"Thank you for the music"
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Das Ende der Musikindustrie?


von Thomas Otto




Wer kauft heutzutage eigentlich noch Musik? Glaubt man den Presseabteilungen und aktuellen Werbekampagnen der Musikindustrie sind wir alle zu Dieben und Verbrechern geworden, die nichts besseres wissen, als Musik illegal aus dem Internet herunterzuladen und so sowohl den Künstler als auch natürlich das dahinterstehende Plattenlabel um das wohlverdiente Geld zu bringen.
Tatsächlich ist der weltweite Umsatz der Phonoindustrie seit 1999 stark rückgängig. In Deutschland sieht das Bild nicht anders, sondern eher noch schlimmer aus, hier ist der Umsatzrückgang überdurchschnittlich ausgefallen. Wurden 1999 noch für knapp 2,5 Mrd Euro CDs umgesetzt, waren es drei Jahre später nur noch 1,9 Mrd Euro - knapp 25% weniger also. Der aktuelle Trend verspricht keine Änderung. Umgekehrt ist der Umsatz von CD-Rohlingen sprunghaft angestiegen. Wurden 1999 noch knapp viermal so viele Musik-CDs verkauft wie Rohlinge mit Musik bespielt, hatte sich das Niveau 2001 bereits leicht zum Vorteil der Rohlinge verschoben. 2002 schließlich standen 166 Millionen verkaufte CDs 259 Millionen mit Musik bespielten Rohlingen gegenüber.
Der Schuldige ist leicht ausgemacht: CD-Brenner und Internettauschbörsen wie KaZaa sorgen für die katastrophale Umsatzentwicklung, die den Bestand der Musikindustrie als solches bedroht. Die Musikindustrie sieht sich derart in die Ecke gedrängt, daß der amerikanische Phonoverband RIAA (Recording Industry Association of America) nach langem Zögern dazu übergegangen ist, private Nutzer von KaZaa medienwirksam auf Schadensersatz zu verklagen. Ein klarer Fall also?
Wenn man die Meldungen zum Thema Umsatzkrise in der Musikindustrie liest und hört, scheint der Fall tatsächlich klar zu sein - und die obigen Fakten sprechen auch eine deutliche Sprache, oder?
Wenn man jedoch genauer hinblickt und hinterfragt, warum der Umsatz der Phonoindustrie so eingebrochen ist, scheinen die Dinge sehr bald nicht mehr so eindeutig und klar umrissen zu sein. Zuallererst sollte man sich daran erinnern, daß das aktuelle Lamento der Musikindustrie bei weitem nicht so aktuell ist, wie man glauben mag.

"Wir haben in Erfahrung gebracht, dass widerrechtlich Duplikate unserer Columbia-Walzen auf den Markt gebracht werden. Aufgrund verschiedener gerichtlicher Entscheidungen warnen wir davor, solche Walzen unbefugt zu duplizieren und in Verkehr zu bringen, und werden unnachsichtig strafrechtlich und zivilrechtlich gegen alle Personen vorgehen, welche dieser Warnung zuwiderhandeln."
Soweit eine Mitteilung der Columbia Phonograph Co. mbH, Berlin, vom 21. März 1904.

In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts dann gab es heftigen Widerstand gegen die Einführung der Musikcassette, auch dort wurde moniert, daß die große Anzahl an Raubkopien zu beträchtlichen Umsatzeinbußen führen würde. Das Gegenteil war der Fall. Durch die Einführung der CD Anfang der 80er Jahre katapultierten die Umsätze in bis dato ungeahnte Höhen. Es waren die 90er Jahre und eine kleine Erfindung des Fraunhofer Instituts, die zusammen mit CD-Brennern und der an sich völlig simplen Idee, daß man private PCs weltweit zu privaten Tauschnetzen zusammenschließt, das Kopieren erstmals perfektionierten. Hatten alle bisherigen Kopien den entscheidenen Nachteil, nicht so gut wie das Original zu klingen, waren nun mit CD-Brennern oder auch mit dem MP3-Format 1:1 Kopien von CDs möglich, die sich entweder gar nicht oder aber nur vernachlässigbar gering vom Original unterschieden. Wurden früher LPs auf Cassette aufgenommen und auf dem Schulhof getauscht, tauscht man nun MP3s weltweit einfach und bequem vom heimischen PC aus. Ist also die Technik allein Schuld an der Misere der Musikindustrie, während das Problem als solches so alt wie das erste Abspielgerät für Musik ist?

Szenenwechsel: die deutsche Radiolandschaft ist auf den ersten Blick betrachtet so vielfältig wie nie zuvor. Gab es bis in die 80er Jahre hinein nur die handvoll öffentlich-rechtlichen Rundfunksender, die leicht angestaubt und im sicheren Wissen, keine Konkurrenz zu haben, eifrig ihrem Bildungsauftrag hinterherkamen, hat sich die Anzahl der Radiosender seit Einführung des Privatradios vervielfacht. Heute kann man aus einer großen Fülle von Sendern auswählen. Und doch hat diese viel größere Auswahl an Sendern einen merkwürdigen Effekt gehabt: während die Privatradios sich aufmachten, den etablierten ARD-Sendern das Leben schwer zu machen, ist im Laufe der Jahre die Programmvielfalt verschwunden. Kurioserweise hat sich seit Einführung des Privatradios die Anzahl der gespielten Lieder tatsächlich halbiert.
Eigentlich ein Widerspruch. Wie kann eine sehr viel größere Anzahl von Sendern zu einer immer kleiner werdenden Auswahl an Musik führen?
Es ist schon seltsam: egal, wo man sich in Deutschland aufhält, praktisch überall wird man die Sender finden, die die "Hit Hits der 80er, 90er und das beste von heute" bringen. Manche Sender beschränken sich allein auf die 70er, 80er und teilweise die 90er Jahre, andere hingegen bringen dafür nur aktuelle Charthits - doch das Muster an sich ist identisch.
Wer sich wirklich die Mühe macht, bewußt Radio zu hören, wird feststellen, daß das Programmrepertoire der Sender beinah einzig und allein entweder aus den letzten paar Bravo Hit CDs besteht oder aber aus den diversen 70er, 80er und 90er Jahre Samplerreihen, die man für wenig Geld im ansässigen Großdiscounter kaufen kann. Es hilft dabei auch wenig, den Sender als solches zu wechseln, weil alle Sender mehr oder weniger die gleiche Linie verfolgen.
Und diese Linie heißt: so viele Hörer wie nur möglich erreichen. Und wie erreicht man so viele Hörer wie möglich? Indem man sich auf den größten gemeinsamen Nenner einläßt. Untersuchungen, die die Radiosender durchgeführt haben, haben angeblich ergeben, daß die große Masse der Radiohörer abschaltet oder umschaltet sobald ein Lied gespielt wird, das nur ein wenig abseits des breitgetretenen Mainstreams angesiedelt ist.
Da Radiosender in erster Linie Wirtschaftsunternehmen sind und damit als wichtigstes Ziel die Einnahme von Geld haben und die Musik dazu nur Mittel zum Zweck ist, ist jeder abtrünnige Hörer, der genervt den Sender wechselt, weil gerade ein Lied läuft, das nicht ins gängige Schema paßt, ein spürbarer Verlust. Werbekunden zahlen nur entsprechende Gelder, wenn die Quoten und Marktanteile stimmen.
Damit ist es beinahe schon selbstverständlich, daß die Sendeleiter keine großen Risiken eingehen wollen. Radiomusik soll unterhalten, Radiomusik soll angenehm sein, Radiomusik darf vor allem nicht dazu verleiten, den Sender zu wechseln - in anderen Worten: Radiomusik erfüllt heutzutage oft nur noch die Rolle von Hintergrundmusik, zu der man fröhlich seinen täglichen Job verrichten kann oder aber wahlweise die Hausarbeit. Solche Musik darf gar nicht sonderlich auffallen und ablenken. Was schließlich dazu führte, daß man viele kommerzielle Radiosender mittlerweile nur noch an den unterschiedlichen Jingles erkennt. Vielleicht auch ein Grund, warum diese Jingles mehrfach stündlich laufen, am Programm kann man diese Sender nämlich nicht mehr auseinanderhalten.
Was machen die öffentlich-rechtlichen Sender eigentlich? Sie betreiben nach wie vor standhaft einige Spartensender, doch die größeren Stationen haben sich im Ringen um Martkanteile dem allgemeinen Niveau der kommerziellen Sender angepaßt, was wiederum die Privatsender aufregt, weil sie ihre eigenen Marktanteile bedroht sehen.

Natürlich ist diese Entwicklung der Musikindustrie nicht verborgen geblieben. Und so hat sich seit den späten 80er Jahren eine bedrohliche Entwicklung in Gang gesetzt: es wurde nämlich zunehmend schwerer, überhaupt ins Radio zu kommen. Die Radiosender, einzig und allein darauf bedacht, die Hörer bloß nicht verschrecken zu wollen, konzentrierten sich allein auf solche Musik, die der werberelevanten Zielgruppe gefällt, bzw. von der man denkt, daß sie der breiten Masse gefällt.
Also ging die Musikindustrie dazu über, genau solche Musik vermehrt zu produzieren. Es wurden jetzt sehr viel intensiver als zuvor Teeniebands, Boy- und Girlgroups, attraktiv aussehende Musiker mit hübscher, allgemeinverträglicher und simpler Musik auf den Markt gebracht - keine Musik für Erwachsene mehr, sondern Musik für die angesagte Zielgruppe der Jugendlichen.
Die Musikindustrie, ebenfalls im Bestreben natürlich, stets so viel Geld wie nur möglich einzunehmen, muß natürlich dafür sorgen, daß die neuen Produkte auch bekannt werden. Da die ebenso dem Jugendwahn verfallenen Musiksender im TV den nahezu gleichen Gesetzen wie den Radiosendern folgen, schien der einzige Weg zu sein, eben genau das auf den Markt zu bringen, was jene Sender überhaupt noch spielen.
Eine fatale Entwicklung, wie sich zeigen sollte: denn die Musik wurde so zunehmend zur Gebrauchsware, zu Hintergrundrauschen, das für einen Sommer Hitstatus genießt und mehrmals pro Stunde zu Tode gespielt wird im Radio - und im nächsten Jahr schon wieder vergessen ist. Im Bemühen, einige attraktive Singlehits zu landen, konzentrierte man sich bei den Plattenfirmen zunehmend darauf, eben solche Hits auf Gedeih und Verderb zu produzieren und an die zuhörende Kundschaft zu bringen. Das Album als solches geriet dabei ins Hintertreffen und wurde übereilt eingespielt, um rasch auf den Markt geworfen werden zu können. Ein, zwei Hits sollten ausreichen, die Kundschaft zum Kauf des Albums zu überreden.

Und die Rechnung ging auf. Jahrelang lief alles bestens. Bis in den späten 90er Jahren MP3, CD-Brenner und Tauschbörsen im Internet dazu führten, daß die Leute das taten, was man - aus Konsumentensicht - verstehen kann. Anstatt sich ein teures Album für 16 Euro zu kaufen, lädt man sich einfach die ein, zwei Lieder herunter, die überhaupt etwas taugen und der langweilige Rest interessiert dann nicht.

Was zum A&R führt: A&R steht für Artist & Repertoire, also die Abteilung eines Plattenlabels, die für neue Künstler und deren Entdeckung und Förderung zuständig ist.
Wo sind diese neuen Künstler eigentlich? Es gibt natürlich eine Vielzahl neuer Bands. Nur daß die meisten niemals eine Chance haben, gehört zu werden. Dafür sorgt zum einen die Vernachlässigung dieser Bands seitens der großen Label, die solche Künstler zwar auch unter Vertag haben, sich aber bei der Promotion und Werbung allein auf Teeniebands konzentrieren. Und zum anderen garantieren die vereinheitlichten und gleichgeschalteten Radio- und TV-Programme der Musiksender, daß man interessante, neue Bands mit Potential fast nie zu hören bekommt. Deshalb wird der Mainstreammarkt immer umkämpfter. Von den sage und schreibe 8700 neuen Pop-CDs, die allein in Deutschland 2002 auf den Markt gebracht wurden, ist die Vielzahl nie im Radio gelaufen. Wo sind dabei eigentlich die Superstars der Musik geblieben? Jene weltweit anerkannten Künstler, deren Alben man praktisch ungehört kaufte, weil man sie einfach besitzen mußte?
Es ist der Musikindustrie seit den späten 80er Jahren nicht mehr gelungen, auch nur einen einzigen wirklichen Superstar hervorzubringen. Gruppen wie die Beatles, die Rolling Stones oder Pink Floyd gehören der Vergangenheit an, bzw. haben ihre Wurzeln in der Vergangenheit und beziehen daraus noch ihren Erfolg. Madonna und Michael Jackson sind beide noch in den frühen 80er Jahren groß geworden und garantieren auch nicht mehr unbedingt die großen Erfolge, während Robbie Williams heutzutage z.B. nur noch in Europa ein gefeierter Star ist - in den USA will niemand etwas von ihm wissen, so mußte Williams seine angekündigte US-Tournee wegen Mangels an Interesse absagen.

Da Plattenfirmen in erster Linie Wirtschaftsunternehmen sind und in erster Linie deshalb ans Geld und an ihre Aktionäre denken, ist dort auch die eigentliche Musik in den vergangenen Jahren mehr und mehr in den Hintergrund gerückt. Die ganze Musikbranche wurde globalisiert. Es ist kaum zu glauben, aber im Jahr 2004 gibt es nur noch vier große internationale Musikkonzerne, die fast 80% des weltweiten Umsatzes unter sich ausmachen. Sony und Bertelsmann haben ihre Musiksparten im Herbst 2003 zusammengelegt, AOL Time Warner (die sich neuerdings verschämt nur noch Time Warner nennen und AOL schlicht unter den Tisch kehren) hat seine Musiksparte Warner Music an einen Kanadier verkauft, dazu kommen noch Universal Music und mit der EMI die einzige Plattenfirma, die keinen Großkonzern hinter sich stehen hat.
Im Falle von Universal Music und Sony/BMG gleichen die Stammhäuser jedoch großen Gemischtwarenläden, die eine Vielzahl von Produkten vertreiben, Musik ist da nur eine von vielen Sparten.
Im Zuge dieser wachsenden Konzentration von Plattenfirmen und dem zunehmenden Aktionärsdenken wurde das A&R mehr und mehr vernachlässigt. Hat man früher einer Band noch mehrere Alben Zeit gegeben, sich zu finden und sich zu etablieren, so muß heute eigentlich schon das Debutalbum entsprechend Geld bringen. Oder aber man steht als Künstler beim Label auf der Kippe und wird abserviert. Schließlich muß man eventuelle Verluste den Aktionären gegenüber rechtfertigen. Und die sind manchmal nicht zu knapp, denn mitunter werden Wahnsinnssummen in Prestigeprojekte gesteckt, die sich nicht mal ansatzweise rentieren: die Universal Music Tochter MCA (einst selbst ein unabhängiges Label gewesen) etwa gab für das Debutalbum der 17-jährigen irischen Sängerin Carly Hennessy 2,2 Millionen Dollar aus. Letztlich wurden dann in drei Monaten 378 CDs verkauft und das Album "Ultimate High" geriet dann eher zum "Ultimate Low".
Die fatale Entwicklung der letzten knapp 15 Jahre wurde vollkommen verkannt. Jetzt, da die Musikindustrie aus ihren Träumen erwacht, ist es schon sehr spät, um schnell etwas zu ändern.

Die späten 60er Jahre und die 70er generell waren in gewisser Weise ein Paradies für Musiker. Bands produzierten sich selbst, komponierten mehr oder minder unbeschwert drauf los und riefen solche Genres wie Progressive Rock ins Leben. Eine Band wie Emerson, Lake and Palmer füllte in den 70er Jahren mit einem anspruchsvollen Mix aus klassischen Elementen und Rockmusik ganze Fußballstadien. Das war natürlich Musik für Erwachsene, weniger für Teenager.
Heutzutage wäre dies unmöglich. Die Musikindustrie wird von Leuten beherrscht, die in erster Linie wirtschaftlich denken und dem Teeniewahn verfallen sind - und von Musik als solches herzlich wenig Ahnung haben. Hinzu kommt die Eigenschaft, daß heutige Musikkonzerne gerne alles unter totaler Kontrolle haben. Die Kontrolle geht so weit, daß ganze Gruppen aus der Retorte geschaffen werden, am besten läßt man das jugendliche Volk gleich selbst abstimmen, wen es denn am liebsten hören will: und schon hat man das Superstars oder Popstars-Konzept, das "Stars" am laufenden Band produziert. Ob von diesen Stars in ein, zwei Jahren noch jemand etwas wissen will, ist herzlich egal. Das Hier und Jetzt zählt und somit allein der aktuelle Umsatz (wobei den Plattenfirmen selbst bei dem Superstarskonzept wenig davon bleibt). In ein oder zwei Jahren bastelt man sich halt einen neuen Star für einen Sommer.

Es geht natürlich auch anders. Genauso wie in den 70er Jahren z.B. bei weitem auch nicht alles musikalisches Gold war, das glänzte und es auch damals Retortenbands und ferngesteuerte Discomusik gab, die allein am Geld interessiert war, gibt es umgekehrt heute auch eine Vielzahl von Bands, die hart arbeiten und exzellente Alben produzieren.
Warum man davon nichts bzw. so selten erfährt? Entweder weil die Majorlabel, wie schon erwähnt, diese Bands nicht ausreichend promoten, oder aber, weil in den allermeisten Fällen diese Bands bei sogenannten Independents unter Vertrag sind. Kleinen, unabhängigen Plattenfirmen, die keine Multimillionendollaretats haben oder regelmäßig Aktionärsversammlungen durchführen müssen. Natürlich fehlt diesen Independents auch das Geld, für eine weltweite oder auch nur nationale Promotion. Und selbstverständlich werden die allermeisten dieser Bands niemals im Radio oder im TV zu hören sein, da es sich dabei in der Regel nicht um Mainstreammusik handelt. So sind sie dann fast gänzlich auf Mundpropaganda oder das Internet angewiesen, um ihre Musik bekannt zu machen.
Und doch geht die weltweite Absatzkrise der Musikindustrie seltsamerweise an diesen Independents vorbei. Im Gegenteil: den meisten unabhängigen Plattenfirmen geht es gut und sie erzielen Gewinne (nebenbei bemerkt: die Phonogiganten machen auch immer noch Gewinn. EMI hatte sogar ein Rekordjahr, das aber mit "Verschlankungen" begründet wurde). Ihr Vorteil: sie zahlen nicht zig Millionen Dollar für überteuerte Verträge oder zahlen ein paar Millionen Dollar weniger, um den Vertrag rasch wieder aufzulösen, wenn sich übersteigerte Gewinnphantasien nicht bewahrheiten. So wie es EMI bei Mariah Carey tat und ihr bescheidene 32 Millionen Dollar allein dafür zahlte, daß sie NICHT mehr für EMI singt. Daß der Musikfan angesichts solch horrender Summen die CD-Preise als zu hoch und ungerechtfertig empfindet, ist kaum zu vermeiden.

Die Produktionskosten bei den Independents halten sich natürlich auch im vernünftigen Rahmen. Deshalb kann dann eine Band, und damit auch das Label, auch bei für die Großkonzerne vernachlässigbaren Umsätzen gut leben.
Müssen bei den Majors die großen Künstler am besten hohe einstellige oder natürlich zweistellige Millionenstückzahlen umsetzen, reichen den Independents fünfstellige oder niedrige sechstellige Absatzzahlen.

Schaut man sich die Absatzentwicklung der Phonoindustrie weltweit an, fallen einem kuriose Dinge auf. In Rußland z.B., das man doch eher mit Raubkopierern und Schwarzpressungen in Verbindung bringen würde, ist 2003 der Umsatz angestiegen. Auch in Großbritannien ist der Absatz von CDs angestiegen, gleiches bei unseren österreichischen Nachbarn und in Finnland.
Nun ist Großbritannien auf jeden Fall nicht so viel anders als Deutschland. Warum also bei uns dieser große Absturz, während woanders durchaus wieder mehr Musik gekauft wird?

Zum einen waren die hohen Umsätze der 90er Jahre in Deutschland auch darauf zurückzuführen, daß nach der Wiedervereinigung mehrere Millionen Deutsche endlich all die Musik kaufen konnten, die sie vorher nur schwer bzw. gar nicht beschaffen konnten. Die 90er Jahre waren auch noch von der Umstellung von der LP auf die CD gekennzeichnet. In anderen Worten: der Markt für CDs war irgendwann auch gesättigt, weil man sich all die alten Lieblings-LPs mittlerweile nachgekauft bzw. im Fall der Ex-DDR Bürger endlich all das besorgt hatte, was man früher immer haben wollte. Der Gedanke, daß die stetig wachsenden Umsätze in Deutschland bis in alle Ewigkeit steigen würden, steht also auf wackligen Füßen.
Nimmt man jetzt noch die verfehlte A&R Politik der hiesigen Label hinzu, die es nicht geschafft haben, nationale Bands auf den Markt zu bringen, die nicht nur ein, zwei Singlehits sondern interessante Alben abliefern, ist der Umsatzrückgang noch viel weniger verwunderlich.

Welchen Grund gibt es auch, ein Album eines Künstlers zu kaufen, wenn die wenigen hörbaren Lieder ohnehin auf den Bravo Hits CDs landen, die man dann halt bequem brennt und tauscht bzw. herunterlädt. Oder warum überhaupt noch Bravo Hits CDs kopieren, wenn die aktuellen Hits sowieso mehrmals stündlich auf den Radiosendern laufen, so daß man praktisch zu jeder beliebigen Zeit alle Charthits zur Verfügung hat?

Und so ist die heutige Krise der Musikindustrie in großen Teilen hausgemacht. Die multinationalen Plattenkonzerne ersticken an ihrer eigenen Größe und Starre und der Fixierung auf die jugendliche Käuferschicht. Ihnen fehlt der Mut und die Weitsicht, interessante Künstler aufzubauen, die wirkliche langfristige Kaufanreize schaffen, da der Aktienkurs, und damit der sofortige Erfolg, wichtiger als alles andere ist.
Hinzu kommt eine Medienlandschaft, die es mittlerweile für den Durchschnittsbürger unmöglich gemacht hat, ein breiteres Spektrum an Musik kennenzulernen. Wer heutzutage aufwächst und von MTV, Viva und Kommerzradiosender zugelullt wird, hört nur das, was die Sender für massentauglich betrachten. Die Ähnlichkeit der Sender geht soweit, daß man mittlerweile beim Umschalten von MTV auf Viva oder umgekehrt immer öfter genau das selbe Video sieht, leicht zeitversetzt, aber es ist schon erstaunlich, wie zwei Konkurrenzsender praktisch auf die Minute genau das selbe Video zeigen.
Musik, eigentlich ein Kulturgut, ist im globalen Markt mehr und mehr zur Regalware verkommen, zum Gebrauchsartikel für zwischendurch, um sich berieseln zu lassen oder mitzusummen. Musik als Erlebnis oder Musik als Aussage findet in den heutigen Medien praktisch gar nicht mehr statt. Und doch gibt es sehr viel mehr gute Bands und interessante Musik als stromlinienförmige Retortenkünstler.
Doch was man niemals zu hören bekommt, wird man auch niemals kennen. Man muß sich in der heutigen Zeit schon selbstständig auf die Suche begeben, um abseits der breitgetretenen musikalischen Hauptstraße die interessanten Blüten zu finden.
Immerhin hat auch die Musikindustrie erkannt, daß das A&R gleichzeitig auch das A&O ist - ohne interessante Künstler und Alben, die endlich wieder den Namen verdienen und nicht lediglich den obligatorischen Radiohit mit Dutzendware zumüllen, kann man kaum auf Absatzsteigerungen hoffen. Wer gibt schon 16 Euro für eine CD aus, bei der man nur zwei Songs hören mag?
Onlineshops sind da auch nicht unbedingt der Ausweg. Die durchweg 99 US-Cent, die in den USA verlangt werden, lassen den Plattenfirmen nichts übrig, da der Großteil an die Rechteinhaber und Tauschbörsenbetreiber geht. Wird die Onlinemusik aber teurer schrumpft die Bereitschaft, dafür Geld zu zahlen, enorm.
Das Problem ist, daß in den multinationalen Konzernriesen Musik einzig als Geschäft gedacht ist. Die Entwicklung muß hin zu kleineren, spezialisierteren Plattenfirmen gehen, die ihren Künstlern auch wieder Zeit für eine anständige Entwicklung geben und nicht bereits vom Debutalbum den großen Hit erwarten.

Ansonsten geraten wir immer mehr in eine Gesellschaft des Mittelmaßes. Wo der Durchschnitt das Maß aller Dinge ist. Wo man im Media Markt, Makro Markt oder Saturn zunehmend nur noch das findet, was im Radio gespielt wird, weil die vier großen Musikmultis 80% des Musikgeschäftes für sich beanspruchen. Der Anreiz für Großdiscounter, auch kleineren Plattenfirmen Verkaufsfläche zu geben, erscheint da auf den ersten Blick nicht so groß.
Auch dies ist eine fatale Entwicklung. Denn Independents haben zwar nicht die Millionen von Menschen, die ein Album haben wollen, dafür aber meist sehr treue Käufer, die immer wieder mal eine neue CD kaufen und für stetigen Umsatz sorgen.

Und dies ist dann schließlich der größte Fehler der Musikindustrie gewesen: sie hat sich Anfang der 90er Jahre darauf versteift, den Musikkonsumenten zu bedienen, der eigentlich keine CDs kauft. Man dachte, daß man mit Mainstream die sogenannten Schläfer aufwecken und zu eifrigen CD-Konsumenten umfunktionieren könnte. Die Rechnung ging - wie wir jetzt sehen - nicht auf. Während die wahren, in der Regel erwachsenen, Musikliebhaber, die 9 und mehr CDs pro Jahr kaufen, zunehmend vergrault wurden, weil die großen Label einfach nichts mehr herausbrachten, was diese Käufer anspricht, ließen sich die Retortenprodukte nicht beliebig oft verkaufen. Das fatale daran: zwar sind nur etwas mehr als 5% aller Musikkäufer (meist erwachsene) Vielhörer, die mehr als 9 CDs pro Jahr kaufen - dafür machen sie aber fast 50% des Umsatzes aus. Die Gruppe der 25-39-jährigen kommt sogar insgesamt auf 53% Anteil am Umsatz. Die angepeilte und hofierte Teeniezielgruppe ist dabei gerade mal für 14% gut. Irrwitzigerweise werden genau jene Teenies jetzt von den Plattenfirmen kriminalisiert.
Der Kunde aber hat zurückgeschlagen und betreibt aus seiner Sicht eine konsequente Politik: von den Plastikbands nur das herunterladen, was man für ein paar Wochen hören will, ehe es vergessen ist.
Während Musikliebhaber ihre Musik zunehmend im Internet bei spezialisierten Mailorder-Shops kaufen, weil die Konzentration der Musikindustrie natürlich auch nicht vor den Plattenläden halt gemacht hat: der kleine Laden um die Ecke, der ein speziell sortiertes Angebot hatte, ist so gut wie tot - und Media Markt, Saturn und Co. schielen ebenfalls auf die große Masse. So daß man nur noch einen Bruchteil der vorhandenen Musik wirklich vor Ort im Laden kaufen kann. Was auch für die Plattenfirmen Nachteile bringt: denn die zunehmende Konzentration auf große Discounter bedeutet eine zunehmende Macht für eben diese: so verlangen sie Rabatte von den Plattenfirmen, wenn das Produkt z.B. etwas prominenter plaziert werden oder eine Abhörstation mit Kopfhörer bekommen soll.

Wenn die Musikindustrie also ihre Umsatzeinbrüche beklagt und den normalen Musikhörer am liebsten kriminalisieren und jegliches Kopieren mit Höchststrafen versehen will, lenkt sie damit nur von eigenen Versäumnissen und Fehlern ab. Nicht zuletzt ist auch das gerade angesagte Superstars-Modell nicht gerade ein einträgliches Geschäft, weil die aufwendige Promotion, sowie eine Vielzahl von Lizenznehmern, die Gewinne für die Plattenfirmen bedrohlich schmälern.
Aber selbst wenn tatsächlich aufgrund massiver Umsatzverluste die großen Plattenkonzerne irgendwann Bankrott gehen und niemand mehr idiotisches "Wagga Wagga" Radio (so heißt in Hamburg eine Radioshow…) hören will und die Kommerzsender ebenfalls verschwinden sollten - selbst dann wird es immer noch Musik geben.
Vielleicht sogar welche, die auch die große Masse der Bevölkerung wieder kaufen will. Es gibt so vieles auch heute immer noch zu entdecken, das - obwohl nicht auf Massentauglichkeit getrimmt - großes Potential aufweist und ein sehr viel größeres Publikum anziehen könnte.
Den Anfang sollten und könnten die - eigentlich wirtschaftlich durch die Rundfunkgebühr recht abgesicherten - öffentlich-rechtlichen Radiosender tun, indem sie sich dem Einheitsbrei der Privatsender entsagen und endlich wieder anfangen, ein breit gefächertes Angebot an Musik zu spielen, das dann vielleicht nicht zu jedem Zeitpunkt allen gefällt, dafür aber vielen unterschiedlichen Menschen. Hätte dies seinen Erfolg würden die verdummten Privatsender zwangsläufig mitziehen.
Es gibt also vielleicht doch noch Hoffnung, daß es weg vom allgemeinen Durchschnitt hin zur bunten Vielfalt wieder geht.
Denn Musik ist viel zu schade, um sie nur im Hintergrund laufen zu lassen.


Anhang - einige Informationen:

Die durchschnittlich 16 Euro für eine Musik-CD verteilen sich in etwa wie folgt:

1 Euro

Herstellungskosten

2 - 3,24 Euro

bekommen alle Rechteinhaber

2,56 Euro

Mehrwertsteuer

2,68 Euro

Händlerspanne

6,52 - 7,74 Euro

bekommt die Plattenfirma, die damit die Aufnahme, Promotion und Marketing, ihre Verwaltungskosten und den Vertrieb abdecken muß. Der Rest ist dann für den Gewinn zuständig.



Umsatzanteile der verschiedenen Musiksparten (Stand: 2002):

Jazz

1,8%

Volksmusik

1,8%

Dance

6,2%

Kindermusik

6,3%

Klassik

7,2%

Schlager

7,2%

Sonstige

10%

Rock

15,9%

Pop

43,6%

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