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Rapunzel

Ich heiße Herbert. Und liebe Rapunzel. Ja, genau die! - Jene, deren Haare ständig als Aufzug mißbraucht werden. Ich mißachte sogar, daß ...zig andere im Haar des Weibes herumwühlen, das Gegenstand meiner Anbetung ist. Schließlich hat's schon so mancher gewagt, zu Rapunzel hochzuklettern. Doch ist jeder in die Tiefe gestürzt. Abgeschüttelt von Rapunzel, die beim Anblick der schweißnassen, vor Anstrengung verzerrten Fratzen ihrer Verehrer bisher stets beschloß, alleine zu bleiben.

Aber mir fiebert sie entgegen. Das hat Gründe. Nur ich kann ihr geben, wonach sie lechzt.
"Rapunzel, Rapunzel, laß mir dein Haar herunter", schreie ich deshalb hinauf in luftige Höhen. Dann pfeife ich unser besonderes Signal. Heute reagiert sie besonders schnell.
"Oh-oh-oh. Ich hab schon so sehr darauf gewartet!" Ihre an sich schmerzliche Stimme tönt diesmal besonders schrill: "Schick mir eine doppelte Portion herauf, Herbert. - Bitte!"
Rapunzels Kopfschmerzen müssen arg sein.
Schon neigt sich die Prinzessin aus dem Turmfenster. Doch noch habe ich keine Zeit, den Anblick zu genießen. Erst muß ich Tabletten aus einem Beutelchen kramen.
Ich höre ein Fffft. Dann ein Plumpsen. Zum Glück hat mich verfehlt, was da aus dem Fenster platschte. Liegt jetzt zu meinen Füßen. Gibt sich auf, zerfließt. Kein Wunder bei der Hitze. Eisbeutel halten nichts von Sonnenschein.

Auch ich zerfließe - bei mir ist's wegen meiner Begehrlichkeit, Rapunzel zu erobern. Denn diesmal habe ich vor, ihr nicht nur die Schmerztabletten ins Haar zu flechten - oh nein, ich werde ihren Zopf benützen, um sie endlich, endlich in ihrem Turmzimmerchen zu besuchen.

Schon wiegt sich ihr Oberkörper in Tanzbewegungen der Sheherezaden. Das anmutige Rollen der Schultern, die zierlichen, zugleich kräftigen Drehungen der Oberarme machen mich ganz knieweich. Sie löst Spange um Spange ihrer Kämme. Lockert die Flechten des turbanartigen Ungetümes, das auf ihrem Haupt thront. Diese Bewegungen, dieses Heben wohlgeformter Arme. Und - oh - dieser Busen! Halbkugeln im Ungleichgewicht. Unwillkürlich krümmen sich meine Finger, umfassen visionär Wohlgeformtes.

Endlich!

Rapunzels Zopf schwingt sich als schwergewichtige Luftschlange zu mir in die Tiefe.
Aus einem mir unbegreiflichen Reflex heraus, wahrscheinlich dem Instinkt des Mannes, der von einem Reptil angefallen wird, hechte ich zur Seite. Stürze zu Boden.
Plötzlich gibt die Erde unter mir nach. Von heftigem Knacken begleitet, plumpse ich in ein Erdloch. Faulendes Holz rieselt von zersplitternden Bohlen.
Ich sehe ober mir ein Stück blassen Himmel, also lebe ich noch.
Etwas Goldfarbenes baumelt vor meinen Augen. Es kitzelt mich. Rapunzels Zopf! Ärgerlich schiebe ich ihn beiseite. Ächzend steige ich einige Steinplatten hoch, welche mir als Treppe den Weg nach oben weisen. Als Treppe!

Da kommen Scharen von Prinzen angereist, sogar einige verheiratete Könige. Sie schmachten Rapunzel an - und verschmachten am Fuß des Turmes, den sie bewohnt.
Und ich, Herbert, der ich so klug bin, Rapunzels Eisbeutel-Reste für die Beule an meinem Knie zu verwenden, ich, der ich nur ein Scharlatan bin, ein arbeitsloser Prinz, der Wunderpillen gegen Kopfschmerzen verkaufen muß, um zu überleben, ich weiß, was zu tun ist:
Ich werde eine Treppe bauen - hinauf zu Rapunzels Kemenate.
Inzwischen formuliere ich an meinem Minne-Antrag.

Den sag ich aber erst auf, sobald ich weiß, wie sie aus der Nähe aussieht.

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