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Eine halbe Stunde Musik

In diesem Kellerklub. Tanzfläche ein Holzbretterboden. Bunte Spot-Lichter zerschießen die Dunkelheit eines verrauchten, schweißigen Raumes voller Menschen, die hier sind, um zu flirten, zu gefallen, zu werben, zu entspannen, ihren Körper zu spüren und anderen nah zu sein, die Instinkte zu erleben und den Denkbeton abzuschütteln.

Ich tanze, gebe mich dem zweckfreien Ritus hin, der Musik, den Schwingungen der Gemeinschaft, überantworte mich den Lockungen der Sinne, schwimme in Gefühlsfluten, und vergesse mich dabei.

Es ist einer der Orte, die man nicht etwa aufsucht, um erwartungsvoll Wünschen nachzuhängen, deren Erfüllung man dem Zufall aufgibt, nein. Aber niemand möchte eine Chance ausschließen, abweisen wie einen Staubsaugervertreter: Zack! Tür zu.

Hier unten gibt es keine Türen. Die Wände und Decken sind mit urwüchsigen Steinplatten verkleidet, was den Eindruck eines engen vorgeschichtlichen Megalithgrabes im Stonehenge-Stil herstellt, mit mehreren Kammern aus aufgetürmten Blöcken. Hinter einem dieser enttäuschend flachen Brocken strömt aus einer verborgenen Düse kühle Luft.

Da stehe ich und tanze unecht, weil mehr aus Pflichtgefühl als aus Leidenschaft. Von außerhalb an diesen privilegierten Platz zu gelangen hat mindestens eine halbe Stunde gedauert. Am Rand des Tanzrechtecks sind Scheinwerfer in die Dielen eingelassen und bilden hinderliche Unebenheiten wie tellergroße strahlende Nagelköpfe. Jenseits dieser Grenze tanzte es sich noch unangenehmer, denn der Steinboden war hart und es zog einen ins Licht, zur Mitte.

Dennoch wich man dorthin aus bei besonders ergreifenden Songs, zu denen man nicht nur stehen, sondern um jeden Preis auch tanzen wollte, um das erwachte Verlangen zu stillen, um sich seiner Ergriffenheit hinzugeben, die auch im Mitgerissenwerden durch andere bestehen konnte und sogar in dem pubertären Zwang, eine persönliche Haltung herauszustellen. Die allgemeinste ist: das Bestreben, im aktuellen Musikgeschehen ersichtlich auf der absoluten Höhe der Zeit zu stehen und daher sogmächtige Lieder, die die meisten anderen noch nie gehört haben, an den ersten Takten sogleich zu erkennen und bei oft gehörten sitzen zu bleiben, um insgesamt einen exklusiven Geschmack merken zu lassen und sich zu unterscheiden von all denen, die zu Liedgut auf die Bühne gingen, das bereits mehrere Sonnabende in Folge gespielt wurde. Aber das waren nicht so viele.

In jener Nacht fehlte mir zu solchen Betrachtungen der Abstand und die Kälte. Die Boxen schmetterten: Freedom! Und ich sah dieses Mädchen und nur sie. Es waren eine ganze Menge Mädchen da. Alle jung, schön, kein Zweifel. Doch waren sie eben bloß ›Menge‹ für mich, ohne Unterschied - bis auf die eine, besondere.

Ich - sie angetanzt, na klar. Drauf zu und dran geblieben, bis sie es merkte. Und wie sie es merkte! Der Blick: Forschend, unnahbar. Sie war schön. Ich nannte sie Nofretete. Die hübsche Nase, leicht aufwärtsstrebend. Ein leichtes Schmollen, das für hohe Ansprüche, umflog die Lippen, immer wenn ich sie von vorn sah. So blieb es eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde, die bleibt. Bei 1979 fühlte ich mich um Jahre verjüngt. Das ganze Leben lag noch vor mir. Sie sagte schließlich zu ihrer Freundin: Bin gleich wieder da. Ich will eine rauchen. Und ging weg.

Ich tanzte weiter, tanzte irgendwie. Es kam: Tainted Love. Mein Kopf war ein überfüllter Bahnhof, in dem die Züge nicht halten. Mein Denken hätte sich fast auf die Schienen geworfen. - Da war sie wieder, zwei Minuten später, mit Zigarette.

Und sie wendet sich mehrmals diesem Typen zu?? Schlaghose, T-Shirt, groß. Halblange Locken, liebes Gesicht, platte Nase. Wo kommt der plötzlich her?

Er sieht nicht aus wie ein Weiberheld. Nur nett. Ich kann ihm nichtmal böse sein. Sie hält seine Hand, vertraut, sorgsam wie mit einer liebgewonnen Kostbarkeit, ein Seidenschal vielleicht oder ein anderes Kleidungsstück.

Warum tanzt sie auch so ausdrucksvoll! Eine halbe Stunde haben wir quasi miteinander getanzt. Freedom, 1979, How deep is your love, The funk is so rubber, Tainted Love, I will survive.

Eine halbe Stunde Hoffen. Eine halbe Stunde, die bleibt.

Sie. Das Haar in ein dünnes Tuch gewickelt, ein paar Strähnen sehen lassend. Jeans und Rock drüber. Schwarzes Spaghettiträger-Hemd. Das kleine Muttermal auf dem Rücken.

Er ist kein Tänzer. Unbeholfen schwankt er von einem Bein aufs andere. Dagegen ich: eine Kobra auf heißen Kohlen, ganz als ginge es um mein Leben oder doch zumindest um meine Jugend. Ein Schulter- und Hüftakrobat! Hier einen Schrank wegdrücken, da einen Vorhang zu mir ziehen, dort einen Hula-Ring kreisen lassen, dann aus der geschlossenen Faust einen Blumenstrauß hervorzaubern. Und all diese Kunststücke immer wieder anders. Neues ausprobiert und variiert.

How deep is your love, 1979, Tainted Love, I will survive, Freedom, The funk is so rubber. Sechs Lieder, eine halbe Stunde. Mich angestrengt, aus mir herausgegangen - ich hab es genossen ... das Glück vor Augen. Und das bleibt. Das muss sie mir lassen. Wir haben miteinander getanzt.

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