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Der Mann, der aus der Zukunft kam

Dario war Bartender und Magier. Er verfügte über ein großes Repertoire an kleinen Tricks, die dafür taugten, die Gäste seiner Bar zu erheitern. Die komplizierteren Zaubereien bewahrte er für Veranstaltungen auf, für die man ihn engagierte und (was das Wichtigste war) wo man für seine Kunststücke bezahlte.
Dario suchte nach einem Flaschenöffner. Anscheinend fand er ihn nicht und gab die Suche auf.
Hilfesuchend sah er sich um. Endlich zuckte er mit den Achseln, und ein Grinsen verzog sein Gesicht mit den etwas fülligen Wangen.
"Dann muß es auch so gehen", sagte er.
Er zog den Hals der Bierflasche über die Außenseite des Ellbogens, und als die Flasche wieder auftauchte, war der Kronenkorken der sie verschlossen hatte, verschwunden.
Dario war groß gewachsen, hatte muskulöse Oberarme, aber lange, schlanke Finger.
Wenn er seine Kunststücke vorführte, hatten seine Bewegungen etwas Spielerisches, Zufälliges. Aber sie waren schnell, eine Bewegung verband sich mit der anderen übergangslos wie ein Zahnrad, das in ein anderes Zahnrad greift.
Dario war an diesem Abend in Hochform. Vielleicht animierten ihn die drei Schönen, die an der Bar saßen und Bier tranken.
Jedenfalls führte er sein ganzes Repertoire an Kartenspielertricks vor, den Trick mit den Bällen und den Trick mit den Handschnellen, aus denen es ihm immer wieder gelang, sich auf magische Art und Weise zu befreien. Aber schließlich war er ein Magier.
Mir fehlten geeignete Vergleichsmöglichkeiten, aber in meinen Augen war Dario ein Könner in der Erzeugung von Illusionen.
Wo Rauch war, war normalerweise auch Feuer. Bei Dario sah man das Feuer, das Ergebnis seiner Taschenspielerkunststücke, aber wie das Ergebnis zustande kam blieb ein Geheimnis.
Ich dachte an meine Schulzeit zurück.
Bei der Lösung einer Rechenaufgabe wurden Weg und Ergebnis bewertet. Ein Ergebnis, zu dem die Wegbeschreibung fehlte, roch von vornherein nach Betrug.
Jemand, der Illusionen erzeugte, lebte hingegen davon, daß die Zuschauer den Weg, auf dem er zu seinem Ergebnis (die Illusion) kam, nicht erkannten - unter keinen Umständen.
Erfolgreiche Politiker waren daher auch gute Illusionisten. Sie zauberten vor der Wahl Versprechungen aus dem Hut, an die sie sich hinterher nicht hielten.
"Warum sind Politiker gute Illusionisten, Dario?" fragte ich.
Dario überlegte nicht lange.
"Sie verkaufen den Leuten ein leeres Glas, und die Leute trinken daraus."

Durch die offene Tür drangen die Klänge eines Blues. Ich warf einen Blick durch die Scheibe. Die Bar war gut gefüllt. Ich erkannte Dario, der hinter dem Tresen stand und energisch einen Shaker hin- und herschüttelte. Ich sah auf die Uhr. Lucía hatte heute Nachtdienst. Bis morgen früh war ich mein eigener Herr. Ich betrat die Bar und zwängte mich auf einen Hocker zwischen einer hübschen Mulattin und einem Mann mittleren Alters, der aussah wie ein Banker aus der City. Dario begrüßte mich, und ich bestellte ein Bier. Ich musterte die Band, die ich nicht kannte. Aber es gab Hunderte solcher Bands, die mehr schlecht als recht über die Runden kamen. Die Sängerin trug ein blaues Kleid und hatte eine flache Stimme. Sie hörte sich an wie ein schlechtes Playback.
Aber ich fand, daß die anderen Mitglieder der Band ihre Sache nicht schlecht machten. Die Mulattin neben mir rückte näher, und ich neigte mich in die andere Richtung. Dario schnitt gleichzeitig eine Limone in Scheiben, preßte Orangen aus und führte der Mulattin einige Kartenkunststücke vor. Diese allerdings schien sich mehr auf mich zu konzentrieren. Ihr rechtes Bein scheuerte gegen mein linkes Knie. Ich trank mein Bier aus und legte einen Geldschein auf den Tresen. Dann überlegte ich, ob ich einen kleinen Beitrag für die Band entrichten sollte. Der Hut für Spenden lag auffordernd auf dem Tresen. Doch ich entschied mich dagegen. Die Sängerin im blauen Kleid hatte es nicht verdient. Ich tauschte einen Blick mit Dario, schob mich von dem Hocker, auf dem ich saß, und ging zur Tür. Dabei spürte ich den Blick des Schlagzeugers. Zögernd drehte ich mich um und warf einen Geldschein in den Hut auf dem Tresen.

"Dario, lies mir aus den Karten."
Dario konzentrierte sich auf den Shaker und goß langsam eine milchige Flüssigkeit in ein Glas.
"Das ist nicht nötig", erklärte er dann mit Bestimmtheit.
"Dir steht eine große Karriere bevor, du wirst viele Reisen machen und eine reiche Frau heiraten, die dir viele ungezogene Kinder gebären wird."
Ich lachte.
"Wie kannst du dir da so sicher sein?"
Dario stemmte beide Unterarme auf den Tresen.
"Das ist einfach. Ich habe dir vier Kriterien genannt, drei Hauptkriterien und ein aus ihnen folgendes Kriterium, die Kinder. Außerdem kenne ich dich. Deswegen fällt es mir leicht, dir eine große Karriere vorauszusagen. Mit einer solchen sind sicher auch Reisen verbunden. Der Punkt mit der reichen Frau ist dagegen weniger sicher. Aber selbst wenn die Vorhersage in diesem Punkt nicht eintreffen sollte, bleiben immer noch die anderen. Wenn sie eintreffen, wirst du über die falsche Prophezeiung in dem einen Punkt hinwegsehen und mit meiner Deutung deiner Zukunft trotzdem zufrieden sein."
Ich nickte.
"Nach dem Sprichwort: Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach."
Jetzt war es an Dario zu lachen.
"Ja, so oder so ähnlich. Aber seit einigen Wochen macht ein Wahrsager von sich reden, der von sich behauptet, seine Vorhersagen seien unfehlbar. Als Beweis führt er eine Liste von Referenzen an, die tatsächlich imponierend ist. Nachforschungen haben ergeben, daß er sich bisher wirklich noch kein einziges Mal geirrt hat."
"Und was sagt er voraus?" fragte ich neugierig.
Dario wurde ernst.
"Er hat sich spezialisiert. Er macht keine der üblichen Vorhersagen. Du weißt schon. Über Glück in der Liebe, Erfolg im Beruf und so weiter. Nein, der Tod ist sein Geschäft."
"Der Tod?" kam meine ungläubige Frage wie ein Echo zurück.
"Ja, er weiß dein Todesdatum. Er prophezeit dein Ableben. Das Jahr, den Monat und den Tag."
Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
"Ich erinnere mich, ich habe schon von ihm gehört."
Dario mixte einen Cuba Libre.
"Was ich mache, beruht auf Tricks. Es sind die mehr oder weniger originellen und gelungenen Kunststücke eines Taschenspielers. Aber dieser Mann ..."
"Und dieser Mann, was ist er?"
Dario zuckte die Achseln. Dann hob er abwehrend beide Arme.
"Ich weiß es nicht. Aber vielleicht kommt er aus der Zukunft."

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