© der Geschichte: Clara Hase. Nicht unerlaubt
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Schmidt´s Katze

Es ist nur ein unbedeutendes Geschehnis gewesen, wie es jedes Geschöpf im Laufe seines Lebens überraschen kann, wenn es rechtzeitig erkannt worden wäre. Nicht ein Gedanke zuviel wäre noch verschwendet worden, wenn es nicht Teile davon hätte, ja Auswirkungen, deren wir, im nachhinein nur allzu lebhaft ausweichen wollten.
Wir könnten heute das Vorkommnis als eine Anmaßung des Menschen auslegen, auch als ein nicht ganz mit dem Herzen und dem Verstande bei der Sache sein. Könnten auch vermuten, das stete zu Fall bringen bestimmter Verhaltensweisen hätte den Boden zermürbt, wenn nicht ein weiterer, begleitender Blickpunkt zu dem Vorfall beigetragen hätte.
Dieser wird von unseren Beteiligten, aus der Erinnerung heraus geleugnet. Aber eben dies, was einzelne abtun, indem sie unbeeinflußbar, strebsam ihrem Tagewerk nachgehen und es hinnehmen, wie es der Kalender und ethisches Sinnen vorschreibt, führt gleichwohl bei einigen Menschen zu einem Befinden, das nicht immer einfach zu verstehen ist. Diese Perspektive, dieser Aspekt an etwas rührt, bohrt, drückt und zwickt, sie zu einer Einkehr führt, dessen höchste Steigerung einem Verlorensein gleicht. Ungewöhnlich und keineswegs häufig verkündet das Tageblatt davon in einigen wenigen Zeilen, mit dem Ausdruck von verlassenem Humor und des nicht begreifen-könnens.

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Die betroffenen Personen, ein sechzehn Jahre altes Mädchen und seine Mutter, lebten in diesen Tagen in einem soliden Backsteinhaus inmitten der Stadt.
Carlotta, immer ein lebhaftes Kind mit wachen, stahlblauen Augen, war bereits zu einem reizvollen jungen Mädchen herangewachsen, welches der Schule ebenda mit einem lachenden Auge und der scheinbaren Sorglosigkeit, aus den Kinderschuhe entschlüpft war. Allerorten als Frau Schmidt oder Sophie bekannt, war Carlottas Mutter eine einfache freundliche, etwas rundliche Frau, fleißig, lebhaft winkligen Geistes, allzeit bemüht, das Ansehen und den Ruf der Familie zu schützen oder gar zu verbessern.
Sie erinnerten nicht den graulenden Sturmwind, der die Blätter des roten Weins von ihrer Backsteinmauer vor Wochen in den Garten zwirbelte. Sie erinnerten auch nicht das stürmende Schlackerwettter, welches den Boden erweichte, das Naß, welches in den Wolken quoll und maulte. Nebelschwaden zogen, wie es so häufig geschieht, nachdem die Sonne kurzzeitig die gefrorene Erde erwärmte, grau und milchig dicht an den Wänden des roten Backsteinhauses entlang. Von dort, weiter durch die kahlen Äste der Obstbäume des umliegenden Gartens, drängten sie sich tief in die kahlen Stachelbeerbüsche. Nur die Lampe unter dem Vordach des Backsteinhauses zeugte von Dunkelheit und der Stärke des dunstigen Nebels, welcher das Haus umschlich.

Im Hause tickt die Uhr fast lautlos. Wer genau hinhört, kann noch das Brummen einer Heizung wahrnehmen und das kurze Miau einer Katze.
Carlotta ist auf Strümpfen, die Hand vor dem Gesicht ins Bad geschlichen. Sie raufelt sich mit den Fingern die dunklen zerzausten Haare, schaut forschend in den Spiegel. Zieht mit dem Kamm einen geraden Scheitel in das glänzende Haar, teilt es auf der Nasenspitze mit den Fingern und läßt das ovale Gesicht mit den weichen Rundungen hervorblicken.
Ungenutzt läßt Carlotta Wasser aus dem Hahn strömen, während sie mit den Fingern über Augen und Wangen streicht. Sie tränkt ein Tuch mit dem gekühlten Wasser, legt es auf die Augenlider. Wieder forscht sie im Spiegel, kontrolliert, ob noch Zeichen ihres Ausbruchs zu erkennen waren.
Der Anlaß ihres Tuns ist etwas, was Erwachsene einen Konflikt nennen würden. Ein kleiner Streit. Ein kleiner Unterschied, aber bedeutend aus ihrer Perspektive.
Sie hatte mit Mutter gestritten, und verloren. Nachdem Mutter ihren Wunsch ablehnte, hatte sie sich Türen schlagend in ihr Zimmer begeben und geweint. Sie fühlte sich nicht ernst genommen. Man hat sie behandelt, als könne sie nicht auf sich selbst aufpassen.

Carlotta spielt mit ihrem Spiegelbild. Schürzt die Lippen zu einer schnurrenden Katzenschnute. Wirft sich, die Augen drehend, herzerhebende Blicke zu, entspannt dann ihre Sprachmuskeln, zieht sie zu einer weichen gelockerten Linie. Nein. Sie ist erwachsen und will auch so behandelt werden! Carlotta reckt das Kinn, strafft die Stirn, hebt die sanfte Rundung ihres Brustkorbs hervor, stemmt die Hände in die Hüften, die keck auf einem geraden und einem gebeugten Bein im Wechsel hin - und herkippen.
Ich habe ein Recht altersgemäß behandelt zu werden. Einen Anspruch auf Freiheit. Ich bin klug genug, um bei Freunden übernachten zu können. Was ist denn schon dabei? Und überhaupt! Sollen die doch bei Marita mehr gucken, und nicht immer nur bei mir.
Marita ist zwei Jahre jünger und Carlottas Schwester. Sie ist ein dummes wurstiges Ding, welches dem Vater zum Gruße, auf dem Seil hüpfend, entgegenkommt.

Carlottas Gedanken kreisen um die Trümpfe der Schwester. Unaufhörlich. Carlotta schluchzt und das Greinen quillt wieder hervor. Im Hinblick auf ihr Alter, sucht sie irgend etwas was sie von Marita unterscheidet.
Carlotta spürt nur, daß es etwas sei, was sie sich aber nicht zu erklären vermag. Einer sicheren Intuition folgend, marschiert sie schnurstracks in das elterliche Schlafzimmer, reißt hastig an der kirschbraunen Schublade von Mutters Sekretär. Hier bewahrt Mutter ihre höchstpersönlichen Dinge auf. Carlotta pocht das Herz in den Ohren und Händen. Sie ist allein im nebeldunklen Haus. Noch nie hatte sie ohne Anwesenheit Mutters, in ihren persönlichen Dingen gestöbert.
In Zigarrenschachteln befinden sich angeschlagene Schmuckstücke, lose Knöpfe mit Glitzersteinen, ein paar Gummiringe und eine Weihnachtskarte vom letzten Jahr. "Frohe Weihnacht und einen guten Rutsch in das Neue Jahr wünscht Ihnen Pension Barsda". Die Karte, stellt sie fest, war in Oberammergau abgestempelt. Nachfolgend untersucht sie mit spitzen Fingern die sorgfältig mit Paketbändseln verschnürten Papierpäckchen. Es sind Briefe. Von Onkel Theo und Tante Anni.
Briefe von Fred und ein Stapel Briefe von Oma Lina.Wie die Seiten eines Buches, läßt sie die Päckchen durch ihre Finger gleiten. Halt! Was ist das? Der Atem ist ihr knapp.
Sie streicht die herabhängenden Haare hinter die Ohrmuschel. Noch einmal blättert sie den Stapel vergilbten Papiers von Fred durch. Die Brust ist ihr eng geworden.
Da entdeckt sie tatsächlich Mutters Handschrift! Sie kauert sich auf den kuscheligen Bettvorleger. Weniger rund, eckiger und krakeliger ist die Schrift als Carlotta es gewohnt ist. Sie fliegt mit den Augen darüber hinweg und liest mit vibrierenden Händen: Nach meinem Tode zu öffnen.

"Oh Gott! Nein!" wimmert sie verhalten. Sie schluckt. Mutters Tod? Nein, das wünschte sie bei aller Auflehnung nicht.Carlotta wirft den Brief von sich. Scheut sich, ihn näher in Augenschein zu nehmen. Sie schlägt rhythmisch mit ihren Händen auf die Knie ein.
Nein, das darf nicht sein! Das kann doch nicht sein. Davon hätte sie doch gewußt.
Sie wendet und dreht die Gedanken. Aus der Benommenheit steigt wieder das Unaussprechliche hervor. "Oder doch?", fragt sie sich. Enthält man ihr auch anderes vor?Im Dunkeln ihres Inneren bezweifelt Carlotta den bevorstehenden Tod der Mutter und findet doch zu ihrer abgründigen Gewißheit zurück. Sie kämpft mit den Tränen, fühlt sich angespannt, nahezu steif. Sie fragt sich, ob es in dieser Familie etwas gegeben hatte, wovon sie nichts weiß. Marita und alle anderen wissen?

Der Schrecken zieht weiter herauf. Im dumpfen Schein des Nachmittags schaut Carlotta am gewundenen Muster der hellblauen Tapete nach Anhaltspunkten. Ergreift den Brief, huscht mit verschwommenen Pupillen über die krakeligen Zeilen: Dies ist mein letzter Wille. Wenn ich aus dem Leben geschieden bin,…dann soll Marita meine Wassergläser aus Kristall erhalten. Das Service aus Meissen für zwölf Personen… Das Papier haftend an den Händen faltet sie es umständlich ins Kuvert. Gerade letzte Woche war ihr eine Tasse von dem Service aus den Händen gefallen. Die zweite schon, jetzt sind es nur noch sieben. Und nun? Nun erfährt sie, daß eben sie selbst dieses Service erben sollte.
Hastig legt sie alles an seinen Platz zurück, schließt die Lade, und verläßt mit hart aufsetzenden Fersen das elterliche Schlafzimmer.Sie trommelt mit ihren Händen ziellos an jede nächstgelegene Wand, überlegt welchen Gegenstand sie greifen könnte, um sich Luft zu verschaffen - um sich aus diesem Nebel und dem tobenden Rauschen in den Ohren zu befreien.

Dann stürzt sie mit lang ausholenden Schritten, den gescheitelten Kopf den Schultern voran, in die Küche. Reißt den Küchenschrank auf, ergreift einzeln, Tasse um Tasse, Teller für Teller heraus und wirft sie auf den Küchenboden. Es klirrt, scheppert, glitscht und rutscht mit hartem Knall oder zartem Klirren über die harten Steinfliesen. Begleitend zetert Carlotta mit unaussprechlichen Schimpfworten. Tausende Splitter von Meissner Porzellan liegen in verschiedenen Größen verstreut zwischen Tisch, Stuhl und Menschenbeinen. Die Katze war schon beim ersten harten Prall mit jaulendem Miau, als hätte sie den aufgebauschten Schwanz in der Türe geklemmt, davongesprungen.Plötzlich steht Mutter in der Küchentür, knipst das Küchenlicht an und ruft, das nebelnasse Kraushaar nach allen Seiten stehend: "Was ist das für ein Gepolter hier?" Carlotta bemerkte nicht, wie das Schloß der Haustür eingeschnappt war, hörte nicht das Kratschen des Porzellans unter der schwingenden Küchentür. Sie hält mit ihrem Lärmen inne, erschauert bei Mutters unergründlich tiefbraunen Augen.Mutter steht regungslos, die Einkaufstasche noch in der Hand. Sie verharrt in der Küchentür. Ihre Augen durchwandern den Küchenboden und den Schrank mit dem übrigen Porzellan. Voller Empörung schreit sie: " Carlotta. Bist du von Sinnen?"Carlotta beißt die Lippen aufeinander. Ihre Augen funkeln, sie entgegnet nichts, verschränkt krampfhaft die Arme fest um den schlanken Leib.Mutter beginnt zu lachen, stellt die Tasche ab, schüttelt sich und krümmt sich, daß der Busen, selbst auf dem dicken Mantel sichtbar, nur so in Bewegung gerät. Tränen lacht sie, biegt sich nach hinten und richtet ihren gestreckten Finger auf die bebende Carlotta. So lacht Mama immer, wenn irgend etwas prekär ist. Mama lacht und lacht.

Carlotta preßt ihre Hände gegen das Zwerchfell und schluckt schwer. Wieder rauscht es in ihrem Kopf. Sie stürzt auf Mutter zu, krallt die Finger in ihre Hand, streckt die Arme...
Mit steil ansteigender Stimme ruft Mutter "Nicht, Carlotta." Sie wehrt eine nur wenig widerstrebende Tochter ab und nimmt sie wie ein Bündel Wäsche fest in ihre Arme."Dummchen, schau nur, schau nur den armen Fußboden an, wie wollen wir das den anderen erklären?"Gleichermaßen bestürzt und verwundert erkundigt sie sich, "Warum? Warum das Service?"Carlotta schweigt. Die Tränen sammeln sich an ihrem schmalen Hals. Sie denkt nur noch an jenes geflügelte Wort der Familie "wieder eine Kerbe", welches bei den Schmidts fällt, wenn auch nur ein Kaffeelöffel vom gedeckten Tisch fällt."Warum Carlotta? Warum?" Erkundigt sich Mutter, ob denn die Auseinandersetzung zuvor, so arg gewesen sei und sie wunderte sich über das Verhältnis der Dinge zueinander.Carlotta mag gar nicht anhören, wie Mutter zu ihr spricht. Sie schließt die Augenlider. Unermüdlich perlen nun dicke Tropfen aus den Wimpern.

Mutter setzt ihre Überlegungen laut fort: "Weißt Du, Carlo", beginnt sie, "als ich beim Einkauf war, habe ich nachgedacht. Ich glaube, ich verstehe dich, verstehe, was Du ausdrücken wolltest." Und sie setzt fort, die Scherben des Porzellans aus Meissen betrachtend, als ihr ein Funke der Erinnerung mittendrin ihre zuvor überlegten Sätze entzwei reißt:"Hast du wohl im Sekretär gestöbert? Hast du Briefe gelesen Carlotta? Meinen Brief?"Carlotta stutzt.
Woher kann Mutter das wissen? Sie windet sich aus der feuchtwarmen Umklammerung der Mutter. Es gelingt ihr nicht vollends." Nach meinem Tode zu öffnen?" Mühevoll preßt Frau Schmidt gegen ihr erneutes Lachen an. Mit ausgeprägter Entschiedenheit spricht sie mit ihrer Tochter: "Ich hatte als Jugendliche so einige Wünsche, wobei meine Eltern nicht wußten, daß sie mit Fred in Zusammenhang standen." Mutter drückt Carlotta prüfend von sich fort, um in ihren Augen eine Regung anderer Art zu suchen. "Und immer, wenn ich ausgehen wollte, sprühte es Verbote. Mein unentbehrlicher Freund war Fred."Ihre Tochter schaut sie fragend an. "Dein Freund?""Ja, wir hatten uns sogar so sehr ineinander verschworen, daß wir beschlossen, wenn Fred oder mir etwas zustößt, solle der andere seine liebsten und wertvollsten Dinge bekommen, die er besaß." Während Mutter die Zusammenhänge schildert, sinkt eine Träne in Carlottas Haar. "Mit diesem Ansinnen hatte ich damals den Brief geschrieben", endete Mutter."Hätte Fred nicht überlebt, würde ich statt dich und Marita, heute seine beiden Hamster erziehen." Mutter, etwas matt, löst sich die Hände ineinanderschlagend von Carlotta und lacht haltlos aus sich heraus.Carlottas Gedanken schwebten immer noch ungläubig im Raum. Schultern und Kopf gesenkt, wispert sie: "Und Marita? Die Wassergläser? Kristall?""Marita?" Überlegt Mutter, während sie zum Besen greift, "Marita hieß meine beste Freundin. Die sollte doch…ja, Marita sollte meine Wassergläser bekommen." Sie hält mit dem Fegen inne und merkt an: "Aus Kristall. So töricht war ich zu denken, daß alle Gläser aus Kristall seien." Mutters Brustkorb erhebt sich schon wieder zu einem heftigen Beben und mit ihr gluckerte nun auch Carlotta vor Lachen.Im Garten und zwischen Ästen der Obstbäume hatte sich der Nebel von den kargen Stachelbeersträuchern erhoben. Statt dessen zieht ein rot gemaserter Abendhimmel still am Fenster des erleuchteten Backsteinhauses vorbei. Die trocken aufspringenden Haare von Mutters Mantel kitzeln Carlotta an der Nase.

Um die Waden von Carlotta und Mutter schmiegt sich erhobenen Schwanzes maunzend Schmidts schwarze Katze.

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