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Janus' Schaukel

Er war einfach nur traurig. Anders konnte er seinen Zustand schon nicht mehr beschreiben. Wie oft schon hatte sie ihn nicht verstanden! Wie oft nicht zugehört! Jedes seiner Worte lief Gefahr, ihm von ihr im Munde umgedreht zu werden. Nie konnte er sich vor ihr rechtfertigen für das, was er ihrer Meinung nach getan hatte - machte er eine Äußerung, sah sie es sofort als Angriff, der es nötig machte, "zurückzuschlagen" - seelisch wie auch körperlich. Hilflos fühlte er sich, Tränen rannen ihm über das Gesicht. Es war wie ein immer wieder kehrender Reigen, ein Karussell, diese Mutter-Kind-Beziehung, auch jetzt, da er schon ein stattlicher junger Mann war, der von Mädchen nicht selten interessierte Blicke zu ernten pflegte. Wenn sie jedoch erfuhren, wer er war, daß er nicht ein attraktiver Unbekannter war, sondern auch schon - wie sie selbst - seit zwanzig Jahren in ihrer Stadt lebte, wandten sie sich üblicherweise ab. Das machte ihn noch trauriger.

Aber in erster Linie war es dieser Kampf, den mit aller Kraft führte - von klein auf: Der Krieg mit seiner Mutter. Viel zu früh - lange bevor er zu denken gelernt hatte - war sein Vater schon aus dem Leben geschieden. Er war bereit für diesen Krieg. Aber erst einmal sollten diese Tränen versiegen. Er hatte doch nur gesagt, daß er ein wenig hinausgehen wollte - aber Mutter hatte natürlich etwas dagegen. Sie fing mit ihren Vorwürfen an: daß er sie immer alleine lasse, daß sie es schließlich gewesen sei, die ihn nur unter Entbehrungen groß gezogen hätte. Schlecht fühlte er sich, als sie zu Ende gesprochen hatte und blieb - wie sie es wollte - im Haus. Da saß er nun, im Sessel gegenüber seiner Mutter. Sie nahm nicht die geringste Notiz von ihm, ein Verhalten, welches er bereits zur Genüge kannte. Es würde jetzt erst wieder einen Tag dauern, bis sie wieder das Wort an ihn wendete. Er starrte auf seine Mutter, die vor dem Kamin saß und stickte. Er könnte ein Buch lesen - sie würde es jedoch mißbilligen. Dann würde es heißen: Du ignorierst mich ja! Früher hatte sie ihn dafür geschlagen. Heute waren es die Vorwürfe, die dann auf ihn niederhagelten.

Als Zwanzigjähriger hatte er keine Freunde. Immer war nur seine Mutter um ihn gewesen, die ihn sorgfältig von allem und allen ferngehalten hatte. Kamen ihre Freundinnen zu Besuch, wurde er auf sein Zimmer geschickt: Er würde sie nur blamieren, antwortete sie ihm einmal. Er sei zu frech für die Damen. Daraufhin pflegte sie ihn oben einzuschließen.

In seinem Zimmer konnte er wenigstens einmal für sich sein. Allein mit seinen Träumen. Er war ein stattlicher junger Mann und schwang auf einer Schaukel. Tagein, tagaus kam er dem Himmel immer näher, berührte beinahe die Wolken. Auf dem Bett liegend, träumte er, vergaß, daß seine Mutter unten Bridge spielte. Als ihre Freundinnen gingen, kam sie dann hoch, schloß die Tür zu seinem Zimmer auf. "Komm", sagte sie und er folgte. Dann, auf dem Weg nach unten, pflegte sie über die "Damen" zu erzählen, wie schlecht sie spielten, wie ungeschickt sie zu betrügen versuchten, wie hochnäsig sie auf andere blickten. Und Janus, hörte ihr zu, trottete mit ihr ins Wohnzimmer, gab auf ihre rhetorischen Fragen die Antworten, die sie hören wollte. Wenn er das sagte, was er wirklich dachte, konnte er mit einer Ohrfeige rechnen - ob als Kind damals oder als heranwachsender Mann. Am einfachsten war es, ihr ihre eigene Meinung vorzubeten - versuchte er über sich zu erzählen, hieß es "Natürlich höre ich dir zu, Kind", bevor sie ihn mit etwas völlig anderem rüde unterbrach.

Damals - als Vater noch gelebt hatte, war alles anders gewesen. Zumindest in Janus´ Träumen. An die Wirklichkeit dieser vergangenen Zeit konnte er sich tatsächlich nicht mehr erinnern. Waren es Wünsche seiner Phantasie, die er immer wieder von der Vergangenheit zeichnete? Erinnerte er seine Mutter daran, daß sein Vater ihn doch immer gerne mitgenommen hatte, als er mit dem kleinen Boot ausfuhr, erwiderte sie kategorisch: "Du warst eine Belastung für Vater. Ich habe Entbehrungen durchgestanden und tue es noch, damit es Dir heute wohlergeht!"

Alles hatte sie ihm bisher zerstört. Das Mädchen, mit dem er sich geschrieben hatte, als er fünfzehn war. Sie mußte die Briefe an die Köchin richten, die diese ihm dann weitergab. Als Mutter es mitbekam, kündigte sie die Köchin, las die Briefe, spottete, "Du und Liebe! Das ist kein Spiel! Das ist eine Aufgabe, eine Pflicht für mich geworden! Und niemand anderer kann dir das geben!". Dann verbrannte sie die Briefe vor seinen Augen im Kamin.

Heute, als Zwanzigjähriger, hatte er Angst, auch nur irgend etwas alleine zu tun. Er wußte nicht viel von der Welt, nicht viel von den Menschen. Nach "Draußen" - so nannte er es - ging er nicht ohne seine Mutter, unbeholfen, unsicher. In seinen Träumen jedoch war er ein stattlicher junger Mann, der das Leben zu meistern wußte.

Es war wieder einer dieser endlosen Tage, an denen ihm alles andere verboten war, als er seiner Mutter wie immer gegenübersitzen mußte. Ihr zusehen mußte, wie sie stickte. Ihre Lippen waren verkniffen, geordnete Locken krönten ihren Kopf, trotz ihres fortgeschrittenen Alters war ihr rotes Haar noch voller Lebendigkeit. Ihre Augen wirkten groß und blickten streng und waren auf ihn gerichtet. Irgendwann ging er ins Bett, wie immer, zu früher Stunde. Dann war er erlöst davon, bei ihr zu sitzen und ihr bei ihrer stumpfen Tätigkeit zuzusehen. Im Bett flüchtete er sich in seinen Traum, in ein anderes Leben. Er saß auf seiner Schaukel und schwang sich so hoch er konnte. "Janus!", war es ihm, als ob ihn jemand riefe, "Janus, komm, noch höher!". Unsicher, ob er seinen Ohren trauen konnte, überlief ihn dennoch ein Angstschauer. Und dann jagte er die Schaukel in die Höhe, wie er es noch nie getan hatte. Plötzlich saß er still. Er war auf einer Wolke gelandet. "Janus! Hier! Ich habe auf dich gewartet!" Eine zarte und feine Stimme klang direkt in seiner Nähe. "Wo bist du?" drehte er sich erschrocken um. "Hinter dir!" Ein wunderschönes Mädchen sah ihn lächelnd an. Ihr langes, goldenes Haar reichte bis zur Ferse, ihre Haut schimmerte silbern und ihre Augen waren voller Liebe und Freude. Ihre Blicke trafen sich. Janus hatte keine Angst mehr, er spürte Liebe und innige Zuneigung zu diesem Mädchen und war verloren. "Janus, möchtest du bei mir bleiben?" fragte sie sanft. "Jede Nacht sehe ich dich, immer, wenn du schaukelst, sitze ich hier! Auf dieser Wolke habe ich mich in dich verliebt und ich weiß von deinem Leben." Wie ein Geschenk wirkten diese Worte. "Du wünschst dir doch immer, daß du diesen Traum nicht mehr verlassen mußt. Und jetzt möchte ich einfach daß du bei mir bleibst." - "Schönes Mädchen", sagte Janus kaum hörbar. "Ich fühle mich als ob ich im Himmel wäre und du ein Engel bist." Sie umarmten sich innig und lange, als wollten sie für immer verschlungen bleiben. Nach einer Weile fand Janus seine Stimme wieder. "Einmal muß ich noch nach unten. Etwas ist noch unerledigt." Traurig blickte sie zu ihm auf. "Wenn du das tust, werde ich dich niemals wiedersehen", sagte sie dann schwer. "Natürlich sehen wir uns wieder! Sehr bald! Und dann bleibe ich für immer", beschwichtigte er. "Geh nicht! - Bleib bitte", flehte sie weinend. "Bei dir fühle ich, wie ich nie vorher fühlte", antwortete er. "Und deshalb möchte - nein, muß ich dir etwas sehr Wertvolles schenken, ein Symbol für die Wärme meiner Seele. Das werde ich noch von unten holen." In ihren dunklen Augen glaubte er, sich verlieren zu können. Sein Körper vibrierte bei jedem Laut ihrer Stimme, die jetzt jedoch warnend klang: "Ich verstehe dich. Doch wenn du unten bist - bitte - mach nichts anderes. Läßt du dich aufhalten oder vergißt du diesen Traum, kann ich nichts mehr für dich tun!" - "Ich verspreche es." sagte Janus, der sich dem ernsten Unterton ihrer Worte nicht so recht im Klaren war. Selbstverständlich sollte es nur ein kleiner Augenblick sein, der letzte, den er "unten" verbringen würde. Hier "oben" war seine Liebe, hier oben konnte er leben. Zum ersten Mal getrieben von Zuversicht, Sehnsucht und unbeschreiblicher Zuneigung, wußte er, daß er das Richtige tun würde. "Dann geh´", sagte sie und ihr dunkler Blick flehte, er möge sich anders entscheiden. Sie reichte ihm die Schaukel, er saß auf und - ohne daß er auch nur einen leisen Luftzug gespürt hätte - fand er sich plötzlich in seinem Bett, in seinem Zimmer wieder. Wie benommen lag er sekundenlang da. Langsam fiel es ihm wieder ein, die Schaukel, die Wolke, das Mädchen, ihre Augen - und - die Schublade! Hastig stand er auf, kniete nieder und zog lautlos die unterste Schublade der alten, schwarzen Kommode auf. Alte Bücher, Kleidung. Endlich sah er den Briefumschlag, darin er den Ring versteckt hatte. Als er noch Kind war, hatte Vater ihm dieses Geschenk gemacht, ihn zur Seite genommen und gesagt: "Diesen Ring habe ich von meiner Mutter, also deiner Oma geerbt. Wenn du irgendwann einmal ein Mädchen hast, das du ehrlich liebst, gib ihn ihr und sie ist für immer dein."

Glücklich, verliebt und erschöpft schlief Janus ein, das Kleinod seiner Gefühle fest in seiner Hand. Nichts eiligeres sehnte er herbei, als sich zu der Schaukel zu träumen. Schon schwang er, schon sah er ihr Haar hoch oben auf der Wolke schimmern, schon spürte er ihre Nähe - "Aufstehen! Faulpelz! Langschläfer!" Die rauhe, harte Stimme seiner Mutter drang zerstörend durch die kostbaren Dimensionen jener anderen Welt. Wie immer sonntags, war sie in sein Zimmer eingedrungen, um ihn der gemeinsamen Christenpflicht, des Kirchgangs zu erinnern. "Muß ich die Pünktlichkeit noch in dich hineinprügeln?" Die Wolke über ihm wurde durchsichtig, das Mädchen verschwand. Schwerer Regen näßte sein Gesicht, die Schaukel war mit einem Mal nicht mehr. "Warum heulst du! Zieh´ an, was ich dir hingelegt habe. Du sollst ja nach etwas aussehen!" Er versuchte, in Tränen seine Augen zu öffnen. "Was hast du denn da?" Seine Mutter war beinahe aus dem Raum, da war ihr noch seine zur Faust geballte Hand aufgefallen, die er soeben unter der Decke hervorzog. Sie schritt auf das Bett zu, griff zu und bog seine Finger auseinander. "Dieb du! Seit Monaten habe ich diesen Ring gesucht und du hattest ihn mir gestohlen! Er war noch von Vater! Und du hast ihn mir weggenommen! So etwas undankbares! Und ich opfere mich Tag für Tag für dich auf, während du mich bestiehlst!" Er hatte sich hilflos die Decke über den Kopf gezogen, hörte ihre Worte kaum, spürte ihre Schläge kaum. Wie wahnsinnig, wie im Rausch trümmerte sie immer wieder auf seinen Körper, der unter der Decke von jämmerlichem Schluchzen geschüttelt wurde, bis er sich nicht mehr rührte, nie mehr rühren würde.

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