem Kopf zu schlagen, wollte endlich wieder alleine klar kommen, hatte meine Sachen gepackt und war bereit für ein neues Leben in einer neuen Stadt. Doch dann, im Januar, warst du plötzlich wieder da, bist ohne Vorwarnung zurück in mein Leben gesprungen, hast gesagt du bekommst nicht genug von mir. Alles fing von Vorne an, die ganze Achterbahnfahrt der Gefühle von Himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt.
Doch jetzt ist alles wieder so weit weg, Lichtjahre entfernt, alles verschwommen, die Erinnerungen verblasst, wie die Sicht unterm Meer.
Der Raum dreht sich wie wild um meinen Kopf. Ich starre in das dunkle Loch, das du in meinem Leben hinterlassen hast. Scharf brennt der Gin in meinem Mund, verbrennt mich von innen. Es war der Alkohol, der mir geholfen hat, die Bahnen meines eindimensionalen Lebens für ein paar Stunden zu verlassen. Doch jetzt hänge ich hier im Nirgendwo, es ist finster und furchtbar kalt. So fängt es an, das neue Jahr.
Irgendwo kracht und donnert ein Feuerwerk, wie das Feuerwerk unserer vergangenen Liebe. Dein Bild klebt noch immer an der Wand, ist vom Rauch ganz braun, schmutzig, dreckig und doch schön. Schön wie meine Gedanken, die ständig um dich kreisen, wie die Monde um Planeten. Ich schaue es mir ständig an, sitze gedankenverloren an den Türrahmen gelehnt auf dem kalten Boden. Das Fenster ist geöffnet, um dem fetten Gesicht des Mondes mit seinem frechen Grinsen einen Blick in meine Seele zu gewähren. Blaues Licht durchflutet den unbeleuchteten Raum, bricht sich im Glas der Flasche, während ich sie an meinen Mund führe, um einen weiteren Schluck zu nehmen.
Ich wollte nichts weiter als der Einsamkeit entfliehen, die mich in ihre kalten Arme genommen hatte, doch jetzt ist alles nur noch schlimmer. Leben und Tod, Liebe und Hass, alles vermischt sich in meinen trüben Gedanken, die ich nicht mehr ordnen kann.
Es ist so leer in meinem Leben, seit du gegangen bist. Irgend etwas von mir ist mit dir kaputt gegangen. Du hast die Türe zwischen uns zugeschlagen, es gibt kein Entkommen, kein Zurück mehr. Längst sind Tage und Nächte untrennbar miteinander verschmolzen, die Erinnerung an unsere schöne Zeit nur noch blass, wie ein vergilbtes Foto in einer alten Zeitung.
Es kommen einem komische Ideen, wenn man zu lange alleine ist – und man ist alleine wenn man leidet, so viel ist sicher. All diese gesichtslosen Menschen, die sagen, dass es wirklich Grund zu leiden gibt, dass sie dich verstehen. Doch keiner will wirklich wissen warum du leidest. Jeder versucht nur, sein Leben so schnell und so gut wie möglich hinter sich zu bringen, jeder für sich und jeder alleine. Es ist eine seltsame, ja beinahe paradoxe Situation: Man ist unter Menschen, und trotzdem allein, keiner da, mit dem man reden kann. Man fragt sich, was man hier noch will auf dieser Welt, was das Leben überhaupt noch lebenswert macht, und sucht vergeblich nach einer Antwort. Doch es fehlt der Mut für die letzte Konsequenz, den letzten Schritt vor dem Abgrund zu machen. Also was machst du? Du betrinkst dich, kiffst dir vielleicht die Birne zu, läufst planlos durch die Stadt und wartest darauf, dass irgendwas passiert, ohne eigentlich zu wissen was überhaupt passieren soll. Alles nur, weil du nicht nach Hause willst, weil du Angst hast, die Decke könnte dir auf den Kopf fallen, sobald du die Wohnung betrittst. So willst du es nicht haben, das neue Jahr, so war das alte schon.
Ich wünschte du würdest mich verstehen, meine Gefühle teilen, bei mir sein. Die Welt würde ich dir zu Füßen legen, dir ein Paradies auf Erden bereiten, dich auf weichen Rosenblättern betten. Doch je länger du weg bist, desto mehr entferne ich mich vom Hier und Jetzt, kriecht diese bedrückende Dunkelheit durch meinen Körper, zerfrisst meine Seele, bis sie aussieht wie ein verrosteter Schlüsselbund.
Diese verdammte Stille in meinem Kopf, ich kann sie nicht mehr hören, will ihr entkommen, den Kampf gegen die Realität gewinnen und dich wieder in meinen Armen halten, dem neuen Jahr eine Chance geben. Doch ich habe das Gefühl, es fängt genau so beschissen an, wie das alte aufgehört hat.
Immer und immer wieder sehe ich vor mir das Bild: du und er. Wie du ihm am Hals hängst, seine Wärme spürst, ihn begehrst. Deine Blicke - voller Zuneigung für ihn. Eure Berührungen, eure Küsse. Ich habe euch gesehen, wollte ihn eigentlich sofort erwürgen, nur damit er nicht mehr zwischen uns steht. Aber ich konnte ihm nichts tun, obwohl er mein Leben zerschmetterte, wie ein Glas an der Wand. Er war mein Bruder, das Schwein.
Tausendmal schaue ich jeden Tag auf die Uhr, warte auf dich, ob du endlich zurück kommst zu mir. Es fehlt mir, wie du den Schlüssel in das Schloss steckst, wie du deine Tasche in die Ecke wirfst, dein Lächeln, so zart und weich, das Blau deiner Augen, so unergründlich wie die Tiefen der Meere, der Duft deiner braunen Haare, wenn sie weich auf dem Kissen ausgebreitet sind, das Gefühl deines Körpers neben meinem. Immer und immer wieder macht sich die Erkenntnis breit, dass das Leben nur gelogen ist. Nichts weiter als die große Seifenblase einer Illusion aus Glück und Freude. Das Leben bedeutet Einsamkeit und spuckt dir ins Gesicht, wann immer es kann.
Komm zurück zu mir, lass uns zur Abwechslung einmal das Leben anspucken und die Welt erobern. Du und ich, wir werden die besten sein, in einem neuen Jahr, in einem neuen Leben.

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