© der Lyrik: Andrea Tillmanns.

Lebens-weise

Und eines Tages gab es keine Geschichten mehr, die sie hätte erzählen können. So viele hatte sie zu Papier gebracht, manche besser, manche schlechter, doch mit der Zeit war keine Geschichte mehr neu.

Und jedes Gedicht war gedichtet, jeder Reim gekostet und für gut befunden worden oder nicht, doch am Ende gab es keine ungereimten Reime mehr.

Und jede Melodie war gesungen, manche laut oder leise, andere schnell oder langsam, und die meisten auch sanft oder wild, doch fand jetzt kein Ton einen unbekannten Nachbarn mehr.

Und jedes Bild war gemalt, das sich ihr eingeprägt, voller Farben und regengrau, fingernagelklein und zimmerwandgroß, doch nun war jedes neue Bild schon alt.

Und die anderen sagten ihr: Sieh dich nur um, wie lange schon hast du es nicht getan, siehe und höre und fühle und taste und schmecke das Leben, denn dies ist die Wirklichkeit.

Und sie tat, wie ihr geheißen, und sie sog mit allen Sinnen das Leben in sich auf, und sie ging zurück in ihr Zimmer und begann zu schreiben und singen und malen.

Und sie erschuf die Wirklichkeit der wahrgenommenen Sekunden neu, und lange Jahre des Nach-sehens, -hörens, -fühlens, -tastens und -schmeckens genügten noch nicht, eine einzige Sekunde nachzubilden.

Und die anderen belachten sie stumm. Und sie gingen hin und lasen und hörten und sahen die Bildnisse einer einzigen Sekunde, die sie schon vergessen hatten, und sie fühlten das Leben nach. Und sie fragten sich nie, wessen Leben lebendiger war.

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