"Sualks Träume"

von Gertrud Beitlich-Dörfler

Frankfurt: Edition Fischer, 2001

Gertrud Beitlich-Dörfler - Sualks TräumeEs wird wohl nie geklärt werden, wie die Geschichte von Sualk zur Schrift werden konnte, denn wer anders als der Held selbst könnte so beredt Zeugnis ablegen von einem Leben, bei dem Wirklichkeit und Traum zu einem untrennbaren Netz verwoben sind und aller Mangel mit allem Reichtum ineins fällt? Von Sualks eigener Hand existieren bloß Aufzeichnungen aus einer psychiatrischen Anstalt, in der er kurzzeitig unter Beobachtung stand, und erst zum Ende des Romans versucht er sich noch ein einziges Mal schriftstellerisch an einer Novelle, die jedoch unvollendet bleibt und keinen Leser findet.

Die Frage geht damit weiter an Gertrud Beitlich-Dörfler, welche in ihrem nunmehr zweiten Roman in einer Vielzahl frappierender Wendungen erzählt, wie es sein muß, in einer zwar zeit-, doch alles andere als geschichtslosen Welt zu leben, vorgestern oder übermorgen, und auf jeden Fall unter Menschen. Das Unrecht gegen den Großvater, der zu etwas Besonderem ausersehen war, seine Begabung im kleinen Hustawetz aber nie ausleben konnte, mag sich in Sualks Konstitution niedergeschlagen haben. Sualk ist in der Lage, Gläser in der Luft schweben lassen, allerdings nicht dank seines Willens, sondern lediglich einer "unberechenbaren Zufälligkeit" wegen, die in ähnlicher Weise auch über Zeitpunkt und Gestalt seiner Träume befindet. Nur von wenigen seiner Mitmenschen wird das Erlebte geglaubt, wobei der "kleine schwarze Doktor", Leiter der Anstalt, bereits vor der eingehenden Untersuchung bescheinigt, Sualks suggestive Vermischung von Realität und Traum sei ein Phänomen, das "man sonst nur noch bei Angehörigen primitiver Naturvölker vorfindet, gelegentlich auch, doch in einer abgeschwächten Form, bei lebhaft träumenden Kindern." In der Anstalt wird Sualk von Adrian aufgespürt, einem entfernten Verwandten und erfolgreichem Schriftsteller. Den hat die Frage, woher seine dichterische Schaffenskraft stammen mag, in die Ahnenforschung getrieben. Fortan lebt Sualk in Adrians Familie. Da ihm das Arbeiten nicht liegt, füllt er die Tage mit Verrichtungen im Garten oder der Pflege von Adrians Zeitungs- und Journalarchiv. Und wer wollte nicht auf ewig so diesseits von Eden sein? Als es mit dem Schriftsteller auf Vortragsreise geht, droht jedoch der Fall. Im Hotel einer Kleinstadt entdeckt Sualk "Claudia" (nur er nennt sie so), verliebt sich in sie, folgt ihr wunsch- und sprachlos durch die Stadt, um sie im Gewimmel eines Kaufhauses zu verlieren, während sie dort ein Tagebuch ersteht. Untröstlich über den Verlust, bestellt Sualk, zurück im Hotelrestaurant, "Blumensalat", bekommt aber abseits aller Realität eben das Tagebuch serviert, "mit messingfarbenem Verschluß, daneben lag eine Gabel." - "Nehmen Sie doch die Finger", rät ihm der Kellner, und als Sualk tut wie geheißen, ragt aus den Blättern plötzlich "das Geweih eines Hirsches heraus." Zu lesen gibt es in dem Buch leider nichts.

Es sind solcher Art blendend erfaßte Traumgesetze, denen der Roman seine Stärke verdankt. Bei Sualks nächster Rückkehr ist das Hotel umgebaut zu einer Partnervermittlungsstelle, wobei der Speisesaal, "weil er für das verkleinerte Haus zu groß gewesen war, einfach in den Garten hinausgeschoben (wurde), und da lag er nun zwischen Büschen in der Sonne und sah aus wie ein Pavillon." Küche und Getränkelager fehlen dito; deshalb kann man im Garten zwar noch bestellen und bezahlen, bekommt aber nichts mehr dafür. Schrittweise verweigert sich für Sualk die Erfüllung auch in der ureigenen Welt. In der Wirklichkeit muß er heiraten, kommt aber in Gedanken von "Claudia", die wegen einer Aufschrift auf dem Tagebuch inzwischen "Clivia" heißt, nicht los. Am Ende stehen - unausweichlich - der Tod und ein letztes Geheimnis zum Schöpfer der phantastischen Erlebnisse. Sämtlichen Tendenzen des Mainstreams hat der Roman bis dahin aufgekündigt. Souverän und in urwüchsigen Bildern, allein seiner bitteren Traum-Mechanik folgend, ist statt dessen das Schicksal eines kaum vernetzten Bewußtseins entrollt, von seiner taghellen Jugend bis zum endgültigen Schlag der Vernichtung. Wie immer sie zur Schrift geworden sind - Sualks Träume werden bleiben und geduldig warten auf Spürhunde der Literatur, vor allem aber auf Leser, bei denen Gutes gut aufgehoben ist.

[geschrieben von Jakob Anderhandt]

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