© der Geschichte: Oliver. Nicht unerlaubt
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Der Besondere Tag des Herrn Waitin

Bernard Waitin war seit nunmehr dreiunddreißig Jahren als Wachmann in einer kleinen Filiale der British National Bank in einem unbedeutenden Londoner Vorort beschäftigt, und nach all den Jahren hatte er sich damit abgefunden, niemals mehr etwas anderem zu begegnen als der Ereignislosigkeit selbst.
Es war die ständige Wiederkehr des längst Bekannten, die ihn hatte mürbe werden lassen und die ihm das Gefühl gab, in einem einzigen, sich ewig wiederholenden Tag gefangen zu sein. Jeden morgen pünktlich um acht schloß er die Eingangstüre der Bank auf und ließ die Rollgitter hinauf, um die Filiale für den Publikumsverkehr zu öffnen, und hatte dann bis zum Geschäftsschluß nichts weiter mehr zu tun, als dafür zu sorgen, daß die Kunden den Diskretionsabstand einhielten, bei auftretenden Fragen Auskunft zu erteilen und den Leuten einen schönen Tag zu wünschen, wenn sie die Filiale verließen. Natürlich musste er auch auf Personen achten, die sich in irgend einer Form auffällig benahmen, sei es, daß sie vor dem Eingang herumlungerten oder sich in verdächtigem Maße für die Sicherheitsvorkehrungen interessierten. Er hatte zu diesem Zweck eigens einen Platz neben dem Eingang, der es ihm ermöglichte, den gesamten Innenraum und auch den Bereich vor der Bank zu überblicken, damit er schnell einschreiten konnte, sollte tatsächlich einmal der unwahrscheinliche Fall eintreten, daß die Bank überfallen wird. Aber in all den Jahren war dergleichen nie passiert und das Einzige was ihn mit einem Banküberfall verband, waren die schlechten Filme im Fernsehen, die er sich jeden Abend nach Dienstschluss alleine zu Hause ansah, und in denen seine Kollegen entweder gleich zu Beginn erschossen oder aber als völlige Dilettanten dargestellt wurden. So verbrachte Herr Waitin die meiste Zeit seines Dienstes damit, neben dem Eingang zu stehen und einen verzweifelten Kampf gegen die Langsamkeit der Zeit auszufechten, ehe er am Ende eines jeden Geschäftstages die Eingangstüre wieder abschloß und in ewig gleicher Reihenfolge die Rollgitter herunterließ und die Sicherheitsanlagen überprüfte und anschließend zusammen mit dem Geschäftsführer das Bargeld in den Tresor brachte und ihn vorschriftsmäßig verschloss. Dann war sein Dienst beendet und er konnte nach Hause fahren.

Während all der Jahre, die er nun schon in der Bank arbeitete, konnte er sich nicht daran erinnern, daß sich an diesem Ablauf je etwas geändert hätte. Lediglich eine ganze Anzahl technischer Neuerungen hatten ihm seine Tätigkeit vereinfacht. So gab es Alarmanlagen mit direkter Verbindung zur Polizei, versteckte und vollautomatische Überwachungskameras, die mit dem bloßen Auge kaum noch zu erkennen waren, kugelsicheres Panzerglas, das selbst dem Einschlag einer Rakete standhalten konnte, und seit Neuestem lasergesteuerte Bewegungsmelder im Tresorraum, die jede unautorisierte Bewegung sofort mit schrillen Alarmsirenen bestraften.
Oft, wenn Waitin an seinem Platz auf sein Dienstende wartete und seinen Blick durch die große Halle der Bank schweifen ließ, ertappte er sich dabei, wie er sich den phantastischsten Tagträumen hingab, in denen die Bank von bewaffneten und maskierten Männern überfallen wurde und er sie ganz alleine, nur mit Hilfe seiner kleinen Dienstwaffe überwältigte und festnahm, egal wie groß die Übermacht war, der er sich gegenübersah. Er malte sich aus, wie alle Welt ihn anschließend als Held feierte und ihm das Fernsehen sogar einen ausführlichen Bericht zur besten Sendezeit widmete. Er wünschte sich beinahe, daß es wirklich geschähe, und er war sich sicher, daß er, trotz seiner unscheinbaren Erscheinung - er war eher klein und gedrungen, sein schütteres Haar war vollständig ergraut und nichts deutete darauf hin, daß er überhaupt noch zu einer entschlossenen Handlung, die Beweglichkeit und Schnelligkeit erforderte, fähig war - sich genauso mutig und furchtlos verhalten würde wie in seinen Träumen.

Aber auch dieser Arbeitstag neigte sich dem Ende entgegen, ohne daß etwas Außergewöhnliches passiert war und Bernard verließ seinen Platz, um wie gewohnt den Eingang zu verriegeln. Er wollte gerade den Schlüssel ins Schloß stecken, als ein junger Mann angerannt kam und flehentlich gegen die Scheibe klopfte. Mit verzweifelten Gesten bat er darum, noch hereingelassen zu werden und deutete dabei auf ein ausgefülltes Überweisungsformular in seiner Hand. Bernard betrachtete sich den Mann genau und ließ ihn, nachdem er beschlossen hatte, daß jemand mit einem so harmlosen Gesicht kein Verbrecher sein könne, herein, denn schließlich dauerte das Einwerfen einer Überweisung bestenfalls eine Minute.
Er öffnete also die Tür - allerdings nur einen Spalt breit, so daß der junge Mann gerade hindurchschlüpfen konnte - und machte sie hinter ihm wieder zu, nachdem dieser, sich mehrfach bedankend, an ihm vorbeigehuscht war. Doch bevor Bernard sie abschließen konnte, spürte er plötzlich etwas kaltes, metallenes an seiner Schläfe. "Auflassen!" hörte er.
Vorsichtig drehte er sich um und sah sich dem glänzenden Lauf einer Pistole gegenüber, dessen Mündung auf seinen Kopf gerichtet war.
"Keine Bewegung! Alles auf den Boden!" schrie der Mann. "Sonst erschieße ich den Alten hier", und deutete dabei auf Waitin, während er gleichzeitig mit einer flinken Bewegung die Dienstwaffe des Wachmannes an sich nahm und sie in seiner Jacke verstaute. "Und sollte einer versuchen, den Helden zu spielen, dann ist er ebenfalls dran!"
Angstvolle Schreie hallten durch den Raum und die Angestellten warfen sich voller Panik zu Boden. Der Bankräuber drängte Waitin zur Kasse und zog, als sie vor dem Glasschutz standen, eine weiße Plastiktüte aus seiner Jackentasche.
"Los, vollmachen! Und keine Tricks!" befahl er und schob sie der verschreckten Kassiererin zu. Diese stand verängstigt auf, das Gesicht aschfahl und den Tränen nahe, und stopfte die gebündelten Scheine mit zittriger Hand hinein. Doch offensichtlich ging es ihm nicht schnell genug, denn er hämmerte plötzlich wild mit seiner Pistole auf den Schaltertisch.
"Komm, komm, beeil dich!", schrie er ungeduldig und spannte den Schlagbolzen der Pistole, um zu zeigen, daß er es ernst meinte.
Nachdem die Tüte gefüllt war, riß er sie ihr aus der Hand und kehrte, Waitin vor sich herschiebend, zum Ausgang zurück. Doch statt ihn freizulassen und das Weite zu suchen, sagte er: "Du kommst mit, alter Mann. Du bist meine Versicherung", und stieß ihn nach draußen, die Pistole unter seiner Jacke versteckt. Dort deutete er auf einen kleinen Wagen, der in zweiter Reihe direkt vor der Bank geparkt war.
"Da rüber! Du fährst!"
Widerwillig setzte sich Waitin hinter das Lenkrad. Erst dann stieg auch sein Entführer ein. In der Ferne waren die ersten Polizeisirenen zu hören - nicht lange mehr, und sie würden die Bank erreich haben.
"Mach keine Dummheiten!" brüllte der Bankräuber, die Pistole immer noch auf ihn gerichtet. "Wenn du versuchst, mich zu linken, bist du dran!"
Waitin gab Gas und brauste mit quietschenden Reifen davon, kurz bevor der erste Streifenwagen um die Ecke bog. Sie fuhren über Dutzende Seitenstraßen, wobei ihm der Bankräuber den Weg durch dieses Labyrinth wies, ohne jemals die Orientierung zu verlieren, und nach einer für Waitin verwirrenden Fahrt durch die schmalen Gassen hindurch, kamen sie schließlich auf die Schnellstraße, die Stadtauswärts führte. Dabei waren sie nicht einem einzigen Polizeiwagen begegnet.

Nach einer halben Stunde verließen sie die Schnellstraße und kamen zu einem großen Waldstück, das mehrere Meilen von London entfernt war. Sie bogen auf einen verlassenen Feldweg ein, dem sie eine Zeit lang folgten, so daß der Wagen von der Straße aus nicht mehr zu sehen war. An einem gewaltigen Polter, dessen riesige Baumstämme sich bedrohlich vor ihnen aufbauten, bedeutete ihm der junge Mann, er solle anhalten.
Er fuhr den Wagen an den Wegesrand und stellte den Motor ab. Die Pistole war immer noch auf ihn gerichtet. Es trat eine minutenlange Pause ein, in der Waitin angespannt auf die Windschutzscheibe starrte.
"Das wär's", sagte der Bankräuber schließlich. "Ende der Reise."
Er sah Waitin prüfend an, nahm seine Dienstpistole, die er ihm zuvor abgenommen hatte, aus der Jacke hervor und zielte auf ihn. Langsam umschloß sein Zeigefinger den Abzug und drückte ab. Ein leises Klicken ertönte. Er drückte erneut ab, aber wieder blieb der Schuß aus. Er nickte bestätigend, legte ihm die Waffe in den Schoß und begann lauthals zu lachen.
"Ich wußte, daß du sie nicht geladen hattest."
"Ich habe sie nie geladen", antwortete Waitin ruhig.
Der Bankräuber schwieg für einen Moment. "Du bist der komischste Kauz, der mir je begegnet ist, alter Mann", sagte er und riß sich dabei eine Perücke und eine dünne Latexmaske vom Kopf, wie sie beim Film verwendet wurde, und die täuschend echt wirkte - selbst bei genauerem Hinsehen. Jetzt trat sein wahres Äußeres zum Vorschein, das eines Mannes um die vierzig mit leicht ergrauten Haaren und das Gesicht kantiger und mit hervorstehenden Wangenknochen, die ihm ein beinahe gefährlich und verschlagen wirkendes Aussehen verliehen.
"Und du willst das Geld wirklich zurückbringen?" fragte der Mann ungläubig.
"Das war von Anfang an der Plan", entgegnete Waitin nachdrücklich, der mit seinen Händen immer noch fest das Lenkrad umklammerte.
"Es sind immerhin über 5000 Pfund. Genug, um es sich für eine Weile gut gehen zu lassen, selbst wenn wir es uns teilen."
"Ich habe dir fast das Doppelte gezahlt, erinnerst du dich? Du kommst also wirklich nicht zu kurz."
Der Mann seufzte. "Was für eine Geschichte wirst du ihnen erzählen?"
"Das wir hierher gefahren sind und du mich erschießen wolltest, weil ich dir nicht mehr nutzen konnte. Es kam zum Kampf und es gelang mir, dich zu überwältigen. Du hast es zwar geschafft, aus dem Wagen zu springen und in den Wald zu entkommen, aber die Beute konnte ich dir vorher abnehmen."
"Und das werden sie dir abkaufen?"
"Natürlich. Sie werden keinen Verdacht schöpfen, solange ich ihnen das Geld bis auf den letzten Penny zurückbringe."
Der Bankräuber schüttelte den Kopf.
"Und alles nur wegen eines verrückten Traumes", murmelte er.
"Es fehlt nur noch eine Sache", sagte Waitin.
"Ja richtig, um die Illusion perfekt zu machen", erwiderte sein Gegenüber spöttisch. "Soll ich fest zuschlagen?"
"So fest du kannst. Es soll glaubhaft wirken, so als wäre es im Kampf geschehen."
"Komischer alter Kauz", bemerkte der Bankräuber erneut und lächelte mitleidig.
Der Schlag traf Waitin unterhalb des rechten Auges und war wesentlich härter als erwartet. Für einen Moment verschwamm das Wageninnere. Ein pulsierender Schmerz breitete sich auf seiner rechten Gesichtshälfte aus und Waitin spürte, wie seine Wange langsam anschwoll.

Als der Bankräuber ausgestiegen und schon fast im Dickicht verschwunden war, drehte Waitin das Seitenfenster herunter. Er erinnerte sich daran, wie verblüfft ihn der Mann angestarrt hatte, damals in der Kaschemme, als er ihm sein Vorhaben unterbreitet hatte, und wie er versucht hatte, es ihm auszureden. Ein fingierter Bankraub sei das Dümmste was man überhaupt machen könne, hatte er gesagt. Doch jetzt, wo alles vorbei war und die Anspannung langsam von ihm abfiel, war er froh, diesen Schritt gewagt zu haben. Sicherlich, der Mann war ein Verbrecher, jemand, der ins Gefängnis gehörte, jemand, der schon so viele Straftaten begangen hatte, daß es allemal für eine lebenslange Gefängnisstrafe ausgereicht hätte; aber immerhin war er auch ein Ehrenmann, jemand, der sein Wort hielt und dem man in gewisser Weise sogar vertrauen konnte. Waitin sollte nur noch einmal etwas von ihm hören, als er, gut ein Jahr später, nach einem Raubüberfall - er hatte einen Geldtransporter mit fast hunderttausend Pfund Inhalt ausgeraubt - und einer der wildesten Verfolgungsjagden in der Geschichte Londons, von der Polizei auf der Flucht erschossen wurde.
"Und... Danke!" rief Waitin.
"Es war nett mir dir Geschäfte zu machen, alter Mann."
Waitin wartete, bis nichts mehr außer den knorrigen, alten Bäumen rings herum zu sehen war und nur noch der Schmerz in seinem Gesicht ihn daran erinnerte, das all dies kein Traum war.
Er ließ die Ruhe auf sich einwirken. Sie erinnerte ihn an die Stille der Bank, an jenes Totenhaus, in dem er auf kurz oder lang gestorben wäre und das ihn für immer verschluckt hätte. Jetzt aber würde nichts mehr so sein wie früher. Er startete den Motor, wendete vorsichtig das Fahrzeug und fuhr zum nächsten Polizeirevier. Und während er sich dem letzten Akt seiner Inszenierung näherte, schossen ihm tausende Gedanken durch den Kopf. Die Zeit der aufzehrenden Monotonie, die sein Leben beherrschte und die ihn langsam aber sicher auffraß, der Sumpf völliger Ereignislosigkeit, in dem er zu versinken drohte und die Gewißheit, nichts im Leben geleistet und somit die kurze Zeitspanne, die zwischen Geburt und Tod lag, verschwendet zu haben, war beendet. Morgen würde ein großes Foto von ihm in der Zeitung stehen, morgen würden ihm alle zu seiner großartigen Tat gratulieren, morgen würden ihn alle bewundern. Morgen wäre er ein Held.
Endlich.

Ende

Oktober 1996
© by Oliver
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