© der Geschichte: Andrea Tillmanns. Nicht unerlaubt
vervielfältigen oder anderswo veröffentlichen. Alle Rechte
dieses Werkes liegen bei dem Autor. Diesen Disclaimer bitte
nicht entfernen


Lebens-zeit

Letzte Fragen gestellt und beantwortet. Viel gelernt heißt viel zu vergessen. Hektische Betriebsamkeit bei der folgenden Erklärung der unbekannten Anlage. Mit ihr erzeugte dünne Schichten sind für Augen nur platinfarben. Erst Röntgendiffraktometrie und Rastertunnelmikroskopie werden erkennen lassen, was nicht sichtbar ist. Die Präparation der Proben ist aufwendig. Dann werden Schalter betätigt. Ventile geöffnet. Endlich alles vorbereitet. Proben vorsichtig eingesetzt. Warten. Proben werden vorsichtig entnommen. Physikerherzen mögen höher schlagen. Proben werden in den Röntgenraum gebracht. Die erste Untersuchung programmiert. Computer nimmt Meßwerte auf. Betreueraugen glänzen. Bis zur erneuten Bereitschaft der Anlage Zeit für Mittagspause. Keine Lust auf überfüllte Mensa. Buch und Wasserflasche versprechen mehr. Vier Türen bis zur frischen Luft. Ein Atmen –
Hörst du die Vögel? Siehst du die Katze dort, wie sie dich anblickt, unschlüssig, ob du Gefahr bedeutest, um dann weiterzuschlendern, auf der Suche nach interessanteren Dingen oder Lebewesen? Die Umrandung eines Beetes bietet dir Platz zum Sitzen und mehr. Feste Grashalme haben sich ihren Weg in den Mörtel der gleichmäßigen Ritzen gebahnt, verhärtet vom beständigen Kampf, doch weicher als der Stein, der nicht einmal neiderfüllt zu ihnen aufzublicken vermag. Grün wie das Buch auf deinen Knien sind auch die Bäume, die dir ihren Schatten leihen, und ein wenig heller die Wiesen ringsumher, deren zarte Halme du nicht unter deinem Gewicht abknicken willst, und so bleibst du sitzen. Auch Schwarz und Weiß sind hier, wo sie papiergebundenen Sinn formen, keine Gegensätze. Nicht nur die Farben, wie rein zufällig hingesprenkelt, ergeben Harmonie. Die Geschichte, die du liest, ist nicht mehr die gleiche wie gestern und wird schon morgen wieder eine andere sein, und so wie an jedem Tag ist sie heute besonders. Ruhe ist die Summe aller Laute, die dich einhüllen, nur manchmal gestört durch Gruppen von Menschen, die die Katze ebensowenig bemerken wie dich, die du dich gerne von einer anderen Zeit, einem anderen Ort hast einfangen lassen. Auch ohne Federkonstanten kannst du die Anziehung der Blätter über dir erklären, bis nur du sie verstehst. Kein Experiment steht noch bevor, das die Schönheit der Sonne ergründen will, wie sie sich durch einen Teppich aus Laub ergießt. Leise liest du ein Gedicht, auf dem Rücken liegend, ungeachtet der Blätter und Steinchen, die du später sicherlich auf deinem Pullover finden wirst. Aus der Ferne hörst du Satzfetzen der Vorübergehenden, deren Gedanke und Worte sich stets mit Geräten befassen, die sie soeben verlassen haben, oder Formeln, zu denen sie zurückkehren. Ein anderes Leben, dort drinnen, nur für die, zu denen du nie gehören wirst. Und doch, nicht missen möchtest du in diesem Moment, was es für dich immer wieder schwerer machen wird als für andere. In jedem Hörsaal ist die Nähe deines Sitzplatzes zu einem Ausgang Notwendigkeit, um körperlich jederzeit fliehen zu können. Gedanken dagegen kann keine Tür aufhalten. Nur abschwächen, für einen Moment in den Hintergrund drängen vielleicht.
Vier Türen zurück zur Physik. Die im Freien noch rasch tief eingesogene Luft reicht nicht lange, mit ihr lösen sich auch Bilder auf, die mit jeder Erneuerung wieder unvergeßlich scheinen. Der Kopf muß frei sein für andere, unerwünschte und doch notwenige Gedanken. Das Vakuummeter zeigt einen ausreichend kleinen Wert an. Schalter werden betätigt, Ventile geöffnet. Handschuhe an. Proben in den Rezipienten. Lautes Zählen der Umdrehungen des Probentellers. Geräte werden ausgeschaltet. Proben entnommen. Das perfekte Tiefdunkellila des Kathodenglimmlichtes hast wohl nur du gesehen.

zurück