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Beobachtung

Ein heißer, klarer Sommertag. Nur eine kleine Wolke versucht gegen die Strahlen der Sonne zu kämpfen. Sie erinnert an Don Quichotes Kampf gegen die Windmühlen und muß sich bald geschlagen geben.

Die Sonne brennt wie die Hitze einer Lavaglut an diesem letzten Tag im Juni. Ein leichter, angenehmer Wind umspielt mein Gesicht. Im Hintergrund das sanfte, zarte Plätschern eines Brunnens. Bunte Blumen zieren die Ränder der gestutzten Wiesen im Park. Zahlreiche Menschen beleben diesen Ort und machen ihn zu einem Platz der Harmonie, der Ruhe und des Friedens. Es geht doch, denke ich bei mir. Menschen können doch friedlich miteinander sein. Warum gibt es aber dennoch überall auf der Welt Tod, Gewalt und Hass? Ist es die unendliche Gier, die den Menschen zu einer niederen Kreatur verkommen läßt? Fragen, auf die es keine Antworten gibt, denn der Mensch ist ein Tier in seinem Streben nach Macht und Erfolg. Der Mensch lebt ohne Rücksicht auf Verluste ein Leben im Überfluß. Warum?

Die Augen hinter einer dunklen Brille versteckt, versuche ich meine Gedanken wieder einzufangen. Es gab so vieles auf der Welt, das ich nicht verstand, nicht verstehen wollte, nicht verstehen konnte. Die Werte und als erstrebenswert bezeichneten Ziele unserer angeblich zivilisierten Gesellschaft im 21. Jahrhundert gehörten dazu. Alles was zu zählen schien war Erfolg und Geld. Menschlichkeit und Sozialverhalten waren zu Fremdwörtern verkommen in einer Gesellschaft der Ich-Menschen.

Vögel zwitscherten ihre lustigen Lieder und ein paar Meter weiter sangen zwei Straßenmusiker ihre Lieder. Ich genoß die Atmosphäre, schaltete mein Gehirn aus und glitt ab in die Ruhe des Augenblicks. Erst jetzt bemerkte ich, daß ich seit geraumer Zeit ein Mädchen anstarrte. Ihre langen blonden Haare sind zu einem frechen Knoten gebunden, ihre Gesichtszüge sanft und zart. Die Augen hat auch sie hinter einer Sonnenbrille versteckt. Wie alt sie wohl sein mag? Vielleicht zwanzig? Viel älter wohl kaum. Sie sieht hübsch, wie sie im Schneidersitz auf der Holzbank kauert. Schlank und sportlich ist ihre Figur. Ein Engel in einer ansonst so bösen Welt. Ein Licht in der Dunkelheit. Wer sie wohl ist? Wie sie wohl heißt?

Ich schließe einen Moment die Augen, träume mich an einen anderen Ort, in einer besseren Welt, in der die Einäugigen Könige und die Schwachen die Starken sind. Zusammen tollen wir durch saftige Wiesen. Schmetterlinge umschwirren uns mit ihren fröhlichen Flattern. Ich schmecke plötzlich ihre Haut und ihre Lippen - sie schmeckt wie ein Pfirsich.

Ich öffne die Augen wieder. Sie scheint zu mir zu schauen. Oder ist es nur ein Wunschtraum? Sie hat ihr Buch - ich glaube es ist ein Roman von John Irving - auf ihren Knien abgelegt. Ein sanftes Lächeln scheint ihre Lippen zu umspielen, aber so genau kann ich es leider nicht erkennen. Sicherheitshalber laufe ich rot an, wie jedes mal, wenn eine Frau mit mir flirtet. Wahrscheinlich sehe ich jetzt aus wie ein Feuerwehrauto und leuchte knallrot. Das einzige was an ihr rot leuchtet sind die lackierten Fußnägel. Ich hasse lackierte Fußnägel - und rote erst recht -, aber an ihr sehen sie sexy aus.

Gerne würde ich wissen wer sie ist, wo sie wohnt und was sie macht, einfach alles. Aber dazu müßte ich sie ansprechen. Somit wird es ihr kleines Geheimnis mir gegenüber bleiben.

Halb sitzt, halb liegt sie jetzt auf der Bank. Ich bewundere die Formen ihres Körpers, so unauffällig wie möglich. Bestimmt habe ich morgen Muskelkater in den Augen, sosehr muß ich sie verrenken um ihren Körper zu begaffen. Der Flache Bauch, die sanften Rundungen ihrer Brüste, die wohlgeformten Beine.

Plötzlich setzt sie sich auf und ich erschrecke, fühle mich ertappt und sehe schnell in eine andere Richtung. Verdammt, sie packt ihr Buch in den Rucksack, kramt eine Wasserflasche hervor, nimmt einen letzten Schluck und steht auf. Sie will gehen, läßt mich alleine zurück in der Welt. Dabei hätte es soviel gegeben, was ich mit ihr gerne besprochen hätte. Aber aus, Schluß, vorbei. Sie geht. Ein letztes Lächeln und weg ist sie. Ihre Umrisse werden immer kleiner, bis sie mit der entfernten Menge verschmilzt. Noch lange sehe ich ihr hinterher, obwohl ich sie bereits nicht mehr erkennen kann. Ich wünsche ihr ein schönes Leben, bleibe noch etwas sitzen und überlege was ich mit dem Rest de Tages anfangen soll. Vielleicht sollte ich mich betrinken. Ich weiß es nicht. Wieder schließe ich die Augen. Wieder sehe ich das Gesicht des Mädchens vor mir. Wir küssen uns. Unsere Lippen kleben aneinander. Unsere Hände ergründen unsere Körper und irgendwie scheinen wir miteinander zu verschmelzen. Wir werden zu etwas neuem, unbeschreiblichen und die Wolken tragen uns fort in eine ferne, ungewisse Zukunft.

Ich kann sie spüren und schmecken, obwohl es nur ein Traum ist. Ich bin ein guter Träumer, träume viel und gerne. Mein ganzes Leben ist ein Traum und der Wunsch ist stets Vater meiner Gedanken. In meinen Träumen bin ich in der Lage Dinge zu sehen, die ich noch nie zuvor gesehen haben. Träume sind alles was ich habe. Doch jetzt ist es Zeit zurückzukehren in meine kleine Welt.

Ich öffne die Augen. Sie sind wäßrig und die Haut meines Gesichtes von Tränen getränkt. Ich blinzle und mein Blick wird klarer. Ja, ich bin wieder hier in meinem Zimmer, dem Zimmer eines Irren, wie jemand mal zu mir sagte. Zurückgekehrt von einem Traum, der mich an einen anderen Ort fortgetragen hat. Zurückgekehrt an einen Ort der Einsamkeit.

Die Wände sind in schlichtem Grau getüncht, das alte Bett quietscht bei jeder Bewegung, vor dem Fenster ist ein altes, rostiges Gitter. Ein Tisch, ein Holzstuhl, eine nackte Glühbirne, die lose in der Fassung von der weißen Decke baumelt, so sieht es aus in meiner Welt. Das Blonde Mädchen, der Engel aus meinem Traum, ist verschwunden und dennoch in meinem Herzen. Vielleicht hilft sie mir, damit ich mich nicht mehr so alleine fühle. Die Ärzte sagen, es wäre besser für mich, wenn ich alleine bin. Der Welt sei ich nicht gewachsen, meinen sie. Depressiv und Selbstmord gefährdet, so die Diagnose. Helfen will man mir hier und gibt mir deshalb viele, viele Tabletten, damit die Traurigkeit verschwindet. Aber sie verschwindet nicht, sie zieht sich zurück in einen Schmollwinkel, aber sie verschwindet nicht. Vielleicht kann mir das blonde Mädchen helfen, sie zu vertreiben. Aber ich weiß nicht ob ich sie wiedersehen werde, habe ja vergessen sie zu fragen wer sie ist und wie sie heißt, denke ich mir.

Wahrscheinlich gehört die Traurigkeit zu mir, wie der blonde Engel in eine bessere Welt. Vielleicht treffen wir uns dort irgendwann wieder.


Kai Bliesener - 23.September 2000

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