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Der Sprung

Seit Stunden saß ich auf dem grauen kalten Felsvorsprung und meine Augen blickten starr und leblos in die Ferne, entlang am Horizont, wo sich Himmel und Erde begegneten. Sitzen ist eigentlich der falsche Ausdruck. Ich hatte die nackten Beine untergeschlagen und kniete, den Oberkörper aufgerichtet und die Arme ausgebreitet wie ein Vogel. Die Haut an den Beinen war von rauhen Felsen aufgerissen und Blut quoll hervor. Ich war nackt und meine Kleider lagen als kleiner unbedeutender schwarzer Haufen neben mir. Unbedeutend wie ich, wie mein leben, ohne Sinn und Zweck. Mein Mund war weit geöffnet, als würde ich den ganzen Schmerz den ich in mir trug herausschreien. Doch es war ein lautloser Schrei, dessen kraft mir dennoch die Tränen aus den Augen trieb, um sie in Sturzbächen über mein Gesicht rinnen zu lassen. Der rote Feuerball der Sonne war längst vom Himmel gefallen, hinab ins Nichts, in das ich ihm folgen wollte. Dunkelheit hatte sich wie ein Leichentuch unaufhaltsam über die Welt gelegt, als wolle es das ganze Morden, den Schrecken, die Gewalt und Grausamkeit, all die Lügen und leeren Versprechungen die ich gegeben hatte unter sich begraben. Der Wind flüsterte sanfte Worte in meine Ohren; Worte der Geborgenheit, Grüße aus dem großen unbekannten das mich erwartete.

Unter mir mehrere hunderte Meter freier Fall. Nichts würde mich stoppen auf meiner Reise in die Unendlichkeit. Nur noch Sekunden, in denen mein Leben im Zeitraffer an mir vorbei zieht, ehe die ewige Dunkelheit Einzug halten würde. Stunden des Glücks und der Trauer, Stunden voll Kummer und Schmerz, vor Lachen und Freude, alles würde ich ein letztes mal sehen und empfinden, ehe das neue Leben beginnen würde. Nur wenige Zentimeter trennten mich vor der absoluten, endgültigen Stille, von der Dunkelheit, unter der alles Leid begraben würde, in der Welt, in die ich eintauchen wollte um neu zu beginnen. Das Elend der Tage auf dieser Welt voll Grausamkeit, Hass und Lügen wollte ich hinter mir lassen auf der Suche nach Ruhe und Frieden.

Ein kalter Wind umspielte meinen Körper und zerzauste meine Haare, zerrte an meiner Haut und begann mich zu piesacken wie Tausende kleiner Nadelstiche, gerade so, als wolle er mich auffordern ihm endlich zu folgen. Mit einem Mal begann ich zu frieren, spürte wie die Geborgenheit der Kälte wich und ich setzte die Flasche Wodka an meine Lippen. Die Flüssigkeit brannte meine Speiseröhre hinunter, aber nur Sekunden später eine breitete sich eine wohlige Wärme in meinem Körper aus. Ich war soweit, ich wollte fliegen.

Noch ein letzter Schluck, dann warf ich die Flasche voraus ins Nichts, in das ich ihr in wenigen Augenblicken folgen wollte. "Is there anybody out there" fragte ich mich in der stille. Jene bekannte Frage aus Pink Floyds kongenialen Stück Rockgeschichte "The Wall". Bald würde ich es wissen.

Wie von selber bewegten sich meine Beine auf den Abgrund zu, getrieben von einer Macht die ich nicht kannte. Der Felsen war kalt an meine Fußsohlen, doch mit einem mal war da kein Fels mehr, nur noch grenzenlose Freiheit. Der Wind zerrte nicht mehr an mir, er riss an meiner nackten Haut und ich flog. Flog wie ein Vogel durch die Luft, einer neuen Zukunft entgegen.

Da waren sie, meine Eltern, die mich nicht verstanden, eigentlich nie verstehen wollten. Sie grinsten als sie mich so hilflos und trotzdem frei in der Luft hängen sahen. Frei sein. Freiheit war alles was ich gewollt hatte in meinem Leben, doch es hatte bis zu diesem letzten Augenblick gedauert bis ich erfahren hatte was Freiheit wirklich war. Mein Bruder Tom, Carmen, meine Freundin, sogar meine toten Großeltern, alle waren gekommen um meinen Abgang zu sehen, doch sie schienen nicht traurig zu sein. Sie freuten sich mit mir oder über mich, lachten und waren fröhlich zusammen und plötzlich zerriss mich der Schmerz der Tatsache, dass ich für die kein Verlust war. Er explodierte mitten in meinem Kopf, in meinem Herz, in meinem Bauch und zerplatze in tausend Stücke, die aus meinem Körper nach außen wollten und dann wurde es still. Der Wind hörte auf an meiner Haut zu reißen, auch meine Gäste waren bereits gegangen. Ich war alleine und sah mich auf den feuchten, schwarzen Klippen liegen. Die Wellen des Ozeans brachen über mich herein, nahmen mich mit und trugen mich fort. Ich ritt auf den Wellen, ehe ich abtauchte in die Dunkelheit, aus der ich mich nie wieder erheben würde.


Kai Bliesener - 23. September 2000

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