© der Geschichte: Michael Eichhammer. Nicht unerlaubt
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Aller Tage Abend

Er dachte, es wäre schneller vorbei. Da hatte er sich geschnitten. Wie vorhin in die Adern.
Das Blut floß jetzt nicht mehr, tröpfelte nur. Das kitzelte. Es tat gar nicht weh, dank dem "E" und was sich reimt ist immer gut, wenn es kein Gedicht ist. Dieses "E" kam nicht aus dem "Glücksrad", nein Mama, keine Angst, ich schau nicht zuviel fern. Eher zuviel nah, in den Spiegel zum Beispiel. Da sehe ich dann meine Ohren und wünschte ich könnte wenigstens davonfliegen damit. Ein komischer Vogel bin ich doch, das hab´ ich oft genug gehört. Mit diesen großen, abstehenden Ohren hab´ ich das gehört. Sie sind Antennen. Aber keine Flügel. Ein komischer Vogel ohne Flügel.

"Es war kein Selbstmord - diese Welt hat mich umgebracht." Das war alles. Alles, was sie lesen würden, wenn sie ihn entdeckten. Alles was von ihm übrigbleiben würde. Seine famous last words. Und er war sehr zufrieden damit.
Er war auch zufrieden mit dem Schnitt. Dem entscheidenden Abschnitt in seinem Leben. Dem Abschnitt der Nabelschnur, die seinen Körper und diese Welt miteinander verband.
Sein Körper... Das war ein Thema für sich. Sowas paßte nicht auf einen kleinen Zettel. Außerdem auch nicht der Rede wert. Er wußte schon gar nicht mehr, an wen er diese 2 Sätze geschrieben hatte.

Nicht quer, sondern den Arm entlang. Das hatte er aus dem Fernsehen. Das Fernsehen, der flimmernde Sündenbock, bunte Ausrede für alle Probleme auf dieser Welt: Selbstmord, Mord, Drogen, Vergewaltigungen, Minderwertigkeitskomplexe, Schulprobleme, Streß, Aggression - alles nur wegen dem Fernsehen. Nein, daß er häßlich war, das wußte er auch ohne Fernsehen. Aber da sah er es täglich nochmal, wenn er es mal kurz vergessen hatte.

"Ich begrüße aufs Herzlichste Herrn Doktor Weiss im Studio, er ist Psychologe." (Applaus-Maschine) "Herr Doktor Weiss - Selbstmord mit einem Küchenmesser...Was treibt einen jungen Menschen zu einer solchen Verzweiflungstat?" - "Ja, darüber sollten wir sprechen. Ich denke, die Antwort auf diese Frage liegt in der Kindheit." "Entschuldigung, Herr Doktor Weiss - sie wissen ja...die Zwänge des Mediums, die Gesetze der Marktwirtschaft - Wir müßen an dieser Stelle kurz erbrech...äh, unterbrechen. Wir sind gleich wieder für sie da, meine Damen und Herren - Schalten sie ihr Gehirn ab, aber nicht ihren Fernseher!" (Ambient-Sound, dazu dreht sich ein glitzerndes Bestecksortiment langsam in den Bildvordergrund. "Endlich ist sie da - die neue Allzweck-Küchenmesserkollektion von Metzger! Metzger-Stahl: Schärfer als ein Porno und schnittiger als ein Ferrari. Natürlich auch gut abgeschnitten bei Stiftung Warentest! Rufen sie jetzt an und wir liefern sie ans Messer!")

Wenn man sich erhängt, spritzt man nochmal ab. Das hatte er auch aus dem Fernsehen. Um dieses zweifelhafte Vergnügen hatte er sich gebracht. Aber dafür konnte er jetzt zusehen, wie sein Blut den Teppich versaute. Das war die letzte Rache. Dafür, daß sie ihm das alles angetan hatten. Ihn in diese Welt gesetzt. Er hatte nicht darum gebeten, im Gegenteil. Wenn der Arzt vor der Geburt ein Fax mit der Frage um seine Meinung in die Gebärmutter geschickt hätte, hätte er sich wahrscheinlich mit der Nabelschnur erhängt.
Jetzt bildete sein Blut eine kleine Pfütze auf dem sündhaft teuren Teppich. Das sah so unpassend aus. Fast schon obszön. Oder unanständig. Wie ein Nackter in der Oper. Oder ein Rülpser im "Vier Jahreszeiten."

"Hier sind wir wieder. Wir sind bei ihnen, damit sie nicht so allein sind. Und wir wollen reden, man kann doch über alles reden. Und das tun wir auch. Heute reden wir über das Thema ´Selbstmord mit 15 - War die Techno-Musik schuld?´ Herr Doktor Weiss, warum dieser Abschiedsbrief?" - "Ja, darüber sollten wir sprechen. Der Abschiedsbrief ist ein Zeichen dafür, daß der Junge unbewußt gar nicht sterben wollte. Ein letzter Hilferuf, nachdem die verbale Kommunikation mit der realen Umwelt in seinen Augen gescheitert war. Ein Abschiedsbrief ist immer ein letztes Hängen am Leben, ein Versuch etwas von sich zu konservieren, unsterblich zu werden. Die Antwort dazu liegt oft in der Kindheit." (Applaus-Maschine) "Wir sind gleich wieder für sie da, liebe Zuschauer. Bleiben sie dran, es wird noch spannend - unser letzter Gast ist katholischer Pfarrer. Er will anonym bleiben und hat sich deshalb mit einer Sonnenbrille als Zuhälter verkleidet. Vorerst nur soviel: Seine These ist: "Techno und die Kinder-Sendung ´Tom und Jerry´ haben diesen Jungen auf dem Gewissen." (Techno-Sound; Die Kamerafahrt simuliert den Weg eines Staubsaugers durch ein Wohnzimmer, verfolgt einen schrill piepsenden Kanarienvogel, der schließlich erfaßt wird. Federn fliegen und verdunkeln das Bild. "Der neue Teppich-Cleaner ist jetzt dreimal so stark wie herkömmliche Teppichreiniger. Was auch immer ihr Problem ist - Der neue Teppich-Cleaner löst es in nichts auf."

Er wurde müde. Es war ja auch ein einschneidendes Erlebnis gewesen. Wenn er die Augen zumachte, sah er sich selbst durch einen Tunnel fliegen. Geiler Trip. Von Zeit zu Zeit vergaß er, warum er da lag. Dann schaute er wieder auf den sündhaft teuren Teppich. Und den neuen Sony-Fernseher. Dann war wieder alles klar.

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