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Jullie

Ruhig lag das Meer vor ihm. Er schaute in die Ferne. In tiefen Zügen sog er den Salzgeruch ein. "Wieder zu Hause!" dachte er. In Gedanken strich er über das Meer wie über den Körper einer Frau. Er liebte es mit seinen Wellen, mit seinen Tiefen, mit all dem Leben, was es gab und nahm.

"Es ist wieder so weit!" sagte er laut zu sich selbst. "Na, altes Mädchen. Dann wollen wir uns wieder auf den Weg machen." Während er diese Worte laut und zärtlich sprach, strich er über den Namen des alten Segelschiffes, den Namen seiner verlorenen Liebe. Jullie. So hieß es. Und er war der Kapitän auf diesem Schiff, welches schon viele, viele Seemeilen draußen gewesen war, dort, in der Ferne. Immer wieder, wenn ihn das Fernweh trieb, sehnte er sich danach, die Holzplanken unter sich zu spüren, auf dem sanften Schaukeln des Wassers. Immer, wenn Streit und Unfriede aufkam zu Hause, floh er regelrecht hierher auf die alte Jullie. Streit gab es in der letzten Zeit sehr oft, dann war er für kurze Zeit, mal zwei Stunden, mal zwei Tage, auf See. Wenn das Wetter schlecht war und die See rauh, kehrte er dann widerwillig zurück zu seiner wesentlich älteren, aber sehr reichen Frau. Er hatte wegen ihr viel aufgegeben, seine Verlobung zu Jullie gelöst. Vor Gram hatte Jullie sich dem Meer übergeben und sich von der weiten See verschlucken lassen. Vielleicht lockte ihn das Meer, weil er sich ihr dann nahe fühlte und stets Zwiegespräch mit ihr hielt, lange und zärtlich. Eigentlich sprach er dann nur mit dem Wind, der heulend um das Boot strich. Aber es half ihm, er fühlte sich Jullie im Gespräch nahe. Niemals hätte er sie verlassen dürfen, um eine andere zu heiraten - heute war er sich dessen sicher, daß die wahre Liebe mehr Wert hatte als alles Geld dieser Welt. Aber die Gläubiger seiner Spielschulden waren harte Gegner gewesen, und jene alte, reiche Frau hatte sich nach ihm verzehrt und ihm aufdringliche Avancen gemacht. Aber erst, als ihm das Wasser sprichwörtlich bis zum Hals gestanden hatte, war er auf ihr Werben eingegangen. Einen Monat später wurde sie seine Braut, und am Tage der Hochzeit ging Jullie in den Tod.

Immer wieder flehte er um Vergebung, er schrie es in den Wind "Jullie! Vergib mir! Ich habe nicht aufgehört, dich zu lieben und werde es nie!", aber eine Antwort bekam er nie. Heute aber sollte es eine lange Reise werden. Vielleicht würde er niemals wiederkommen, zurück in die Arme seiner wohlbeleibten Frau, die alles duldete, nur keine Widerworte. Er stand am Ruder seines kleinen Segelschiffes. Irgendwann, so drängte sich ihm immer wieder ein Gedanke auf, wird sie mir Jullie wegnehmen. Sie hatte ihm nach jenem letzten Streit noch hinterhergeschrien. Kleinholz würde sie aus seinem Boot machen, werde er sich jetzt wieder einmal fortstehlen. Er war dennoch gegangen. Er kannte diese Frau. Sie machte keine leeren Versprechungen, sie pflegte stets auszuführen, wovon sie sprach. Er hingegen lebte gerne in den Tag hinein. Verantwortung zu übernehmen, war ihm zuwider und hier, auf seiner segelnden Jullie, übernahmen die Urgewalten die Führung. Ihnen lieferte er sich aus, ohne sich zu sorgen, hatten sie ihn doch noch nie im Stich gelassen. Unbeirrt konnte er den gewaltigen Mächten der Natur sein Leben überlassen.

Er stach in See. Der Himmel war klar und blau und die Sonne lenkte ihren Strahl mit voller Kraft auf einen unbestimmten fernen Ort, wohin genau, wußte er nicht - in das Irgendwo. Das Meer war ruhig und er lenkte sein Boot mit dem Wind, der die Segel weit ausblähte. Stolz und ruhig zog Jullie über die See.

Als er aufwachte, war es Nacht. Aufgewühlt und unruhig schlugen die Wellen gegen das Schiff. Schlafend hatte er nicht gemerkt, wie er immer näher in das Auge eines Sturms steuerte. Klein und zart hatten sich die Wolken bei seiner Abfahrt gezeigt, nun schienen sie mächtig und böse bis zum Wasser zu reichen. Was blieb ihm jetzt noch zu tun, überlegte er. Dann, einem hastigen Entschluß folgend, arretierte er das Ruder und holte die Segel ein. Doch vergeblich, für ihn hatte das Unwetter keinen Ausweg mehr. Er betete und versuchte zu lenken, aber das Wasser, das er auf seinen Fahrten liebgewonnen hatte, barst nun mühelos über die Reling der Jullie hinweg und der Wind spielte mit dem Boot wie mit den Hüten der Männer und Frauen.

"Das war gestern wieder ein Sturm!" Der alte Fischer führte wie üblich seine Selbstgespräche, als er auf das Meer schaute. "Vier Tage und Nächte! Mit der Macht eines Hurrikans!" Wenn sich so ein Wetter wieder beruhigt hatte, pflegte er den Strand nach Brauchbarem abzusuchen. Dankbar nahm er die Dinge entgegen, deren sich das Meer dann entledigt hatte. Eine Kiste Orangen, ein Faß Rum etwa waren ihm schon ein guter Fang gewesen. Heute aber konnte der Fischer nur Holzteile aufsammeln, die sich zwischen den sandigen Felsen verstreut hatten. Murrend füllte er seinen Sack mit den Brettern, und er nahm nicht wahr, daß von einem der Namenszug "Jullie" prangte.

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