© der Geschichte: Ewgenij Sokolovski. Nicht unerlaubt
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Ein braver Junge

Dietrich war schon immer ein braver Junge. Alle Nachbarn haben das früher seiner Mutter gesagt und sie gleichzeitig beneidet. Während ihre eigenen Söhne und Töchter kaum von der Straße zu holen waren, saß Dietrich brav zu Hause und spielte mit verschiedenem Spielzeug, das seine Mutter liebevoll für ihn ausgewählt hatte. Während die anderen Kinder öfters getadelt und sogar bestraft wurden, konnte sich niemand daran erinnern, dass der Dietrich auch nur ein einziges Mal einen Grund für so etwas gegeben hätte. Vielleicht kam es aber auch davon, dass man ihn sowieso nur sehr selten auf der Straße sehen konnte. Und auch in diesen seltenen Fällen führte Dietrich seine Mutter an der Hand. Früher haben ihn die anderen Kinder zu sich gerufen, ihn eingeladen mit ihnen zu spielen, etwas zusammen zu unternehmen. Nachdem Dietrich jedoch etliche Male diese Einladungen abgelehnt hat (Er hat natürlich schon beim ersten Mal die Mutter konsultiert, sie antwortete aber mit einem eindeutigen und festen "Nein". Sie wolle nicht, dass ihr "Schatzi" mit diesen verrückten und ungezogenen Kindern spielt.) haben sie ihn allmählich vergessen. Das heißt jetzt nicht, dass sie sich seiner Existenz nicht mehr im Klaren wären. Das schon. Nur er ist für sie zu einer Art Gegenstand mutiert, ein Gegenstand, der eigentlich durchaus im alltäglichen Leben präsent ist, um den man jedoch nicht mehr nachdenkt und sich auch nicht mehr interessiert. Der ist halt nun da, so etwas wie ein Stück Möbel oder ein Teppich auf dem Boden. Obwohl ein Stück Möbel oder ein Teppich rein theoretisch auch gar bewundernswert sein könnten, beeindruckend durch ihre Schönheit und ihr hohes Alter. In unserem Fall würde das alles jedoch nicht zutreffen. Dietrich wurde zu seinem Unglück ein ganz gewöhnliches Stück Möbel.

Die Zeit verging. Und irgendwann mussten dann alle Kinder zur Schule. Und der brave Dietrich musste mit. Mit tiefem Schmerz begleitete die Mutter ihn das erste Mal zur Schule. Die Zeit kam, dass sie ab jetzt auf ihren lieben und so häuslichen Schatz für einen ganzen halben Tag verzichten musste und er in die Hände von nicht gerade vertrauensvollsten Menschen auf dieser Welt geriet. Umso mehr musste der Sohn jetzt zu Hause erzogen werden.

Jedes Mal nach der Schule erzählte Dietrich seiner Mutter alles, was im Laufe des Tages passiert ist. Alles bis ins kleinste Detail, denn schließlich musste sie ja alles wissen, um ihrem Sohn Ratschläge zu geben und mögliche Gefahren frühzeitig abzuwenden. Gott sei dank, gab es da nicht sehr viel zu erzählen. Der Unterrichtsstoff interessierte die Mutter wenig und außerhalb des Unterrichts geschah nicht besonders viel. Ihr Dietrich tat es richtig und spielte nicht mit seinen Klassenkameraden, die ihm sowieso nichts Gutes hätten beibringen können. Er zog es vor, irgendwo in der Ecke zu stehen und ein Buch zu lesen, das sie ihm am frühen Morgen vorsorglich in die Tasche gepackt hatte. Die Lektüren wurden natürlich auch sorgfältig ausgewählt.

Nichts durfte in die Tasche kommen, was Dietrich verderben würde. Also keine Astrid Lindgren Bücher mit ihrem Karlsson, der nur alles kaputtmachen konnte und nichts reparieren. Nein, so etwas kam nicht rein. Aber die Kinderbibel kam rein, denn ihr Sohn sollte ein anständiger und gottesfürchtiger Mensch werden. Erzählungen über junge Wissenschaftler kamen rein, denn ihr Sohn sollte mal genauso schlau und gelehrt wie sie werden. Und die Werke von deutschen Klassikern des 19.Jahrhunderts kamen rein, denn sie sollten Dietrich vernünftige Manieren und Sprache beibringen. Ab und zu tauchte auch ein Märchen oder eine lustige Kindererzählung in der Tasche auf, das war jedoch eher eine Ausnahme. Und auch in diesem Fall musste der Lesestoff moralisch und erzieherisch zu tolerieren sein.

Trotz Erwartens seiner Mutter waren die Schulnoten von Dietrich nicht wirklich gut. OK, sie waren auch nicht wirklich schlecht, wie bei manch anderen Kindern, jedoch wurde der Junge sehr selten von seinen Lehrern gelobt. Wenn die Mutter zu den halbjährlichen Elternsprechstunden kam, dann kriegte sie so Einiges über die anderen Kinder mit. Der eine hat Fensterscheiben eingeschlagen, der andere hat "blöde Späße" mit den Lehrern gemacht und der Dritte war überhaupt kaum zu dulden. Auch die begabten und fleißigen Schüler wurden nicht umgangen und ihre Eltern für gute Erziehung und fabelhafte Leistungen gelobt. Dietrichs' Mutter bekam nichts dergleichen zu hören. Ihr Gespräch mit den Lehrern dauerte normalerweise nicht länger als 5 Minuten. Es gab ja nicht viel zu besprechen. Der Dietrich hat sich immer gut benommen, seine Noten waren zwar nicht besonders toll, doch haben die Lehrer schon längst erkannt, dass daran wohl nichts mehr zu ändern ist. Ansonsten sagten sie immer, dass ihr Sohn etwas still ist und keine Freunde hat. Diese Tatsache hat jedoch die Mutter gar nicht gestört. "Lieber gar keine Freunde, als SOLCHE", dachte sie wenn die Klassenkameraden von Dietrich an ihr vorbeikamen. Nach einigen Jahren entschloss sie sich überhaupt, nicht mehr zu den Elternsprechstunden zu kommen. Hat schließlich sowieso nichts Nützliches gebracht. Immer dieselbe alte Leier.

Nach der Grundschule wurde Dietrich aufs Gymnasium geschickt. Seine Lehrer haben eigentlich einstimmig davon abgeraten, die Mutter wusste aber besser. Nach der Erprobungsstufe ist es aber sogar ihr klar geworden, dass der Junge einfach nicht mithalten konnte. Dietrich wurde aus der siebten Klasse in die Hauptschule versetzt. Nichtsdestotrotz glaubte seine Mutter tief in ihrem Inneren daran, dass ihrem Sohn Unrecht angetan wurde und dass er kaum schlechter als der Beste von seinen Mitschülern war. "Er wird ihnen allen noch zeigen, wozu ein Junge mit solch einer guten Erziehung fähig ist", dachte sie öfters, wenn sie ihn beim Hausaufgabenmachen beobachtete.

Dietrich wuchs langsam an. Und mit dem fortschreitenden Alter fühlte er allmählich ganz neue Gefühle und Sehnsüchte in sich aufwachen. Die Mädchen. Ungewollt beherrschten diese seltsamen Wesen jetzt einen großen Teil seiner Gedankenwelt. Zuerst wusste er nicht einmal genau, was es war, dann hat ihn aber irgendein Spaßvogel aus der Klasse über die Liebe und alles, was damit zusammenhängt, aufgeklärt. Dietrich war geschockt und gleichzeitig betrübt von seinem neuen Wissen. Die Mädchen haben ihm auch vorher nicht viel Beachtung geschenkt, jetzt fühlte er sich noch auf seltsame Weise unwohl und peinlich in ihrer Gegenwart, sodass er mit ihnen überhaupt nicht mehr vernünftig reden konnte. Immer wenn sie ihn aus irgendeinem Grund ansprachen, schrumpfte er zusammen, murmelte etwas leise vor sich hin und versuchte ständig, sich wegzudrehen. Die Mädchen lachten, ließen ihn jedoch dann allmählich in Ruhe. Mit seinen neuen Problemen wendete sich Dietrich an die einzige Vertrauensperson, die er bisher gekannt hat. An seine Mutter. Sie ihrerseits zeigte sich empört über das Benehmen seiner Mitschülerinnen und bezeichnete sie als verdorbene Wesen, um die ihr Sohn sich keine Gedanken mehr machen solle. Sie verstehe sein Unbehagen, jedoch müsse man sich noch gedulden. Sie werde schon irgendwann ein würdiges Mädchen für ihn finden, das es verdient hat, einen solchen Ehemann zu haben wie er. Außerdem ist es noch sowieso zu früh, sich Gedanken über solche Sachen zu machen, dafür müsste man schon etwas älter sein. Und bis dahin solle er den ganzen Unfug aus dem Kopf werfen, sonst lenke der nur vom Lernen ab. Mit diesen Worten wurde das Gespräch dann beendet.

Es verstrichen noch ein paar Jahre und langsam näherte sich der Schulabschluss. Dietrichs Leistungen sind immer noch nicht besser geworden. Und die Träume seiner Mutter von ihrem Kind als jungem und erfolgreichem Wissenschaftler zerschellten an der harten Realität. Nach der Abschlussfeier begann Dietrich wie auch die meisten von seiner Klasse, sich einen Ausbildungsplatz zu suchen. Er hatte keine besonderen Wünsche diesbezüglich, aber sie wären sowieso nicht relevant gewesen. Die Mutter hat schon längst alles für ihn entschieden. Wenn aus ihrem Sohn schon kein gelehrter Mann werden kann, so soll er wenigstens so nah wie möglich an diesen Traum herankommen. Diese Nähe fand in der Ausbildung zum Chemielaboranten ihren Ausdruck. Dietrich selbst war insgeheim sehr zufrieden. Die Forderungen seiner Mutter nach besseren Noten haben ihm schon einige schlaflose Nächte gekostet.

Und so setzte der Junge seinen Bildungsweg fort. Nach der Ausbildung hat die Mutter über ihre zahlreiche Bekanntschaften für eine gute Stelle für ihn gesorgt, sodass er direkt mit der Arbeit beginnen konnte.

Und noch ein paar Jahre sind jetzt vorbei geflogen. Eines Tages flatterte die Mutter strahlend in Dietrichs Zimmer herein und teilte ihm eine schon lange erwartete Nachricht mit. "Dietrich, ich habe eine Frau für dich gefunden", sagte sie. Nicht eine Freundin, sondern eine Frau. In dieser Hinsicht war seine Mutter so ziemlich strenger Erziehung. "Das ist die Tochter von Marika, du kennst sie noch nicht, aber sie ist bildhübsch, wird dir bestimmt gefallen. Ich habe sie morgen zum Mittagessen eingeladen, da könnt ihr euch kennen lernen." Na ja, eigentlich hat Dietrich insgeheim gehofft, dass Mutter mit dem Mädchen vom fünften Stockwerk spricht, das ihm so gefallen hat. Wo er sich selbst nicht traute, es anzusprechen. Aber was soll's. Wenn es die Tochter von Marika sein soll, ist auch OK. Vielleicht ist sie sogar wirklich hübsch, wie die Mutter sagt. Schließlich will sie ihm ja nur das Beste.

Die Tochter von Marika hieß Brigitte und war alles andere als attraktiv. Sie hatte kurze dicke Beine, die teilweise mit solcher Behaarung ausgestattet waren, dass so mancher Glatzkopf dafür ein Vermögen zahlen würde. Der Oberkörper war kräftig gebaut und könnte auch einem Mann gehören, wenn man von zwei kleinen Hügelchen in der Mitte absähe. Was bleibt noch übrig? Das Gesicht sah auch nicht gerade überwältigend aus. Plumpe Nase, fettige Haut, die man mit Hilfe von dicker Schicht Schminke vertuschen wollte. Kurz geschnittenes Haar, das hinter dem Nacken zu einem festen Knoten gebündelt wurde. Im Großen und Ganzen kein schöner Anblick. Dafür besaß Brigitte eine große Willensstärke. Das konnte man sofort merken. Im Gespräch bestand sie immer auf ihrer eigenen Meinung und ließ sich von keinen Gegenargumenten überzeugen. Wenn sie ihrerseits selbst jemandem etwas beweisen wollte, dann redete Brigitte so lange auf ihn ein, bis sie mit dem Resultat zufrieden war. Gerade das schien der Mutter von Dietrich besonders zu gefallen. Dietrich selbst war es eigentlich egal. Wenn die Mutter sagt, Brigitte sei gut, dann muss das wohl stimmen. Mutter hat sich noch nie geirrt.


Im Laufe des Abends saß der schon erwachsene Junge still und beobachtete die zwei Frauen beim Reden. Sie sprachen über ihn, über die Brigitte und über ihre zukünftige Hochzeit. "Schon jetzt???" wunderte er sich. Er kennt das Mädchen doch erst seit ein paar Stunden! Vielleicht gefällt sie ihm überhaupt nicht. Und schon jetzt reden sie über die Hochzeit?! Dietrich wollte sogar etwas widersprechen, machte schon fast den Mund auf - im letzten Moment traute sich aber doch nicht. Aber auch egal. Die Mutter würde sowieso drauf bestehen und mit solch einer Verstärkung wie Brigitte umso mehr. Da lohnt es sich nicht mehr, dagegen anzukämpfen. Und so wurde Dietrichs' Schicksal an diesem Abend besiegelt. Es dauerte nicht mehr lange bis die Braut in einem schönen Hochzeitskleid und der Bräutigam in einem genauso schönen Smoking vor dem Altar standen und ein freundlicher Pfarrer die Trauungszeremonie hielt. Irgendwann während dieser Zeremonie fragte der Priester Dietrich, ob er wirklich freiwillig und ohne jeglichen Zwang in den heiligen Bund der Ehe eintreten möchte. Die scharfen Blicke von Brigitte und der Mutter richteten sich auf ihn. Dietrich trat nervös von einem Fuß auf den anderen, schaute sich hilflos um und murmelte schließlich das, was alle von ihm erwartet haben, "Ja, ich will". Der Priester fragte jetzt Brigitte. "Ja, ich will" antwortete sie sofort. Und so war es geschehen. Nun war Dietrich unter einer neuen Haube.

Das junge Paar mietete sich eine Zweizimmerwohnung in der Innenstadt, ziemlich weit von der Straße entfernt, wo Dietrich früher wohnte. Das war ein ausdrücklicher Wunsch von Brigitte. Sie wollte nämlich nicht, dass Ehemanns' Mutter jeden Tag bei ihnen aufkreuzen und ihre Ratschläge zur Hausführung und Familienleben geben würde. Jetzt gehörte Dietrich nur ihr und niemandem mehr.

Er war ein guter Ehemann. Genauso wie er schon immer ein guter Sohn war. Er hörte immer auf seine Frau und trotzte ihr nie. Kaum war das Paar verheiratet, nahm Brigitte die gesamte Haushaltsführung und Geldverwaltung auf sich. Dietrich konnte nur über eine ganz kleine Summe verfügen, die sie ihm für das Mittagessen jeden Tag ausgab. Alles andere floss in die Familienkasse rein. In den seltenen Fällen, wo Dietrich noch ein bisschen mehr Geld brauchte als seine tägliche Pension, musste er seiner Frau genauestens erklären, wieso und wofür es nötig ist. Die Gründe wurden streng kontrolliert und falls sie sich als "ausreichend" erwiesen, konnte er noch etwas aus der Kasse entnehmen.

Und so verlief dann auch der gesamte Alltag. Nach der Arbeit ging Dietrich sofort nach Hause, weil Brigitte ihn ansonsten ewig mit ihren Fragen quälen würde und überhaupt, weil ein guter Ehemann soviel Zeit wie nur möglich bei seiner Familie verbringen muss. Wie auch früher die Hofkinder haben ihn jetzt die Arbeitskollegen ein paar Mal mit in eine Kneipe eingeladen. Nachdem er jedoch mehrmals abgewiesen hatte, gaben sie es kopfschüttelnd auf. Ansonsten ging Dietrich mit seiner Frau überhaupt nicht viel aus. Die meiste Zeit verbrachte er zu Hause oder an der Arbeit. Im Gegenteil hat Brigitte ein interessanteres Leben geführt. Ständig war sie mit irgendwelchen Freundinnen oder auch Freunden unterwegs. Als Dietrich einmal ihnen Gesellschaft leisten wollte, meinte sie nur, dass ihre Freunde nichts für ihn wären. Sie kämen aus ganz anderen Kreisen und er habe sowieso genug zu Hause zu tun. Und wenn nicht, dann könne sie leicht genug Arbeit für ihn finden. Und so unterließ der brave Ehemann alle weiteren Versuche.

Die Zeit verging. Tag für Tag, Jahr für Jahr lief alles nach demselben Schema ab. Bis sie irgendwann schließlich alt wurden. Brigitte ging nicht mehr so oft aus und Dietrich wurde vom ständigen Herumhocken und mit dem Alter gekommenen tiefen Depressionen so schwach und krank, dass er überhaupt kaum vom Bett aufstand. Die Ärzte empfahlen ihm häufige Spaziergänge, Klimawechsel, Beschäftigungstherapie doch Brigitte und seine Mutter (die trotz des fortgeschrittenen Alters immer noch sehr herrschsüchtig war) meinten, dass es doch besser sei, wenn er zu Hause bliebe. Der "Junge" sei es nicht gewohnt, weit von Zuhause zu sein. Und irgendwann kam der Tag. Eine schwache Stimme drang aus dem Schlafzimmer in die Küche, wo die beiden Frauen beim Abendessen saßen. Sie unterbrachen ihr lebhaftes Gespräch und gingen zu ihm. Dietrich lag auf dem Bett und versuchte, ihnen etwas zu sagen. Aber die Stimme war so leise, dass sie ihn kaum hören konnten. Die Mutter neigte sich ganz nah an seine Lippen. "Ich hasse euch", stieß ihr Sohn krampfhaft aus. "Ich hasse euch beide". Und starb.

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