Da saß ich. Hatte die erste Fassung meines China-Krimis Der Tote in der Ming-Vase zu Ende geschrieben, hatte Thomas Fisch, meinen Held, durch die menschlichen Niederungen geführt und ihn an der glitzernden Oberfläche, in einem Hongkonger Hotel wieder abgesetzt. Dort, in einer der oberen Etagen, schrieb er das Geschehene auf, um sich über die vergangenen Wochen seines Lebens klarzuwerden. Im Buch entstand so das Buch. Und ich dachte: Fisch wird einen Verlag finden, die Aussöhnung mit dem Fall wird für ihn also darin bestehen, zuletzt den Roman geschrieben zu haben. Das denkt zumindest der Leser, das muß er denken, denn er hat das fertige Buch ja vor sich liegen.
Moral: Die wirkliche Welt mag schlecht sein, doch die literarische ist gut, sie söhnt aus, und wenigstens in der Kunst geht's nicht brutal zu.
Zu einfach? Naiv? Wahrscheinlich. In den folgenden Tagen schrieb ich deshalb ein Nachwort, das dieser "Lösung" einen Riegel vorschob. Legte es weg, holte es nach ein paar Wochen wieder hervor und dachte beim Durchsehen: Das geht erst recht nicht. Zu böse, zu zynisch. Ein Funken Hoffnung muß bleiben. Also -streichen.
Und da sitze ich jetzt. Lese in der September-Ausgabe von Storyline über das Ende der Storyolympiade. Denke:
Mein Nachwort. Zu böse, zu zynisch? Oder einfach möglich? Jede(r) kann selbst urteilen. Hier ist es.


NACHWORT DES HERAUSGEBERS

Vorliegende ‚Erzählung' (eine bessere Bezeichnung fällt mir nicht ein) habe ich in nahezu druckreifer Fassung gefunden, als ich zusammen mit meiner Lebensgefährtin ein Wochenende in einem Fünf Sterne-Hotel in Hongkong verbrachte. Die ‚Erzählung', das heißt eine dicke, rote China-Kladde mit dem Text, lag bei unserer Ankunft auf dem Tisch des ansonsten perfekt aufgeräumten und gesäuberten Hotelzimmers.

Man wird vielleicht fragen, wie ein unbekannter deutscher Schriftsteller es sich leisten kann, zusammen mit seiner Lebensgefährtin ein Wochenende in einem Fünf Sterne-Hotel in Hongkong zu verbringen. Nun, der Grund ist denkbar einfach: Ich habe reich geerbt, bin einfalls- und aufgabenlos wie so viele; und deshalb bin ich Schriftsteller geworden.

Literatus literati lupus est. Ich wäre nicht mehr und nicht weniger als dumm gewesen, wenn ich die "vorliegende" Gelegenheit nicht genutzt hätte, um mir endlich einen genialen Einfall zu verschaffen. Sprich: Ich habe mir das Skript gekrallt, mit nach Hause genommen sowie keine Sekunde des schönen Wochenendes drauf verschwendet, seinen Verfasser ausfindig zu machen. Denn hier irrt Thomas Fisch, beziehungsweise Professor Häckel: Auch in der Kunst geht's brutal zu, es wird gelogen und gerafft wie überall, eine Moral existiert nicht - ich könnte Geschichten erzählen!

Aber, jeder weiß es, Klauen macht mehr Spaß, und so "erzähle" ich statt dessen diese ‚Erzählung'. Man wird vielleicht außerdem fragen, was sie mit China und den Chinesen zu tun hat. Das Land kommt nicht drin vor, bloß seine Hauptstadt; seine Einwohner tun es bloß am Rande.

Ich sage: Diese ‚Erzählung' hat trotzdem sehr viel mit China zu tun. Denn in Deutschland sind es hauptsächlich Deutsche, in Europa Europäer, im Abendland Abendländer, die über China berichten. Doch niemand zu Haus' fragt, wer diese Leute sind und wie sie (für sich genommen) so denken. Dabei könnte man erst im Anschluß herausfinden, wie die Chinesen denken. Nämlich, wenn man die Auffassungsweise solcher Berichterstatter klar hat, und sie dann mit derjenigen der Chinesen, die in den Berichten geschildert sind, multipliziert.
Das ist ein komplizierter Vorgang.

Die Gleichung, aus der er abzuleiten ist, ist jedoch denkbar einfach:
Tatsächliche Denkweise der Chinesen durch Denkweise der Berichterstatter ergibt geschilderte Denkweise der Chinesen.
Kennt man den Divisor nicht, dann kann man aus dem Quotienten niemals den Dividenden ermitteln.
Und so ist es jetzt.

Man könnte uns Deutsche auf die Venus schicken. Die Mehrheit von uns würde sich, dort angekommen, augenblicklich mit unseren französischen Nachbarn zusammenhocken und überlegen, wie man möglichst schnell eine Deutsch-Französische Schule gründet. ‚Der Kinder' wegen, damit sie ‚was Anständiges' lernen. Als nächstes würde man beratschlagen, wie man Deutsches Schwarzbrot und Deutsche Markenbutter auf die Venus bekommt, weil das Venus-Essen ‚auf Dauer nix is''. Mit einem Wort: Es ist, auch in der fremdesten Fremde, das grund-egoistische Kreisen um sich selbst. Die nicht vorhandene Fähigkeit, sich für anderes zu öffnen.

Sieht man ja an mir. Ich klau' einem Wildfremden seine mühsam geschriebene Geschichte, bin gar stolz drauf, blubber mein "Vergehen" in die Öffentlichkeit raus (dann wird mir vergeben, das ist die Masche) und mach zu guter Letzt, hoffentlich, 'n Haufen Kohle damit. Doch im Herzen bleibe ich immer derselbe. Egozentriert, unerfüllt, aufgabenlos. Nur mein Geld wird, hoffentlich, mehr.

Nun, was hat das mit den Venussianern und Venussianerinnen zu tun? Ich sage: sehr viel. Denn unter solchen Voraussetzungen lernen wir zu Haus' sie kennen.
Wenn ich deshalb die Moral des Toten in der Ming-Vase (er hat eine!) zusammenfassen sollte, dann würde ich das in dem folgenden Vorschlag tun:
Deutschland hat zur Zeit über vier Millionen Arbeitslose. Warum schicken wir sie nicht nach China? Dort gibt es - noch - Arbeit genug. Die chinesische Regierung würde die Transportkosten übernehmen, die deutsche weiterhin Arbeitslosenunterstützung zahlen, und allen wäre geholfen.

Denn was ist, mit Blick auf unsere Arbeitslosen, unwürdig an einem Matratzenlager, an dreimal täglich Gemüse und Reis, an einer Sieben-Tage-Woche, wenn es einem guten Zweck dient? Was ist denn weniger attraktiv: das ‚Abenteuer China' mit seinen neuen persönlichen (sicher auch schmerzlichen) Erfahrungen, oder ein sinnloses Dahinfristen in der ach so vertrauten Umgebung?

Der Lebensstandard in China würde rasch steigen, in der Folge der Bildungsstandard, und die vollständige Etablierung der Menschenrechte wäre ein leichtes. Denn, ganz einfach: eine wohlhabende und wissende Bevölkerung würde sich von einer sozialistischen Regierung lang nicht so viel bieten lassen wie die jetzige.
Außerdem stände Deutschland hervorragend da als ein erstes Beispiel für globale Mitmenschlichkeit.
Nun, jeder bei uns zu Haus' weiß, warum dieser Vorschlag nicht durchführbar ist. Jedes deutsche Kind kann hierfür hundert gute Gründe nennen.

In China ist es genauso. Auch hier weiß jeder, warum Vorschläge, die aus Deutschland, Europa, dem Abendland kommen, nicht durchführbar sind. Jedes chinesische Kind kann hierfür hundert gute Gründe nennen.
Bleibt die Frage, wer trotz dieses Wissens den ersten Schritt unternehmen wird. Bleibt die Frage, wie wir je global denken lernen, weil ihn niemand tun wird.

Berlin, im Herbst 2000

(Aus verständlichen Gründen möchte der Herausgeber nicht namentlich genannt werden.)

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