© der Geschichte: Jakob Anderhandt. Nicht unerlaubt
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Das Natalie-Fragment

Kurz nachdem im Frühling die ersten Knospen aufgesprungen sind, sollte man nach Wien in den Prater reisen und dort an einem lauen, stahlblauen Tag mit der Übung beginnen, sich gegen die Liebe zur Wehr zu setzen. - Aber, ich schweife ab.
Denn noch ist Igor Konstantinitsch, mein anderes Ich, nicht in Wien, sondern hat wie üblich seine Arbeit beim Messerwetzer Hermann Frinck in einer Großstadt zu verrichten. Wie üblich ist er nicht bei der Sache, und an diesem Tag kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Meister. "Fristlos entlassen!"
brüllt der Meister schließlich, und Igor stolpert auf die Straße, arbeitslos, mit Schulden bei der Sparkasse und einer Handvoll Kleingeld in der Hosentasche. Kann er jetzt nach Wien reisen?
Nun, einzusehen, daß eine Reise momentan über seine Verhältnisse geht, so vernünftig ist selbst Igor Konstantinitsch. Aber wir, Natalie und ich, wir wollten doch nach Wien?
Da ist es besser, ich verlasse Igor Konstantinitsch. Viel ist aus dem Leben dieses Irgendjemand sowieso nicht zu lernen.
Aber, ich schweife ab. In rund einer Viertelstunde wird Natalie anrufen, mir erzählen, daß ihr Tag furchtbar war und mich fragen, ob ich mit ihr zusammen ins Kino gehe.
"In was möchtest du?"
"Mir ist nicht gut, bloß nicht in was Anspruchsvolles."
"Amerikanisch, fünfziger?"
"Meinetwegen."
Also ein weiterer, vertaner Abend. Den ganzen Film werde ich hoffen, daß an einer entscheidenden Stelle der Projektor explodiert.
"Sie sind eine schöne, einsame Frau, Mrs. Laurent."
"Und Sie, Mr. Christwood, sind zwar impertinent, aber Sie sagen die Wahrheit. Das mag ich an Ihnen."
Ein Blitzen, ein Knall. Natürlich kurz bevor die beiden nach Wien gefahren sind. Doch davon wissen Natalie und ich nun nichts. Das Kino wird geräumt, wir bekommen unser Eintrittsgeld zurück.
"So ein Mist", sagt Natalie, "gerade hatte ich wieder gute Laune! Ob sie sich gekriegt haben, was meinst du?"
"Wie soll ich das wissen? Solche Filme sieht man höchstens einmal."
"Phantasie hast du wohl keine!"
Aber, ich schweife ab. Ich muß mir Gedanken über Natalies und meine Zukunft machen. Inzwischen sind es drei Monate...
In diesem Augenblick ruft sie an. Ihre Stimme klingt unsicher.
"... wie war dein Tag?" frage ich.
"Oh, gut.... Ich wollte für dich kochen, heute abend. Hast du Lust? Denn morgen kommt er ja wieder, aus Brasilien."
"Schön, daß du kochen möchtest. Aber was hat das mit ihm zu tun?"
"Erzähl ich dir später. Möchtest du kommen?"
"Ist in einer Stunde ok?"
"Ist ok. Bis in einer Stunde also."
Das war es. Morgen kommt er wieder. Wozu die Einladung? Natalie will ein klärendes Gespräch. Aber ich, ich gehe nicht hin. Sie hat genug bekommen, das Gespräch bekommt sie nicht. - Ich rufe bei ihr an.
"... sorry, wir lassen das mit dem Essen."
"Wieso? Was nicht in Ordnung?"
"Mir ist nicht besonders."
"Was ist?"
"Gut, ich komme doch - wie ausgemacht in einer Stunde."
"Warum hast du angerufen?"
"Vergiß es." Ich lege auf.
Fünf Minuten später ruft sie an.
"Natürlich, du brauchst nicht zu kommen, wenn du nicht willst. Aber darum, glaube ich, geht es nicht. Du hast Angst."
"Möglich. Und was willst du damit sagen?"
"Sei ehrlich! Du willst mehr, als ausgemacht ist!"
"Natalie - und wenn, ich werde das nicht am Telefon besprechen."
"Du hältst dich nicht an die Abmachung!"
"Jetzt hast du Angst!"
Pause.
"Ja, es ist besser, wenn du kommst und wir alles in Ruhe besprechen." - Igor Konstantinitsch, stelle ich mir vor, ist inzwischen in der Letzten Kneipe gelandet. Von seinem Kleingeld besitzt er nur noch eine Silbermünze. Weil die Toilette verstopft ist, stolpert er zum Pinkeln nach draußen und fällt auf der Treppe gegen einen Unbekannten.
"Ja, paß doch auf!" knurrt der und verzieht den Mund, als wüchsen ihm Eckzähne.
"Ui, ein Vampir", denkt Igor Konstantinitsch, stolpert weiter und läßt die Hosen herunter. - Inzwischen ist es zu spät, mir Gedanken über eine gemeinsame Zukunft zu machen. Ich werde mich betrinken. Und dich, Natalie, Blutsaugerin, miese, werde ich versetzen. Die Flasche Rotwein auf den Tisch!
... nach Ablauf von ein und einer halben Stunde klingelt es. Natalie steht vor der Türe. Es regnet. Sie klappt ihren Schirm zusammen.
"Ich wußte es! Ich wußte, daß du so bist. Kann ich reinkommen?"
"Klar. Allerdings, ich bin betrunken."
"Habe ich mir gedacht."
Sie stellt ihren Schirm in die Ecke.

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