© der Geschichte: Stefan T. Pinternagel. Nicht unerlaubt
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E-Block

"Kommen Sie, wir ziehen um. In den E-Block", sagte die Schwester und nahm Johanna am Oberarm und schob sie mit einer Hand halb vor, halb neben sich her; so, als würde man ein Fahrrad am Lenker packen und schieben. Mit der anderen Hand zog sie Johannas rollbares Nachttischchen hinter sich her. Die Schwester schien es eilig zu haben.
Ganz im Gegensatz zu Johanna. Sie wollte nicht mitgehen. Nicht jetzt und auch nicht morgen oder übermorgen - und schon gleich gar nicht in den E-Block! Aber sie ließ sich führen, völlig willenlos, wie ein Fahrrad; ja, wie ein Fahrrad. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit, wie sie Rad gefahren war, nur ein paar Mal, dann hatte es der Vater wieder verkauft. Sie hatten nicht viel Geld in jener Zeit und Essen war wichtiger. Johanna konnte ebenso gut in die Schule laufen. Trotzdem eine schöne Zeit! So voller kleiner Freuden und Energie. Eine andere Zeit. Jetzt hatte Johanna nicht einmal mehr die Energie, der Schwester zu widersprechen, ein Veto einzulegen. Wahrscheinlich hatten sie ihr heute Morgen etwas ins Essen gemischt oder eine ihrer Tabletten ausgetauscht. Sie fühlte sich, als hätte man sie mit einer grauen lauwarmen Seifenlauge ausgespült und nur noch ihre Hülle übrig gelassen. Sie fühlte sich - irgendwie unwirklich.

"Jetzt stellen Sie sich nicht so an", sagte die Pflegeschwester ohne sie anzusehen. "Das geht doch auch schneller."
Der Griff um Johannas Oberarm wurde fester und die alte Frau befürchtete fast, die Schwester würde ihre Hülle durchbrechen, sie wie eine leere Nuss aufknacken.
Wir ziehen um! Wenn das Johanna schon hörte! Als wenn die Schwester auch mit umziehen würde in den verdammten E-Block! Dorthin kamen doch nur die, denen man nicht mehr viel Zeit gab. Todestrakt nannte ihn das Personal hinter vorgehaltener Hand; die Heimbewohner auch.

Ein paar Türen weiter vorne kam Angelika aus ihrem Zimmer. Sie hatte ein leeres Wasserglas dabei und Johanna fragte sich, was sie wohl damit vorhätte.
"Hallo Johanna" sagte Angelika. "Was macht ihr denn?"
Eine leichte Spur Angst in der Stimme, ein Spur Vorahnung. Angelika wollte nicht wirklich hören, warum Johanna mit der Schwester im Flur war, noch dazu mit dem quietschenden Nachttischchen im Schlepptau. Sie fragte nur, weil es sonst nichts zu tun gab und es unhöflich gewesen wäre, ihr ohne Gruß nachzusehen. Johanna wusste das, gab aber trotzdem eine Antwort.
"Die stecken mich in den E-Block."
Sie versuchte zu bremsen, ließ sich zurückfallen bis die Schwester zum Stehen kam, unfähig das Tischchen und die Alte hinter sich her zuziehen. Sie seufzte extralaut und warf Johanna und Angelika einen gereizten Blick zu. Dann ließ sie Johanna los und zog den das Nachttischchen weiter den Flur entlang.
"Ich komme sie gleich holen", sagte sie. Es war eine Androhung.

"Mein Gott", sagte Angelika. "In den E-Block? Jetzt schon? Aber du bist doch noch rüstig und auch geistig vital." Sie konnte die Entscheidung der Heimleitung nicht verstehen.
"Ja. Ich weiß auch nicht was los ist", gab Johanna zurück. "Vielleicht brauchen sie das Zimmer für jemand anderen, jemand, der mehr zahlt." Sie starrte an Angelika vorbei an die hellgrün gestrichenen Wände des Ganges. Welche Farbe wohl die Wände im E-Block haben würden? "Was ist mit deinem Glas los?"
Angelika sah sich das Glas in ihrer Hand an, antwortete aber nicht.
"Ich wünsche dir weiterhin alles Gute", sagte sie stattdessen.

Dann standen sie da, keiner wusste etwas zu sagen. Johanna hätte gerne noch ein wenig getratscht, aber sie fühlte sich so teilnahmslos, als säße sie in einem wohligweichen Sessel und vor ihr lief ein Film ab. Ein recht langweiliger Film, nichts mit großen Emotionen und auch nichts Geschichtsträchtiges. Ein Film ohne wirkliche Höhepunkte, ohne wirkliches Leben. In Angelikas Augen sah sie dieselben Szenen ablaufen. Sie waren wie Schafe auf einer Weide. Er weidet mich auf einer grünen Aue. Und jetzt waren sie tausendmal geschoren worden und alt und nutzlos und wurden eine nach der anderen in den E-Block gebracht, wo man erleichtert aufatmen würde, wenn sie endlich tot war und niemandem mehr zur Last fiel. Mir wird an nichts mangeln.

Vielleicht wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen um das Leben zu ändern, wenigstens zum Schluss hin. Vielleicht sollte sie Reißaus nehmen, solange die Schwester noch nicht zurückgekommen war. Vielleicht. Johanna und Angelika standen auf dem Flur und starrten und schwiegen. Dann kam die Schwester mit forschem Schritt zurück und nahm Johanna wieder am Arm, exakt an derselben Stelle wie vorhin, als hätte sie dort Fingerkuhlen, wie etwa an einem Messer- oder Pistolengriff. Die Schwester zog Johanna von Angelika weg. Johanna drehte sich noch einmal um, sah zu Angelika, sah auf das Wasserglas in ihrer Hand. Es hatte einen Sprung.

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